Macht es heute noch Sinn, die Kriegsschuldfrage 1914-1918 zu behandeln?
Veröffentlicht in: Das kritische Tagebuch
Der Autor und Jurist Wolfgang Bittner hat einen Essay über „Deutsche Außenpolitik 2018 – Die ‚balancierte Partnerschaft‘ des Außenministers Heiko Maas und die Feierlichkeiten zum Ende des Ersten Weltkriegs“ geschrieben. Vom früheren Parlamentarischen Staatssekretär im Verteidigungsministerium Willy Wimmer kam fast gleichzeitig ein Text zum feierlichen Gedenken an 100 Jahre 1. Weltkrieg. Es fügt sich gut, beide Texte gemeinsam zu veröffentlichen. Beide beschäftigen sich auch mit der Frage, wer verantwortlich war für den Ersten Weltkrieg, welche Rolle das Friedensdiktat Versailles für die weitere Entwicklung in Deutschland und Europa spielte, und wie diese Themen heute und vor allem im Zusammenhang mit „100-Jahre-Ende-des-Ersten Weltkriegs“ behandelt werden. Albrecht Müller.
Ich war zunächst skeptisch, ob die Erörterung der Kriegsschuld nach 100 Jahren noch Sinn macht. Aber Willy Wimmer machte mich darauf aufmerksam, dass das damalige Verhalten gegenüber Deutschland heute auf internationaler Ebene nach dem gleichen Muster gegenüber Rußland fortgeschrieben werde, mit uns als Schlachtfeld, wie er meint.
Auf seinen Hinweis hin fand ich in unserem eigenen Medium Überlegungen zum Thema. Am 10. Februar 2015 hatte ich darauf aufmerksam gemacht, für wie wichtig westliche Strategen die Beantwortung der Schuldfrage für die Vorbereitung künftiger Kriege halten. Wörtlich:
„In der jetzt öffentlich geführten Auseinandersetzung geht es in einem ersten Versuch darum, Russland ohne Krieg zu isolieren, wirtschaftlich zu schaden, zu destabilisieren, und die Ukraine und später auch weitere Nachbarstaaten in den Westen zu ziehen, zunächst nahe an die EU, dann in die EU und in die NATO. Die Bundeskanzlerin Merkel hat das mit ihrer Erinnerung an den Mauerfall und die dafür notwendige Geduld als Ziel beschrieben, die strategische Überlegung also ausdrücklich genannt und bekannt.
Falls dies nicht ohne größeren Krieg möglich sein sollte, dann geht es aus der Sicht Deutschlands und des Westens darum, die Kriegsschuldfrage jetzt schon zu beantworten, bevor der große Krieg begonnen hat: die Russen sind schuld, genauer Putin, der seltsam gewendete Putin, wie es in einigen Einlassungen westlicher Politiker heißt.“
Nach diesem Hinweis auf einen früheren einschlägigen Text nun aber zu den beiden Artikeln – verbunden mit einem großen Dank an die Autoren und der Bitte an unsere Leser, diese profilierten Meinungen als Anstoß zur eigenen Meinungsbildung zu verstehen:
Willy Wimmer:
Die Bilder aus London am Waffenstillstandstag des 11. November 2018 suchte man in den Hauptnachrichten von ARD und ZDF vergebens. Auch BBC rückte erst spät damit heraus. Bilder, die den deutschen Bundespräsidenten Steinmeier bei einer Kranzniederlegung in London zeigten. Hielt man diese Bilder deshalb zurück, weil weder der deutsche Bundespräsident Steinmeier noch die noch im Amt befindliche Bundeskanzlerin Merkel es an diesem denkwürdigen Wochenende für nötig gehalten haben, der deutschen Soldaten und Opfer des Ersten Weltkrieges in angemessener Weise dort zu gedenken, wo diese Toten ihre letzte Ruhe finden mußten. Damit macht die deutsche Staatsspitze deutlich, welchem Geschichtsbild sie anhängt. Vor allem im Vorfeld von Versailles 1919, an dem man sich im Sommer 2019 in besonderer Weise erinnern wird.
Der Commonwealth-Historiker Christopher Clark hat es deutlich gemacht. Nichts hat Versailles und das Verdikt der Entente-Staaten über das Deutsche Reich gerechtfertigt. Clark hat sogar mit dem Segen der deutschen Öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten dekretiert, daß es für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges keine Sonderverantwortung von irgendeinem Staat gebe, obwohl der deutsche Historiker Wolfgang Effenberger und andere auf die über ein Jahrzehnt laufende Vorbereitung des Ersten Weltkrieges durch britische und französische Zirkel, einschließlich der über das Deutsche Reich zu verhängenden Hungerblockade, hingewiesen haben. Eine Hungerblockade wohlgemerkt, die bis weit nach dem Waffenstillstand in den Sommer 1919 Millionen deutsche Opfer und den Verlust einer ganzen Generation von Kindern zur Folge haben sollte. Wenn es selbst nach Christopher Clark keine deutsche Sonderverantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges gegeben hatte, ist die in Versailles von den Alliierten dekretierte “deutsche Alleinschuld” nicht aufrecht zu erhalten.
Die Vernichtung Deutschlands war das Ziel von Versailles und mittels Hitler und dem Zweiten Weltkrieg sollte es gelingen. Steinmeier und Merkel laufen Gefahr, Versailles und die gegen Deutschland gerichtete Vernichtungspolitik auf Dauer zu legitimieren.
Das könnte man der Geschichte überantworten, wenn dies nicht ins nächste Verhängnis führen würde.
Zunächst einmal in grundsätzlicher Hinsicht. Wer heute Versailles legitimiert, beantwortet eine Frage nicht: Wer kann Frieden? Darauf hat es in der Geschichte Antworten gegeben, wie der Friedensschluß 1648 von Münster und Osnabrück sowie der Wiener Kongreß nach Ende der napoleonischen Kriege zeigen konnte. Man ließ dem besiegten Land sein Gesicht und schuf das “Recht auf Vergessen”.
Es war der russische Zar Alexander I, gemeinsam mit dem österreichischen Kanzler Metternich, einem Rheinländer aus Koblenz, der das europäische Überlebensprinzip schlechthin in die internationale Politik einzuführen versuchte: eine erneute Auseinandersetzung in Europa sollte vermieden werden, um nicht der Vernichtung der europäischen Zivilisation ins Auge sehen zu müssen. Absprache, wo Absprache möglich sein sollte, sehr zum Widerwillen der Angelsachsen. London wollte auf dem Kontinent schalten und walten, wie es wollte. Das wurde gemeinsam mit dem späteren Marschall Foch aus Frankreich unter Beweis gestellt und ist bis heute der “rote Faden”, der jede Beruhigung der europäischen Lage hintertreiben soll. Washington ist in Londoner Fußstapfen getreten, da kann bei den französischen Feierlichkeiten in Paris der amerikanische Präsident Trump des russischen Präsidenten Putin anlächeln, wie er will.
Es ist schon pervers, wenn ausgerechnet ein französischer Präsident ein permanentes “Friedens-Forum” am Arc de Triomphe ankündigt. War es doch zuletzt und in Abfolge gerade Frankreich, das Libyen und Syrien mit allen sich daraus ergebenen Konsequenzen auf dem Kerbholz hat und in Afrika nichts anderes mehr fertigbringt, als Kriege zu führen. Statt “Friedens-Forum” hätte Selbstverpflichtung für die Zukunft den Menschen mehr gebracht.
Und dann die Dauerschelte für den amerikanischen Präsidenten Trump. Man muß sich fragen, was das soll? Oder sind Merkel und Co. sauer darüber, daß Präsident Trump bislang jedenfalls nicht dem Modell der von Merkel und Co. bejubelten kriegstreibenden Präsidenten Clinton, Bush dem Unsäglichen und Obama folgt? Der russische Präsident Putin wird sich in Paris und nicht nur dort alles genau angehört haben. Von Clinton bis Merkel beklagt man, daß die angelsächsische Kriegspolitik durch Trump augenscheinlich nicht fortgesetzt wird. Trump wird mit Kübeln von Dreck zugeschüttet, weil er vorgibt, mit Rußland eine Form gedeihlicher Zusammenarbeit anstreben zu wollen.
Kriege haben die Merkels dieser Welt freudig hingenommen, aber Frieden in Europa geht gar nicht? Das entspricht dem EU-Modell auf Zerstörung der bestehenden rechtsstaatlichen Ordnung durch diejenigen, die die Dämonen der Vergangenheit beschwören, obwohl gerade sie es sind, die diese Dämonen fördern. Trump kann gegenüber Moskau nicht liefern, aber er unternimmt alles, um das kriegszerrüttete Amerika wieder aufzurichten. Das mag ihm gelingen. Aber was kommt danach? Wieder ein Amerika, das sich Rußlands über die amerikanischen Militärbefehlshaber in Europa bemächtigen will? Paris war ein Gipfel an diesem Wochenende und zwar einer der politischen Heuchelei.
(12.11.2018)
Willy Wimmer (CDU) war 33 Jahre Mitglied des Deutschen Bundestages, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung, Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)
Wolfgang Bittner
Deutsche Außenpolitik 2018 – Die „balancierte Partnerschaft“ des Außenministers Heiko Maas und die Feierlichkeiten zum Ende des Ersten Weltkriegs
Noch Mitte 2018 schlug Außenminister Heiko Maas neue, ungewöhnliche Töne hinsichtlich einer Stärkung der europäischen Autonomie gegenüber den USA an. In einem im Handelsblatt am 21. August 2018 veröffentlichten Kommentar schrieb er, dass die USA und Europa seit Jahren auseinanderdrifteten.[1] Das war offensichtlich, damit hatte er vollkommen recht. Ebenso, wenn er weiter erklärte, dass dies keineswegs nur an Donald Trump liege, weil die Gemeinsamkeiten bei Werten und Interessen seit Längerem schon abgenommen hatten. Er kam somit zu dem Ergebnis, die Konflikte würden die Präsidentschaft Trumps überdauern, so dass es keinen Zweck habe das auszusitzen. Maas strebte ein „neu zu vermessenden“ Verhältnis mit den USA an, in dem „wir ein Gegengewicht bilden, wo die USA rote Linien überschreiten“. Europa könne es nicht zulassen, dass die USA „über unsere Köpfe hinweg zu unseren Lasten handeln“. Deshalb sei es richtig, europäische Unternehmen rechtlich vor Sanktionen zu schützen. Weiter schrieb er, die europäische Autonomie müsse gestärkt werden, indem von den USA unabhängige Zahlungskanäle einzurichten sowie ein Europäischer Währungsfonds und ein unabhängiges Swift-System zu schaffen seien. Außerdem forderte er, US-Internet-Konzerne müssten angemessen besteuert werden.
Alles nachvollziehbar und richtig, das und mehr sagen unabhängige Publizisten und Analysten schon lange. Der Direktor der chinesischen Zentralbank, Zhou Xiaochuan, ist vor einigen Jahren noch viel weiter gegangen: Er hat sich gegen die Vorherrschaft des Dollars als Weltleitwährung gewandt.[2] So auch der damalige französische Präsidentschaftskandidat und Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF), Dominique Strauss-Kahn, den man dann unverzüglich über eine Schmuddel-Sex-Affäre ein für alle Mal aus dem Verkehr gezogen hat.[3] Warum? Weil die USA bankrott wären, wenn der Dollar als Weltleitwährung wegfiele. Das werden sie niemals zulassen, solange sie die höchstgerüstete Armee und den rücksichtslosesten Geheimdienst der Welt haben. Denn sie können trotz einer immens hohen Staatsverschuldung von etwa 22 Billionen Dollar nicht „pleitegehen“ und sogar noch unbekümmert Staatsanleihen ausgeben, die jederzeit einzulösen sind, weil sie sich in der Weltleitwährung US-Dollar verschulden und – wie der ehemalige Vorsitzende der Notenbank, Alan Greenspan einmal gesagt hat – bei Bedarf jede beliebige Menge Geld drucken können. Das hat weitgehende Auswirkungen auf die ganze Welt.
Der deutsche Außenminister hat also einige sehr vernünftige Überlegungen geäußert. Doch dann kam sogleich der Schwenk: Im Rahmen der „balancierten Partnerschaft“ sollen die Europäer einen Teil der Verantwortung übernehmen. Zu fragen ist: welche Verantwortung? Interventionskriege zu führen, andere Länder zu ruinieren oder in Schutt und Asche zu bomben? Zum Beispiel terrorisieren die USA auf die brutalste Weise die Bevölkerungen in Venezuela und Brasilien, die einen durch Boykott, die anderen durch Regime Change. Aber worum geht es Heiko Maas, wenn er von Verantwortung spricht? Er meint die europäische Sicherheitspolitik, konkret geht es ihm um die Erhöhung der Verteidigungsausgaben (und das entspricht auch den Forderungen von Kanzlerin Angela Merkel und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen). Maas schreibt: „Die Kehrtwende bei den Verteidigungsausgaben ist Realität. Jetzt kommt es darauf an, Schritt für Schritt eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungsunion aufzubauen – als Bestandteil der transatlantischen Sicherheitsordnung und als eigenes europäisches Zukunftsprojekt.“
Das zeigt die Richtung, damit betreibt Maas die Kriegspolitik der USA mit ihrem Militärisch-industriellen Komplex. Obwohl die Militärausgaben der NATO-Staaten einschließlich der USA mehr als dreizehn Mal höher sind als die Russlands, soll mit zig Milliarden immer noch weiter aufgerüstet werden. Dazu passt PESCO, die ständige strukturierte militärische Zusammenarbeit, die Ende 2017 beschlossen worden ist. Danach können die NATO-Truppen grenzenlos in ganz Europa bis an die russischen Grenzen – böse gesagt: bis an die künftige Ostfront – operieren. Und ein Europäisches Sicherheits- und Verteidigungsbündnis als Bestandteil der transatlantischen Sicherheitsordnung? Bekanntlich wird die NATO von den USA gesteuert. Soll das deutsche Militär dann vollkommen der Befehlsgewalt der USA ausgeliefert werden? Es handelt sich also um einen weiteren Schritt in Richtung einer „Kolonisierung“ Europas.
Wenn Maas meint, das geeinte Europa könne ein Gegengewicht zu den USA bilden, ist das bei dem heutigen Zustand Deutschlands eine Illusion. Erstens ist das Besatzungsrecht zwar 1990 beendet worden und Deutschland wurde de jure souverän – unter wesentlicher Beteiligung Russlands, das sollte nicht vergessen werden, ist jedoch inzwischen verdrängt. Aber die USA haben 1993 ein Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut für die in Deutschland stationierten ausländischen Truppen durchgesetzt, wonach sie zum Schutz ihrer Truppen alles Erforderliche unternehmen dürfen. Und dieses Erforderliche ist weit auslegbar und beinhaltet zum Beispiel die Überwachung der inländischen Kommunikation. Dass das Handy der Bundeskanzlerin abgehört wurde, war also rechtlich gedeckt, um nur ein Beispiel zu nennen.
Zweitens haben die USA weitgehende Möglichkeiten der Nötigung und Erpressung gegenüber der deutschen Regierung. Wie wäre sonst die Zustimmung und Mitwirkung an den Sanktionen gegen Russland zu erklären? Die Sanktionen richten sich schließlich nicht nur gegen Russland, sondern sie schädigen in erheblichem Maße auch Deutschland. Zur Durchsetzung der Boykottmaßnahmen ist aus Washington erheblicher Druck ausgeübt worden, was der ehemalige Vizepräsident Joe Biden öffentlich zugegeben hat. Am 2. Oktober 2014 prahlte er in einer Rede an der Harvard Kennedy School in Cambridge/Massachusetts: „Wir haben Putin vor die einfache Wahl gestellt: Respektieren Sie die Souveränität der Ukraine oder Sie werden sich zunehmenden Konsequenzen gegenübersehen. Dadurch waren wir in der Lage, die größten entwickelten Staaten der Welt dazu zu bringen, Russland echte Kosten aufzuerlegen. Es ist wahr, dass sie [die EU] das nicht tun wollten. Aber wiederum war es die Führungsrolle Amerikas und die Tatsache, dass der Präsident der Vereinigten Staaten darauf bestanden hat, ja Europa des Öfteren in Verlegenheit bringen musste, um es dazu zu zwingen, sich aufzuraffen und wirtschaftliche Nachteile einzustecken, um Kosten [für Russland] verursachen zu können. Und die Folgen waren eine massive Kapitalflucht aus Russland, ein regelrechtes Einfrieren von ausländischen Direktinvestitionen, der Rubel auf einem historischen Tiefststand gegenüber dem Dollar, und die russische Wirtschaft an der Kippe zu einer Rezession.“[4]
Absurd, dass die Sanktionen gegen Russland von der EU immer noch beibehalten werden. Und der Schulterschluss mit Frankreich, den Maas propagiert, zeugt von ebenso ausgeprägter Kurzsichtigkeit. Der französische Präsident Macron tritt schlau für eine gemeinsame EU-Verteidigungs- und Finanzpolitik ein – zu Lasten Deutschlands.[5] Er beteuert natürlich ständig die Freundschaft mit Deutschland, ebenso wie Frau Merkel mit Frankreich, wo ein gutnachbarliches Verhältnis durchaus genügen würde. Zugleich wird am 11. und 12. November das Ende des Ersten Weltkriegs im Beisein von 60 Staats- und Regierungschefs, darunter US-Präsident Donald Trump, mit großen Auftritten, unter anderem einer Zeremonie am Arc de Triomphe, gefeiert – und damit Deutschland vor Augen geführt, dass es schon 1918 vor den USA, England und Frankreich am Boden lag.
Was ist von Macrons angeblicher Freundschaft oder Kooperation zu halten, wenn so etwas passiert und er zudem eine von Putin angeregte Zusammenkunft mit Trump in Paris verhindert? Der französische Präsident und die britische Premierministerin Teresa May gedachten mit einer Kranzniederlegung auf dem Soldatenfriedhof von Thiepval der Opfer ihrer Länder während des Krieges gegen das Deutsche Reich,[6] wohingegen Macron mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel den Platz im Wald von Compiègne aufsuchte, wo am 11. November 1918 der Waffenstillstand unterzeichnet wurde, der zu dem erzwungenen, für Deutschland ruinösen Versailler Vertrag mit den bekannten Folgen führte.[7] Das geht weit hinter die Politik von de Gaulle, Mitterand und Helmut Kohl zurück, zeugt davon, dass Macron nicht zu trauen ist und Angela Merkels Geschichtsverständnis offensichtlich den falschen Vorgaben der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs entspricht. Dasselbe trifft auf Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu, der gemeinsam mit dem britischen Thronfolger Prinz Charles an den Feiern der Briten teilnahm und am Ehrenmal in London einen Kranz niederlegte, wobei er „für die Ehre“ dankte, „Seite an Seite der Opfer zu gedenken“.[8]
Der ehemalige Parlamentarische Staatssekretär und Vizepräsident der OSZE, Willy Wimmer, kommentierte: „Fast scheint es so, dass 100 Jahre nach der Jahrhundertkatastrophe zwar Platz für die Erinnerung ist, doch ein Schleier die schicksalhaften Ereignisse noch immer kaschieren soll. Angeblich rutschten die europäischen Staaten ja schlafwandlerisch in den Ersten Weltkrieg, doch neuere Forschungen und freigegebenes Archivmaterial belegen, dass sie von bestimmten Kräften geradezu hineinorchestriert wurden. Ziel war die Ausschaltung Deutschlands und Österreich-Ungarns; es galt, zwei in jeder Hinsicht prosperierende Staaten möglichst von der Landkarte zu tilgen. Über die Waffenruhe am 8. November 1918, den Waffenstillstand am 11. November 1918, Versailles und später Hitler sollte weitaus mehr gelingen. Einen Weltkrieg weiter, der zur bedingungslosen deutschen Kapitulation und der fast vollständigen Vernichtung der Substanz der Sowjetunion geführt hatte, steht die Koalition der Kriegswilligen erneut an den Grenzen Russlands – Deutschland als Spielball mittendrin.“[9]
Es zeigt sich, dass im offiziellen Deutschland 73 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch nicht die historische Gemengelage begriffen worden ist. Und in Richtung USA wird nach dem von Donald Trump eingeleiteten globalpolitischen Schwenk einerseits mehr Abstand gefordert, aber natürlich nicht zu viel; andererseits wird nach wie vor gegen Russland zu Felde gezogen, anstatt gerade da mit neuen politischen Vorstellungen anzusetzen und Skepsis auch gegenüber den NATO-Verbündeten England und Frankreich walten zu lassen. Hier wird deutlich, wie unreflektiert und konfus deutsche Außenpolitik – in Abhängigkeit von den USA – betrieben wird. Das ist Berliner Politik 2018. Die alles entscheidende Frage bleibt, ob und gegebenenfalls wie sich Deutschland aus der Umklammerung durch die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, insbesondere der USA, befreien kann, aus dieser Zwangslage, die ihren Anfang 1945 genommen hat, als damals die Weichen gestellt wurden. Dazu findet sich in der deutschen Politik nach wie vor kein auch nur halbwegs überzeugender Ansatz.
(12.11.2018)
Der Schriftsteller und Publizist Dr. jur. Wolfgang Bittner lebt in Göttingen. 2017 erschien von ihm im Westend Verlag in Frankfurt am Main das Buch „Die Eroberung Europas durch die USA – eine Strategie der Destabilisierung, Eskalation und Militarisierung“.
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