„Die
Kurden. Ein Volk zwischen Unterdrückung und Rebellion.“
- Kerem
Schamberger, Michael Meyen
Im
Fanggriff des Kapitals:
Die
Kurden
Buchtipp von
Harry Popow
Die „kurdische
Frage“. Die einen beantworten sie so und die anderen anders. Dem
einen jagen die Kurden Schrecken ein, dem anderen Hoffnung. Wer sich
bereits schlau gemacht hat, der weiß, dass dieses größte Volk der
Erde ohne jegliche Staatlichkeit lebt, verteilt auf die Länder
Türkei, Syrien, Iran und Irak. Mehr als 30 Millionen Menschen. Welch
eine Brisanz, die hinter der „kurdischen Frage“ steckt.
„DIE KURDEN.
Ein Volk zwischen Unterdrückung und Rebellion.“ So der Titel eines
Buches von Kerem Schamberger und Michael Meyen. „Es erzählt“, so
die Autoren im Vorwort, „wie sich die Westmächte den Nahen und
mittleren Osten nach dem Ersten Weltkrieg zurechtgeschnitten haben
und warum die neuen Staaten in der Region kein Interesse an einer
kurdischen Nation hatten. Im Gegenteil. Sie haben alles getan, damit
Sprache, Kultur und Identität verschwinden.“
Und weiter
heißt es: Aber der Krieg ist da. Seit 2015. Zerstörte kurdische
Städte und Dörfer. Ermordete Zivilisten. Überwacht und gejagt
werden Kurden vom türkischen Geheimdienst auch in Deutschland, eine
Million sollen hier leben. Die Polizei spricht von Terroristen. Du
brauchst nur Symbole der verbotenen PKK zeigen, dann bist du Mode.
Um es vorweg zu
sagen: Diese Lektüre ist ein emotionaler Knaller. Sie beweist ein
großes Herz für die Kurden. Wörtlich heißt es auf Seite 12: Die
Kurden „versuchen etwas Neues aufzubauen, eine neue Form der
Demokratie jenseits aller Staatlichkeit, in Rojava, im Norden
Syriens, mitten im Krieg, bekämpft von allen Seiten“.
Das
Buch startet mit einer Veranstaltung in Kassel. Ercan Ayboga spricht.
Über Rojava. „Demokratischer Konföderalismus“. „Die Vision
der Kurden für die Region und vielleicht auch für den Rest der
Welt, zumindest der Kurden, die auf Abdullha Öcalan schwören, seine
Bücher kennen und fordern, Öcalan endlich, endlich freizulassen.“
(S. 13) Öcalan, der seit 1999 auf der Insel Imrali gefangen
gehalten wird. Der lange die PKK geführt hat, die in Deutschland
seit 1993 verboten ist. Terroristen, sagt die Türkei, auch die EU,
die USA, Großbritannien.
Dieses
politische Sachbuch ist kein umfangreiches Geschichtswerk. Die beiden
Autoren gingen einen anderen Weg. Sie haben zahlreiche Menschen in
Deutschland gesprochen, denen die kurdische Frage am Herzen liegt.
Geborene Kurden oder Türken oder jene, die sich mit den Kurden eng
verbunden fühlen.
Eine
Klassenfrage
Die Autoren
zitieren zum Beispiel Axel Gehring, der auf Seite 162 davon ausgeht,
dass die AKP, die Partei Erdogans, an der kurdischen Frage
gescheitert ist, "weil diese Frage auch eine Klassenfrage
ist". So ist auch zu verstehen, dass es für die Kurden keine
einfache Sache ist, dem imperialistischen Staat und auch dem
NATO-Bündnispartner Deutschland die Stirn zu bieten, sich nach und
nach von den Fesseln der Unterdrückung zu befreien.
Der
Leser liest von persönlichen Schicksalen und Motiven, sich am Kampf
um die Befreiung der Kurden auf vielfältigste Art zu beteiligen. So
ist für Ismail Küpeli die kurdische Frage „auch eine soziale
Frage“, zumal er als Türke in Duisburg lebt und die Eltern linke
Aktivisten sind. Er sieht, dass es in Deutschland keine
Berichterstattung gibt, also habe er angefangen zu schreiben. (S. 38)
Auf
Seite 83 bezeugt Nick Brauns, in München lebend, dass er die PKK
immer als Befreiungsbewegung gesehen habe und dass sie „vom
Sozialismus sprachen, hat mir die Unterstützung einfacher gemacht“.
Reimar Heider, er hatte als Kind eine „recht katholische
Erziehung“, weilte mit einer Delegation 1993 in Südostanatolien,
die Kommunalwahlen in Newroz zu beobachten. „Was ich dann vor Ort
erlebt habe, hat mich politisiert. Die ganzen Lügen, die hier
erzählt wurden über den Konflikt. Von wegen keine deutschen
Waffen.“ Er sieht Panzer und er fängt an, Türkisch zu lernen. Er
habe angefangen, sich für die Schriften von Öcalan zu begeistern.
Ende 2002 nach Deutschland zurückgekehrt, bringt er sich als
Übersetzer und als Motor der Internationalen Initiative „Freiheit
für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan“ ein. (S: 86/87)
Leyla
Imret, sie verließ Ende 2016 ihre Heimat, da sie kein Vertrauen mehr
in die türkische Justiz hatte, ist immer noch überzeugt von der
Vision, die Abdullah Öcalan für die Gesellschaft hat. „Die
konföderalistische Moderne aufbauen. Mit Selbstverwaltung zu einer
freien Identität.“
Türkisches
Täuschungsmanöver
Die
„kurdische Frage“ - sie bleibt offen. Recep Tayyip Erdogan habe
sie mit einer Diktatur beantwortet. (S. 184) Leyla Imret erklärt den
sogenannten Friedensprozess von 2013 bis 2015 mit einem Patt. Keinem
sei es gelungen, den anderen zu besiegen. (Seite 150) Auf den Seiten
156/157 verweisen die Autoren auf Rhetorik und Symbolen, die Brüssel
beruhigen. Die Regierung verspricht eine „Politik der
demokratischen Öffnung“: Kurdische Ortsnamen, Kurdologie an den
Universitäten, Kurdisch als Wahlfach in der Schule – die
„kurdische Frage“ habe es bis ins Parlament geschafft. Die Partei
der demokratischen Gesellschaft (DTP) aber wurde verboten. Und zum
Jahreswechsel 2015/2016 rollten und schossen in Cizre wieder die
Panzer. „Eins aber ändert sich nicht: die Idee vom türkischen
Einheitsvolk.“ Seite 161: „Auf Harmonie setzen und
Klassenwidersprüche leugnen. (…) Das ist der Herrschaftstrick, der
seit den 1950ern funktioniert.“
Das
Buch ist ein Puzzle. Die Vielzahl der Namen und Beziehungen zwischen
Deutschen und den Kurden, deren Erlebnisse und Erfahrungen, deren
politische Motive, sie lassen sich nicht wie ein Geschichtsbuch
lesen. Es sind Bruchstücke, die sich erst im Zusammenhang zu einem
Mosaik der Vielfalt im Kampf für die Lösung der „kurdischen
Frage“ zusammenfügen. Was besonders interessant ist am Inhalt,
dass muss sich der Leser aus den verschiedenen Textabschnitten
zusammendenken. So, wenn er kompakt mehr über Abdullha Öcalan, dem
Hoffnungsträger der Kurden, über die im Norden Iraks lebenden
Kurden und vor allem über die hochinteressante Region Rojava im
Norden Syriens erfahren möchte. Thematisch zusammenhängend
dargestellt sind die Reise des Autors Kerem Schamberger nach in
Rojava im Frühjahr
2018
(ab der Seite 188) sowie das Verhältnis Deutschlands zur Türkei,
wobei auf die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands in der Türkei
hingewiesen wird, der eigentliche Grund für die Mitschuld
Deutschlands an der bisher ungelösten „kurdischen Frage“.
Der
Dank der Leser geht an die beiden Autoren. Auch für diese
abschließenden Sätze auf Seite 219: „In
der Türkei leben mehr als 50 Minderheiten. (…) Die Kurden sind die
größte Minderheit im Land. Dieses Volk lässt sich weder
türkifizieren noch sonst irgendwie auf die Knie zwingen – nicht
mit Feldzügen im Osten Anatoliens, in Rojava oder im Irak und auch
nicht mit Hilfe von Verbündeten in Deutschland, die rigoros gegen
alles vorgehen, was nach kurdischer Freiheitsbewegung aussieht und
dabei auch die eigenen Werte vergessen.“
Zu den Autoren:
Kerem Schamberger, Jahrgang 1986, türkischer Abstammung, ist politischer Berichterstatter und Kommunikationswissenschaftler an der LMU München. Er beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit der Unterdrückung der Kurden in der Türkei und übt scharfe Kritik an Recep Tayyip Erdogan und an der deutschen Politik. Aufgrund seines politischen Engagements drohte ihm zeitweise das Berufsverbot in Deutschland. „Die Kurden“ ist sein erstes Buch.
Michael Meyen, Jahrgang 1967, hat als Journalist bei der Leipziger Volkszeitung und beim Radio begonnen. Seit 2002 ist er Professor für Kommunikationswissenschaft an der LMU München und arbeitet dort mit angehenden Journalisten, PR-Profis und Medienforschern. Was dabei herauskommt, wird im Blog Medienrealitätdokumentiert. Zuletzt erschien von ihm „Breaking News: Die Welt im Ausnahmezustand. Wie uns die Medien regieren“.
Kerem Schamberger, Michael Meyen: „Die Kurden. Ein Volk zwischen Unterdrückung und Rebellion.“ Westend Verlag, Frankfurt 2018, Taschenbuch: 240 Seiten, Verlag: Westend; Auflage: 1 (4. September 2018), Sprache: Deutsch, ISBN-10: 3864892074, ISBN-13: 978-3864892073, Größe: 13,7 x 2,5 x 21,6 cm, Preis: 19 Euro
Kerem Schamberger, Jahrgang 1986, türkischer Abstammung, ist politischer Berichterstatter und Kommunikationswissenschaftler an der LMU München. Er beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit der Unterdrückung der Kurden in der Türkei und übt scharfe Kritik an Recep Tayyip Erdogan und an der deutschen Politik. Aufgrund seines politischen Engagements drohte ihm zeitweise das Berufsverbot in Deutschland. „Die Kurden“ ist sein erstes Buch.
Michael Meyen, Jahrgang 1967, hat als Journalist bei der Leipziger Volkszeitung und beim Radio begonnen. Seit 2002 ist er Professor für Kommunikationswissenschaft an der LMU München und arbeitet dort mit angehenden Journalisten, PR-Profis und Medienforschern. Was dabei herauskommt, wird im Blog Medienrealitätdokumentiert. Zuletzt erschien von ihm „Breaking News: Die Welt im Ausnahmezustand. Wie uns die Medien regieren“.
Kerem Schamberger, Michael Meyen: „Die Kurden. Ein Volk zwischen Unterdrückung und Rebellion.“ Westend Verlag, Frankfurt 2018, Taschenbuch: 240 Seiten, Verlag: Westend; Auflage: 1 (4. September 2018), Sprache: Deutsch, ISBN-10: 3864892074, ISBN-13: 978-3864892073, Größe: 13,7 x 2,5 x 21,6 cm, Preis: 19 Euro
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