Vorabdruck. Anfang November 1989 traf Egon Krenz in Moskau mit dem sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow zusammen
Von Egon Krenz
Heute erscheint das neue Buch von Egon Krenz »Wir und die Russen. Die Beziehungen zwischen Berlin und Moskau im Herbst ’89« in der Berliner Edition Ost. Wir dokumentieren im folgenden gekürzt das Kapitel »Ein Treffen, das von Gorbatschow schnell vergessen wurde«. Die Redaktion dankt Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zum Vorabdruck. (jW)
Am 1. November 1989 empfing mich Gorbatschow in Moskau. Fünf Jahre später, Ende 1994, entdeckte ich in einer Berliner Buchhandlung Gorbatschows erstes nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik in deutscher Sprache veröffentlichtes Buch.¹ Ich blätterte neugierig darin. Unser Gespräch vom 1. November 1989 fehlte. Warum? Das war für mich so schwer nicht zu erklären. Inzwischen hatte er neue Freunde. Es waren jene, die er mir gegenüber noch 1989 als »Nationalisten« verdammt hatte und vor denen ich mich in Acht nehmen sollte. Um so wichtiger, dass ich den Inhalt des dort ausgesparten Gespräches hier wiedergebe. (…)
Ich telefonierte zunächst mit Freunden in Moskau, um aus erster Hand etwas über die Stimmung im Land zu erfahren. Im eigenen Lande gilt der Prophet bekanntlich wenig. Das schien auch für Gorbatschow zu gelten. Er genoss Achtung in der ganzen westlichen Welt, nicht aber hier. Viele waren der Meinung, dass der Lebensstandard unter Breshnew besser gewesen sei, die Versorgungsmängel wurden Gorbatschow angelastet. Eine meiner Dozentinnen aus Moskauer Studienzeiten meinte ironisch: »Es wird zuviel geredet und zuwenig gearbeitet.« Dieses Pauschalurteil schien mir ungerecht. Früher wurden die Mängel oft nur unter den Teppich gekehrt. Gorbatschows Politik machte sie öffentlich.
Der Bruderkuss
Gorbatschow empfing mich am 1. November 1989 nicht im Kreml, sondern in seinem Arbeitszimmer im Hause des Zentralkomitees. Er wollte damit unterstreichen, dass wir als Generalsekretäre der führenden Parteien unserer Länder zusammentrafen. Die Führung durch die Arbeiterklasse und ihre marxistisch-leninistische Partei war sowohl in der DDR als auch in der Sowjetunion noch Verfassungsgrundsatz. Gorbatschow wollte damals nicht daran rütteln lassen, obwohl oder vielleicht gerade, weil er wusste, wie kontrovers dieses Thema in der DDR bereits diskutiert wurde.
Demonstrativ kam Gorbatschow vor laufenden Kameras auf mich zu, umarmte und begrüßte mich mit Bruderkuss. Einige aus meiner Begleitung meinten noch am selben Tag, dies sei der Judaskuss gewesen! Waren sie gehässig oder weitsichtig? Wussten sie einfach mehr? Ich kann es auch heute nicht mit Gewissheit sagen. Damals jedenfalls glaubte ich, keinen Grund zu haben, Michail Gorbatschow zu misstrauen. (…)
Als wir uns, noch in Anwesenheit vieler Journalisten, an den langen Verhandlungstisch seines Arbeitszimmers setzten, erwähnte ich beiläufig, dass ich am frühen Morgen in der Prawda die Losungen der KPdSU zum 72. Jahrestag der Oktoberrevolution gelesen habe. Ich sagte ihm, mich freue, dass darin auch die Gemeinschaft der sozialistischen Staaten positiv vorkäme.
Gorbatschow nahm das sofort als Stichwort auf. Man dürfe dem politischen Gegner nicht gestatten, einen Keil zwischen die sozialistischen Länder zu treiben. Bündnistreue sei angesagt. Er nannte die Behauptungen im Westen, man könne die Sowjetunion von ihren Verbündeten trennen, »ausgesprochenen Unsinn«. Es müsse alles für die Einheit der sozialistischen Staatengemeinschaft getan werden.
Angesichts der Situation in Polen und Ungarn schien mir diese Feststellung reichlich vereinfacht. Gorbatschow meinte jedoch, dass sich seriöse Politiker in der ganzen Welt darüber klar seien, dass eine Destabilisierung in Osteuropa unübersehbare Folgen für ganz Europa hätte. »Wir müssen den Politikern des Westens widersprechen, wenn sie behaupten, dass 1789 eine Linie ihren Anfang nimmt, die zu den heutigen prosperierenden und demokratischen Staaten Westeuropas geführt hat, während im Oktober 1917 eine Entwicklung einsetzte, die der Menschheit nur Ungemach gebracht habe.«
Wenn Gorbatschow philosophierte, war er in seinem Element. »Natürlich werden wir die ideologischen Gegner widerlegen. Der Sozialismus hat der Welt schon viel gegeben. Doch seine Hauptleistungen stehen erst bevor. Die Vorzüge der neuen Ordnung können jedoch nicht mit noch so einleuchtenden Argumenten, sondern müssen mit realen Taten nachgewiesen werden.«
Leidenschaftlich argumentierte er gegen jene, die den Weg seit dem Roten Oktober als geschichtlichen Irrtum bezeichneten. Einen Weg zurück zum Kapitalismus würden die sowjetischen Kommunisten nicht zulassen (…).
Obwohl ich wusste, dass der sowjetische Botschafter in Berlin mehrmals täglich Berichte über die Lage in der DDR nach Moskau schickte, die auch auf Gorbatschows Tisch landeten, wollte der an jenem 1. November 1989 von mir im Detail wissen, wie sich die Dinge in der DDR entwickelten.
Ich schilderte ihm die Auseinandersetzungen, die der Absetzung Honeckers vorausgegangen waren, sprach über die Situation im Politbüro, unsere wirtschaftliche Lage, die Beziehungen zur Bundesrepublik, informierte über beabsichtigte Veränderungen in der DDR-Führung und dass ich Weisung erteilt hätte, jeden Schusswaffengebrauch an der Staatsgrenze zu unterlassen, ausgenommen, wenn Leben und Gesundheit der Grenzsoldaten bedroht würden.
Dann sprachen wir über die in Berlin für den 4. November geplante Demonstration. Das Politbüro habe entschieden, sagte ich, die Parteimitglieder Berlins aufzurufen, sich an der Kundgebung zu beteiligen. Unter den 17 Rednern würden auch Günter Schabowski und zwei weitere zuverlässige Genossen sein. Auf diese Weise bliebe die politische Opposition nicht unter sich. Die SED-Führung sei entschlossen, politische Probleme mit politischen Mitteln zu lösen. Demonstrationen seien legal, gegen Demonstranten werde keine Polizei eingesetzt. Eine Kriminalisierung politischer Demonstranten werde es in der DDR nicht mehr geben.
Gorbatschow nahm dies mit sichtlicher Zustimmung auf. »Antisozialistische und kriminelle Elemente sind die eine Seite. Aber insgesamt kann man das Volk nicht als Feind betrachten. Wenn es sich gegen die Politik auflehnt, muss man überlegen, was an der Politik zu ändern ist, damit sie den Interessen des Volkes und dem Sozialismus entspricht.«
Ich spürte aber, dass Gorbatschow fürchtete, die Demonstrationen und Kundgebungen in der DDR könnten eine eigene Dynamik entwickeln. Falsche Losungen und antisozialistische Kräfte könnten an Einfluss gewinnen. »Das wäre ein großes Unglück. Es könnte dadurch eine ausweglose Lage entstehen.« Auch diese Sorge teilten wir, denn die DDR lag nach wie vor an der Frontlinie zwischen Warschauer Vertrag und NATO. Jede Instabilität würde unabsehbare Folgen für den Frieden haben.
Differenzen mit Honecker
Er hege keinen Groll gegen Honecker, sagte Gorbatschow. Es sei nur schade, dass er die notwendigen Veränderungen vor drei, vier Jahren nicht selbst eingeleitet habe. Dies hätte zum Höhepunkt seines politischen Lebens werden können. Schließlich habe die DDR unter Honeckers Führung sehr viel erreicht. In den letzten Jahren wären allerdings gewisse negative Veränderungen nicht mehr zu übersehen gewesen. Erich Honecker habe sich offensichtlich für die Nummer eins im Sozialismus, wenn nicht sogar in der Welt gehalten. Sein Realitätsverlust sei groß gewesen.
Ich sagte, dass mich diese Entwicklung aufgrund meiner persönlichen Beziehungen zu ihm sehr betroffen gemacht habe. Gorbatschow schaute mich prüfend an. »Darauf baut der Westen gewisse Spekulationen auf. Du solltest keine Furcht davor haben. Schließlich sind wir alle Kinder unserer Vorgänger.«
Wollte er mir damit zu verstehen geben, dass man zu seiner Vergangenheit stehen sollte oder es besser ließe, es zu thematisieren, weil es etwas Normales sei? Es war mir nicht klar, was er damit sagen wollte.
Gorbatschow erinnerte sich, wie seine Differenzen mit Honecker begannen. »Für uns war immer klar, dass die DDR ohne die ökonomische Hilfe der UdSSR nicht lebensfähig ist«, meinte er. »Gleichzeitig haben wir uns immer gefragt, warum die Sowjetunion in so aufdringlicher Weise von Erich Honecker mit den Erfolgen der DDR traktiert wurde. Dies war besonders schwer zu ertragen, weil wir die wirkliche Lage kannten. Einmal habe ich versucht, mit Erich über die Verschuldung eures Landes zu sprechen. Er hat dies schroff zurückgewiesen, da es seiner Auffassung nach keine Verschuldung der DDR gäbe.« Gorbatschow suchte nach treffenden Worten. »Genosse Honecker hat sich offensichtlich als Retter des Vaterlandes gefühlt. Die ganze Entwicklung ist ein großes persönliches Drama für ihn. Da er jedoch eine hohe Funktion innehatte, wurde daraus ein großes politisches Drama.«
Er selbst habe sich dennoch bis zum Schluss um ein gutes menschliches Verhältnis zu Honecker bemüht. Dies sei nicht leicht gewesen, weil er dessen Aussprüche und seine wirkliche Meinung kannte. Wenn ein Führer versuche, seine Position um jeden Preis zu halten und nur noch Zustimmung von seiner Umgebung erwarte, entstünden zwangsläufig Probleme. Er habe jedoch Honeckers Widersprüchlichkeit toleriert, weil es wichtigere Dinge gab. Die Sowjetunion habe gegenüber der DDR immer größte Zurückhaltung geübt, weil man keine Missstimmung in den Beziehungen habe aufkommen lassen wollen. Man habe Geduld bewiesen, weil die SED und die ganze Gesellschaft auf revolutionäre Veränderungen erst vorbereitet werden mussten.
»Erich war blind, hat sich nur auf Günter Mittag gestützt, dich und Willi Stoph ausgeschaltet und entsprechend isoliert regiert. Das musste schiefgehen. Insbesondere Willi Stoph tut mir leid, weil er von Honecker in den letzten Jahren erniedrigt worden ist«, konstatierte Gorbatschow.
Ich konnte diesen Standpunkt gut verstehen. Ministerpräsident Willi Stoph hatte Erich Honecker immer wieder auf die kritische ökonomische Situation hingewiesen. Als langjähriges Politbüromitglied kannte er ihn offensichtlich am besten. Schon 1971 hatte er Honeckers Wahl zum Parteichef nur unter der Bedingung zugestimmt, dass dieser die Kollektivität des Zentralkomitees achten und sich um ökonomische Sachkenntnis bemühen würde. Als Honecker seine Machtposition jedoch gefestigt hatte, wurde Stoph Schritt für Schritt kaltgestellt. Gleichzeitig trat Mittag immer stärker in den Vordergrund.
In der Sowjetunion wurde diese Entwicklung mit Unbehagen verfolgt, weil Stoph als sehr enger Freund Moskaus galt. Gorbatschow bestätigte dies. »Ich schätze Willi sehr. Er war in den vergangenen Jahren in einer schwierigen Situation. Dennoch bewahrte er seine Würde, als er von Mittag förmlich an die Wand gespielt wurde. In entscheidenden Situationen hat er eine prinzipielle Position bezogen.« Als wolle er mich mahnen, nicht die alten Fehler zu wiederholen, sagte er: »Egon, wirf nicht alle alten Genossen in einen Topf! Vielleicht sollte Willi auch im neuen Politbüro verbleiben. Wir haben gesehen, wie Erich Honecker das Politbüro immer mehr erweiterte, um in diesem großen Gremium einen Genossen gegen den anderen ausspielen zu können.«
Ich sei bemüht, würdige Lösungen für das Ausscheiden langjähriger Führungsmitglieder zu finden, und erzählte Gorbatschow, dass Erich Mielke unmittelbar nach meiner Wahl zum Generalsekretär zu mir gekommen sei und um seine Entlastung von allen Partei- und Staatsämtern gebeten habe. Er sagte, dass er sich schon viele Jahre mit dem Gedanken trage, den Weg für Jüngere freizumachen, aber geblieben sei, um seinen persönlichen Einfluss geltend zu machen, damit die Beziehungen zur Bundesrepublik nicht zu eng und die zur Sowjetunion nicht zu locker werden würden.
Gorbatschow zeigte sich informiert und berief sich auf sein gutes Verhältnis zu Mielke. Dieser war bei seinem 80. Geburtstag 1987 zum fünften Mal mit dem Leninorden – der höchsten Auszeichnung der Sowjetunion – geehrt worden. Und Gorbatschow hatte Mielke im Sommer 1988 zu einer geheimen Visite im Kreml empfangen, ohne dass zuvor Honecker darüber informiert worden war. Im SED-Politbüro hatte es über dieses Treffen entgegen allen Gepflogenheiten auch keinen Bericht gegeben.
Gorbatschow kommentierte meine Bemerkung über Mielkes Angebot nach meiner Wahl: »Genosse Mielke wollte mit seinem Rücktrittsgesuch als alter Kommunist anderen ein Signal geben. Er hat dir so die Möglichkeit gegeben, Kaderfragen von den inhaltlichen Fragen der Erneuerung zu trennen.«
Ökonomische Sorgen
Gorbatschow nannte Polen und Ungarn, meinte aber auch die DDR, als er sagte: »Die Sowjetunion kann ökonomisch wenig tun. Es ist absurd anzunehmen, die Sowjetunion könne 40 Millionen Polen aushalten. Die Ursachen liegen bereits bei Gierek, der Kredite in Höhe von 48 Milliarden Dollar aufnahm. Nunmehr haben die polnischen Genossen bereits 52 Milliarden zurückgezahlt und immer noch 49 Milliarden Schulden. Im Januar 1987 erhielt Genosse Kádár ein Ultimatum vom Internationalen Währungsfonds, in dem zahlreiche Forderungen gestellt wurden, bei deren Nichterfüllung mit der Einstellung der Kredite gedroht wurde.«
Gorbatschows Aussage deutete ich so, dass ich erstens mit ökonomischer Hilfe aus der Sowjetunion nicht würde rechnen können, und zweitens die Finger vom IWF lassen sollte. Polens und Ungarns innenpolitische Schwierigkeiten wurzelten in der Abhängigkeit vom Internationalen Währungsfonds, der an die Vergabe von Krediten innenpolitische Maßnahmen knüpfte. Damit bestimmte der IWF faktisch über diese Länder.
Gorbatschow sicherte mir aber zumindest zu, dass die Sowjetunion ihre Verpflichtungen bei der Lieferung von Rohstoffen voll erfüllen werde. Das gelte für den nächsten Fünfjahrplan 1991–1995. Gleichzeitig mahnte er: »Wichtig ist die Fortführung der prinzipiellen Politik gegenüber der BRD. Es muss vermieden werden, dass die BRD über die bekannten Mechanismen Druck auf die DDR ausüben kann.«
In Abstimmung mit dem Politbüro sollte ich in »allgemeiner Form« offenlegen, dass die DDR in den letzten Jahren über ihre Verhältnisse gelebt habe. Mir könne man für die dadurch entstandene Situation die Schuld nicht anlasten.
Ich nutzte das Gespräch, um Gorbatschow nach der sogenannten deutschen Frage und der Sicht Moskaus darauf zu befragen. Gerüchteweise war in den letzten Jahren immer wieder gestreut worden, die Sowjetunion strebe die deutsche Einheit an, was besonders Honeckers Misstrauen hervorgerufen hatte. Ich fragte also direkt: »Welchen Platz räumt die Sowjetunion beiden deutschen Staaten im gesamteuropäischen Haus ein?«
Gorbatschow tat, als habe er meine Frage nicht verstanden.
Ich ergänzte: »Die DDR ist ein Ergebnis des Zweiten Weltkrieges und des nachfolgenden Kalten Krieges, also auch euer Kind. Es ist für uns wichtig zu wissen, ob ihr weiter zu eurer Vaterschaft steht?«
Ob damals ernst gemeint oder schon Täuschung, ist schwer zu sagen. Gorbatschow erklärte: »Nach den Völkern der Sowjetunion ist uns das Volk der DDR das liebste.«
Im weiteren informierte er mich über ein Gespräch zwischen ZK-Sekretär Alexander Jakowlew, seinem engen Berater, und Zbigniew Brzezinski, dem ehemaligen Sicherheitsberater mehrerer US-Präsidenten. Die beiden hätten diskutiert, ob eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten vorstellbar sei. Brzezinski habe gesagt: unvorstellbar. Für ihn wäre die Einheit Deutschlands der Zusammenbruch der Sicherheitsarchitektur in Europa.
Gespräche mit Margaret Thatcher, François Mitterrand, aber auch mit Wojciech Jaruzelski und Giulio Andreotti hätten ihm, Gorbatschow, bewusst gemacht, dass auch sie die in der Nachkriegszeit entstandene Realität einschließlich der Existenz zweier deutscher Staaten zu erhalten wünschten. Die Frage nach der Einheit Deutschlands sei für alle explosiv. Er fragte rhetorisch: »Weißt du auch warum?« und gab die Antwort: »Niemand kann sich die deutsche Einheit vorstellen, solange die NATO und der Warschauer Vertrag existieren.« Und niemand wolle eine Auflösung von Warschauer Vertrag und NATO.
Auch ein Ausscheiden Polens und Ungarns aus dem Warschauer Vertrag sei kein Thema. Das Gleichgewicht in Europa dürfe nicht gestört werden, weil niemand die Folgen für die Welt abschätzen könne. Auch die USA bezögen bisher eine ähnliche Haltung. In letzter Zeit gebe es allerdings einige Nuancen, die man noch untersuchen müsse.
An dieser Stelle meldete sich Gorbatschows Berater Georgi Ch. Schachnasarow zu Wort. »Diese Nuancen sind doch wohl mehr für das breite Publikum bestimmt«, erklärte er.
Sein Einwurf machte mich hellhörig. Ausgerechnet bei diesem Thema hielt es der Berater für opportun, seinen Chef zu unterbrechen. Ich musste an Honeckers Misstrauen denken. Als Ronald Reagan 1987 jenseits des Brandenburger Tores von Gorbatschow gefordert hatte, das Tor zu öffnen und die Mauer niederzureißen, war Honecker der Meinung, Reagan hätte dies nie so gesagt, wenn er nicht gewusst hätte, dass Gorbatschow ähnliches dachte. (…)
Keine Wiedervereinigung
Der erste Mann im Kreml jedenfalls erklärte nun am 1. November 1989 mir gegenüber, es sei für die sozialistischen Länder am besten zu betonen, dass die gegenwärtige Lage ein Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung sei. Natürlich ließe sich nicht ignorieren, dass zwischen beiden deutschen Staaten mannigfaltige menschliche Kontakte bestünden. Diese müsse man aber unter Kontrolle halten und steuern. Die sowjetische Seite sei bereit, sich mit der DDR über einige politische Korrekturen abzustimmen, die sich daraus ergäben. Gorbatschow ließ über das Ziel dieser Abstimmung keinen Zweifel: Es komme darauf an, die Beziehungen im Dreieck DDR – BRD – UdSSR besser zu koordinieren. (…)
Gorbatschow fuhr fort, dass die Sowjetunion auch bemüht sei, die BRD enger an sich zu binden. Dies werde auch der DDR helfen. Die Bundesrepublik scheine bereit, mit der UdSSR und der DDR zusammenzuarbeiten. Zugleich erwarte sie aber, dass die Sowjetunion bei einer möglichen Vereinigung Deutschlands Hilfestellung leiste. Sie betone immer wieder, dass der Schlüssel für die Vereinigung in der Sowjetunion liege. »Dies sagen auch die Amerikaner. Für sie ist das die bequemste Ausrede. Sie sprechen gegenüber der BRD von ihrer Unterstützung für die Wiedervereinigung, verweisen aber stets auf die Schlüsselrolle Moskaus. Mit diesem Unsinn soll Moskau der Schwarze Peter zugeschoben werden. Zugleich dürfen wir nicht übersehen, dass die USA nicht erfreut sind, wenn es zu einer Annäherung zwischen Bonn und Moskau auf ökonomischem und politischem Gebiet kommt.«
Für die DDR sei Vorsicht geboten, damit der ideologische Gegner nicht in eine Position komme, die er gegen uns ausnutzen könnte. »Die DDR«, so Gorbatschow, »muss bei ihren Beziehungen zur BRD darauf achten, nicht in die Umarmung dieses Staates zu geraten«. Dies lasse sich vermeiden, wenn die DDR mit vielen anderen Ländern, nicht nur mit der BRD, zusammenarbeite.
Gorbatschows Monolog erschien mir wie ein Vortrag in Sachen Dialektik. Einerseits sollten wir mit der Bundesrepublik kooperieren, zumindest dort, wo es sich nicht vermeiden ließe. Andererseits hätten wir immer zu berücksichtigen, dass die Sowjetunion mit am Tisch säße. Deren Interessen lagen offenkundig zwar mehr bei den Amerikanern, es schien jedoch zulässig, wenn man die beiden deutschen Staaten dabei nutzen konnte.
Der KPdSU-Generalsekretär blieb beim Thema. Wenn die Tendenz der Annäherung in Europa mehrere Jahrzehnte lang anhalte und sich die Integrationsprozesse unabhängig von den Gesellschaftssystemen entwickelten, dann könne sich die Frage der Einheit Deutschlands eines Tages stellen. Diese Frage sei allerdings nicht aktuell.
»Die Einheit Deutschlands steht nicht auf der Tagesordnung. Darüber hat sich die Sowjetunion mit ihren früheren Partnern aus der Zeit der Antihitlerkoalition geeinigt.« Gorbatschows Resümee: »Genosse Krenz, übermittle dies bitte den Genossen des SED-Politbüros.«
Ich bohrte weiter, um auf meine Frage nach dem Platz der deutschen Staaten im gesamteuropäischen Haus, von dem Gorbatschow seit Jahren sprach, eine verbindliche Antwort zu erhalten. Man spreche heute viel von den allgemein-menschlichen Werten. Dies werfe auch die Frage nach den allgemein-deutschen Werten auf. Wie werde sich das Grenzregime des Warschauer Paktes zum Westen entwickeln? Dies stehe im unmittelbaren Zusammenhang mit der Berliner Mauer. Ich sagte: »Die DDR befindet sich in der komplizierten Situation, diese Dinge verteidigen zu müssen, obwohl sie nicht mehr in die Zeit passen.«
Gorbatschow gab mir recht. Man müsse vieles neu durchdenken. »Wenn die DDR nicht die Formel dafür findet, die es ermöglicht, dass die Menschen ihre Verwandten besuchen können, dann ist das für die Gesellschaft der DDR ein sehr unbefriedigender Zustand. Die DDR wird neue Ultimaten gestellt bekommen. Sie muss jedoch die Initiative in der Hand haben. Wir in der Sowjetunion sind bereit, mit euch gemeinsam solche Fragen zu beraten. Es ist aber an der Zeit, auf Kanzler Kohl stärkeren Druck auszuüben. In den Regierungsparteien gibt es Leute, die Kohl loswerden wollen. Er hat jedoch auf das Pferd des Nationalismus gesetzt. In der BRD wird mit diesem Thema wild spekuliert.« (…)
Nach vier Stunden Gespräch setzte Gorbatschow zum Schlusswort an.
»Dein Besuch, Genosse Krenz, so kurz nach deiner Wahl, ist außerordentlich notwendig für die gegenseitige Abstimmung am Beginn einer neuen Etappe unserer Zusammenarbeit. Es geht darum, gemeinsam zu demonstrieren, dass wir zusammenstehen, dass die Entwicklung in der Sowjetunion der DDR sehr nahe ist und umgekehrt. Dies ist wichtig auch für die anderen sozialistischen Länder und für die ganze Welt. Auch in der Bundesrepublik Deutschland wird man sich dafür interessieren, worüber sich Gorbatschow und Krenz abgestimmt haben.« (…)
Der Inhalt der Gespräche und der vertrauensvolle Umgang miteinander ließen mich an eine gute Zukunft und an einen Neuanfang glauben. Ein Ende der DDR? Angesichts des Schulterschlusses mit der Sowjetunion war das für mich ausgeschlossen.
Anmerkung:
1 Michail Gorbatschow: Gipfelgespräche. Geheime Protokolle aus meiner Amtszeit. Berlin 1994
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