Maßstäbe
so oder so
Einst
Kritisches in der Wochenzeitung „Volksarmee“
Leseproben
aus dem Buch „WIR SONNENKINDER“
Von
Harry Popow
1978.
August. „Maßstäbe so oder so“.
Eine Überschrift in
der VA-Nr. 36/78. Wieder einmal auf der Spur von widerwärtigem
Betrug in der Ausbildung. In einer Panzerkompanie stellt Harry auf
recht kriminalistische Art fest, vor einem Gefechtsschießen wurden -
entgegen den Richtlinien in der Schießvorschrift - alle Ziele vorher
gründlich „aufgeklärt“ und alle Richtschützen damit vertraut
gemacht. Außerdem „vergaß“ man, Zielvarianten aufzubauen,
ebenfalls ein Beweis für risikofreies Schießen. Nach der
Veröffentlichung, bei der der Chefredakteur möglicherweise
Bauchschmerzen bekommen hat, sagte dem Reporter einer, den er von der
Offiziersschule her kennt und der jetzt General ist, er habe gedacht,
man hätte dem Oberstleutnant Popow wegen dieses offenen und
kritischen Artikels die „Beine weggesäbelt“. Monate später
wurde dieser kritische Bericht in einem Buch über Probleme der
Gefechtsausbildung nachgedruckt.
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Dalai
Lama soll gepredigt haben, achtjährigen Kindern möge man das
Meditieren lehren. Nach drei Generationen gäbe es keine Gewalt mehr.
So so!! Achtsamkeit, so sage ich mir, ist doch wohl eine der großen
Verführungsmethoden zum Stillhalten, zum Innehalten, zum Schnauze
halten zu dem, was die Politik zum Niederhalten von sozialen
Protesten und für höhere Gewinne so treibt. Daniel Strassberg
(Psychiater, Psychoanalytiker und Philosoph) meinte kritisch: Man
fühlt sich fremdbestimmt und besinnt sich wieder auf sich. Doch
letztlich haben auch solche Aussagen über den Zeitgeist etwas
Triviales. Ein politischer Protest ist zudem nicht erkennbar, ebenso
wenig eine gemeinsame Utopie, dafür wird Achtsamkeit zu
selbstbezüglich ausgelegt. Und der Soziologe Hartmut Rosa
kritisiert, die Achtsamkeitsbewegung sei unpolitisch und schiebe das
Problem, sich in einem beschleunigten System der Arbeit zu behaupten,
dem Einzelnen zu.
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Inzwischen
ist es Mai geworden. Harry hat etwas mehr Zeit am neuen Arbeitsplatz
zum Nachdenken, Grübeln, Ideen entwerfen für die Darstellung von
Armeeproblemen. Doch die wiederum sind eingebettet in die politische
Weltlage, in die Zusammenhänge auch philosophischer Art. Er liest
u.a. in der Zeitschrift für Philosophie 1/87 zu aktuellen Problemen
der philosophischen und soziologischen Forschung in der SU, Seite 6:
Die Ursachen für das Zurückbleiben der Philosophie sehen die
Autoren u.a. im „Fehlen von gründlichen Forschungen zu den
dialektischen Prozessen unter den Bedingungen des Sozialismus und von
Untersuchungen der Eigenart des Erscheinens allgemeiner dialektischer
Gesetzmäßigkeiten unter qualitativ neuen Bedingungen. Sehr
bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die
Kategorie Negation und das Gesetz der Negation der Negation,
angewandt auf die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft,
faktisch nicht ausgearbeitet ist. (...) Die Folge des ‚Vergessens
der Notwendigkeit, die Entwicklung (...) dialektisch und kritisch zu
betrachten, ist eine vereinfachte, begrenzte, einseitige Vorstellung
vom Inhalt selbst und dem Wesen der Produktionsverhältnisse im
Sozialismus.“ Die Autoren zitieren die Klassiker ( M/E Werke, Bd.
23, S. 28): Karl Marx erklärte, dass die materialistische Dialektik
„in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das
Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs
einschließt, jede gewordene Form im Flusse der Bewegung, also auch
nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts
imponieren lässt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist.“
Harry merkt dazu an in seinem Tagebuch: Wenn etwas in Bewegung ist,
gehört dazu – vom Subjekt aus gesehen - die Kritik und die
Fähigkeit dazu! Einbringen bei nächsten Seminaren …
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Paroli bieten
Wer
keine Fragen stellt, bleibt einseitig. Harry stellt einige
Erscheinungen und Gewohnheiten in der Armee wiederholt in Frage. So
das unsägliche Notendenken. Man flunkert sich etwas vor. Man will
den Erfolg um fast jeden Preis, denn das bringt erst die wichtigen
Pluspunkte im Wettbewerb, die Prämien und Auszeichnungen. Mit dem
Abteilungsleiter ist man sich schnell einig: Da gehen wir ran. Harry
wird in die Spur gesetzt. Das Ziel: Bad Frankenhausen, der
Truppenteil „Robert Uhrig“. Dort beobachtet der Reporter wie ein
Luchs die Vorbereitungen zum Schießen und die Munitionsausgabe. Und
tatsächlich. Nur die besten Schützen werden mit ausreichender
Munition (lt. Vorschrift) bedacht, die „Schlummschützen“
bekommen weniger. Der Artikel wird in der VA 16/78 gedruckt. Es macht
Freude, den Notenjägern eins auszuwischen. Aber: Es fällt leicht,
die Oberfläche mit der Feder zu kritisieren. Die Ursachen für
„Schmuh“ liegen tiefer, sehr viel tiefer ... Doch darüber liegt
– wie man so sagt - der Mantel des Schweigens. Hier ist weiterhin
öffentliches und offensives Bohren vonnöten.
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Spiegelfechterei?
Dienstreise nach Schwerin. Einige Soldaten hatten der Redaktion
geschrieben. Sie seien nicht einverstanden mit der Methode „Ausgang
streichen“ als Strafmaßnahme. Es reizt Harry, diesen
vorschriftswidrigen Willkürakten auf den Grund zu gehen. Wie kann
man auf eigene Faust Strafen verhängen, die in keiner Vorschrift
stehen? Also auf zu den Absendern des Briefes. Dort fand der Reporter
die Beschwerde der Soldaten bestätigt. Der Artikel wurde in der Nr.
16/65 der Militärbezirksseite veröffentlicht unter der Überschrift
„Ausgang streichen - eine Privatsache?“ Tage darauf soll der Chef
des Militärbezirkes getobt haben: „So eine Spiegelfechterei!!“
Na ja, wenigstens etwas, Harry freut sich ehrlich über diese
Reaktion. Etwas Wirkung, und wenn es der Ärger einiger Vorgesetzter
ist, muss sein. Mehr aber kann er nicht erwarten, er weiß
inzwischen, sehr oft läuft man gegen Wände.
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Wieder
in Berlin. Bin aufgeladen. Stehe noch unter Strom. Will einen
Diskussionsbeitrag für die Parteiversammlung über Erlebnisse in
Leipzig halten. Vor allem über den Widerspruch zwischen dem vom
Politbüro hochgejubelten Mikroship-Film und der gar nicht rosigen
Resonanz bei jungen und sehr kritischen Zuschauern. Man macht sich
was vor!! Den Vorgesetzten fährt der Schreck in die Glieder, ich
sehe in ablehnende, verständnislose Gesichter meiner Genossen: „Um
Gottes willen, bleibe bei der Militärpolitik, willst du etwa gegen
die Einschätzung von ganz oben wettern?“ Mir ist richtig unwohl.
So offensichtliche Fehleinschätzungen, so ein hausgemachter
„Erfolg“, so viel Mittelmäßigkeit, so drastisch und
niederschmetternd.
Harry
Popow: „WIR SONNENKINDER. AUTHENTISCHE LEBENSBILDER“, Texte: ©
Copyright by Harry Popow, Umschlaggestaltung: © Copyright by Harry
Popow, Verlag: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin,
ISBN: 978-3-746719-09-2, Seiten: 504, Preis: 26,99 Euro
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