Kampfbegriff "Annexion der Krim"
Von Wolfgang Bittner
Die im März 2014 erfolgte Abspaltung der Krim von der Kiewer Ukraine ist der vorgeschobene Anlass für die Aggressions- und Sanktionspolitik der westlichen Allianz unter Führung der USA mit ihrer NATO gegen die Russische Föderation. „Annexion“, wie diese gewaltlose Separation von Politikern und Medien genannt wird, ist zu einem Kampfbegriff geworden, der gebetsmühlenartig wiederholt wird, obwohl das falsch ist und auch durch die permanente Wiederholung nicht richtig wird. Er dient zur Propaganda gegen Russland, zur Agitation gegen dessen Präsidenten Wladimir Putin sowie zur Rechtfertigung der mit ungeheurem Aufwand betriebene Aufrüstung und Stationierung von Streitkräften an den russischen Grenzen, insbesondere in Polen und in den baltischen Staaten. (1)
Die rechtliche Einschätzung des Juristen Reinhard Merkel
Im April 2014 hat der Strafrechtler und Rechtsphilosoph Reinhard Merkel, der dem deutschen Ethikrat angehört, zur „Annexion“ der Krim einen detaillierten Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht. (2) Darin kommt er zu dem Ergebnis, dass die Abspaltung der Krim sowie das vorausgegangene Referendum völkerrechtskonform waren und nicht völkerrechtwidrig, wie allgemein behauptet wird. Allerdings verstießen sie nach Merkels Auffassung gegen die ukrainische Verfassung. Das aber sei keine Frage des Völkerrechts, und da die ukrainische Verfassung Russland nicht binde, konnte es dem Antrag auf Beitritt der Krim stattgeben – so Merkel. Dennoch sei die Aufnahme der Krim in die Russische Föderation schon zwei Tage nach ihrer Abspaltung und aufgrund der militärischen Präsenz Russlands außerhalb seiner Pachtgebiete völkerrechtswidrig gewesen. Daraus folge jedoch nicht, dass die Separation der Krim „null und nichtig“ und der nachfolgende Beitritt zu Russland eine „maskierte Annexion“ sei. Vielmehr habe es sich um eine Sezession (eine friedliche Abspaltung) gehandelt.
Reinhard Merkel schreibt: „‘Annexion‘ heißt im Völkerrecht die gewaltsame Aneignung von Land gegen den Willen des Staates, dem es zugehört, durch einen anderen Staat. Annexionen verletzen das zwischenstaatliche Gewaltverbot, die Grundnorm der rechtlichen Weltordnung. Regelmäßig geschehen sie im Modus eines ‚bewaffneten Angriffs‘, der schwersten Form zwischenstaatlicher Rechtsverletzungen. Dann lösen sie nach Artikel 51 der UN-Charta Befugnisse zur militärischen Notwehr des Angegriffenen und zur Nothilfe seitens dritter Staaten aus – Erlaubnisse zum Krieg auch ohne Billigung durch den Weltsicherheitsrat. Schon diese Überlegung sollte den freihändigen Umgang mit dem Prädikat ‚Annexion‘ ein wenig disziplinieren. Freilich bietet dessen abstrakte Definition auch allerlei irreführenden Deutungen Raum. Aus einer von ihnen scheint sich das völkerrechtliche Stigma ableiten zu lassen, das der Westen derzeit dem russischen Vorgehen aufdrückt und an dem er die eigene Empörung beglaubigt. Aber das ist Propaganda. Was auf der Krim stattgefunden hat, war etwas anderes: eine Sezession.“ (3)
Das ist für Nichtjuristen sicherlich verwirrend, zumal Reinhard Merkel dann noch zu weitergehenden Schlüssen kommt. Er vertritt die Auffassung, die völkerrechtswidrige russische Militärpräsenz habe zwar das zwischenstaatliche Interventionsverbot verletzt, „auch wenn gerade sie einen blutigen Einsatz von Waffengewalt verhindert haben mag“. Das mache aber „die davon ermöglichte Sezession keineswegs nichtig“, berechtige andere Staaten jedoch zu „Gegenmaßnahmen, zum Beispiel Sanktionen“. Merkel dazu: „Deren Verhältnismäßigkeit hat sich allerdings an ihrem tatsächlichen Anlass zu bemessen und nicht an einem fingierten Schreckgespenst: an einer militärischen Nötigung auf fremdem Staatsgebiet also, nicht aber einer gewaltsamen Annexion … Adressaten der Gewaltandrohung waren nicht die Bürger oder das Parlament der Krim, sondern die Soldaten der ukrainischen Armee. Was so verhindert wurde, war ein militärisches Eingreifen des Zentralstaats zur Unterbindung der Sezession. Das ist der Grund, warum die russischen Streitkräfte die ukrainischen Kasernen blockiert und nicht etwa die Abstimmungslokale überwacht haben.“ (4)
Die Gegenmeinung und eine Reaktion darauf
Eine „relativierende Einschätzung“, „brandgefährlich … alles andere als friedensfördernd“ und dazu eine „Aufweichung wichtiger völkerrechtlicher Grundsätze“ – so am 18. Mai 2018 der Leiter und Moderator des ARD-Politmagazins Monitor, Georg Restle, in einem Twitterdialog an den Journalisten Paul Schreyer, der ihn kritisiert hatte. (5) Damit befindet sich Restle im Einvernehmen mit der in Politik und Medien vorherrschenden Meinung. Er hat nach seinen Worten „miterleben müssen, wie die russische Oppositionsbewegung am 6. Mai 2012 in Moskau brutal niedergeknüppelt wurde oder was in Tschetschenien Putins Statthalter Kadyrow unter Demokratie und Menschenrechten versteht“. Das hat seine kritische Einstellung zu Russland offenbar maßgeblich beeinflusst.
Paul Schreyer hatte Restle aufgefordert, seine „massiven Anwürfe“ zu belegen, war jedoch keiner Antwort für würdig befunden worden. Daraufhin setzte er Reinhard Merkel in Kenntnis, der seine Position mit einem Beispiel für Nicht-Juristen nochmals konkretisierte und feststellte: „Dass die Tochter Krim zu Russland wollte, setze ich voraus, und warum das begründet ist, habe ich vorhin dargelegt. Russlands militärische Nötigung ist rechtswidrig gewesen; aber eine Entführung, eine Annexion, war es nicht.“ (6)
Mathias Bröckers, Schreyers Koautor des Buches „Wir sind die Guten“, nahm Restles scharfe Kritik und die Erwiderung Merkels zum Anlass, die Korrespondenz zu veröffentlichen. (7) Er findet Merkels Argumentation einleuchtend und ist überzeugt, dass es falsch ist, von einer „Annexion der Krim“ zu sprechen: „Wenn Journalisten und Politiker dies weiterhin tun, verbreiten sie Fake News – und wenn sie Kritik an ihren Fake News als ‚brandgefährlich‘ denunzieren, betreiben sie Propaganda.“
War der Anschluss der Krim an Russland völkerrechtswidrig?
Mit Reinhard Merkel stimme ich darin überein, dass die Abspaltung der Krim von der Ukraine keine Annexion, sondern eine Sezession, eine friedliche Separation gewesen ist. (8) Aber hinsichtlich der Einschätzung, dass die militärische Präsenz Russlands auf der Krim außerhalb seiner Pachtgebiete, also der begleitende Schutz des Referendums durch russische Soldaten, sowie die unmittelbare Anerkennung der Republik Krim durch Russland völkerrechtswidrig gewesen seien, bin ich anderer Meinung.
Erstens ist zu berücksichtigen, dass die Separation nach einem von den USA unterstützten blutigen Putsch in der Hauptstadt Kiew stattgefunden hat. Dass die USA bei diesem „Regime Change“ eine aktive Rolle gespielt haben, womit sich bereits Victoria Nuland gebrüstet hatte (9), bestätigte Barack Obama am 1. Februar 2015 in einem Interview bei CNN. Zur so genannten Annexion der Krim durch Russland sagte er: „Putin traf die Entscheidung in Bezug auf die Krim nicht etwa aus einer großen Strategie heraus, sondern einfach, weil er von den Protesten des Maidan und der Flucht von Janukowitsch überrascht wurde, nachdem wir einen Deal zur Machtübergabe ausgehandelt hatten.“ (10) Ob die ukrainische Verfassung danach überhaupt noch Geltung hatte, ist zu bezweifeln.
Zweitens darf nicht vergessen werden, dass die Krim ohnehin 171 Jahre zu Russland gehört hatte und 1954 von Chruschtschow – wie es heißt aufgrund einer Wodkalaune – unter Verstoß gegen die Verfassung der UdSSR an die Ukraine „verschenkt“ wurde, was seinerzeit jedoch nicht mehr bedeutete, als dass sie von einer Sowjetrepublik zu einer anderen kam. Außerdem hatten die USA mit ihrer NATO den russischen Flottenstützpunkt Sewastopol im Visier, auf dem Anfang 2014 legal etwa 20.000 Soldaten stationiert waren.
Drittens ist die Gefährdungslage der Krimbevölkerung nach dem Staatsstreich nicht zu übersehen. Hätte sich die Krim nicht der Russischen Föderation angeschlossen, sondern innerhalb der Ukraine von der Kiewer Putschregierung ihre Bürger- und Menschenrechte eingefordert, sähe es dort heute so aus wie in der Ostukraine: Bürgerkrieg mit zerstörten Städten und Dörfern, Tausenden Toten, Hunderttausenden Flüchtlingen.
Festzustellen ist: Es gab keine gewaltsame oder kriegerische Aneignung der Autonomen Republik Krim durch Russland, sondern nach dem Staatsstreich, der die Verfassung außer Kraft setzte, eine friedlich verlaufene Abspaltung (Sezession) von der Kiewer Ukraine, in dessen Parlament bis heute Faschisten sitzen. Es fand ein Referendum statt, eine Erklärung der staatlichen Unabhängigkeit und danach der Beitritt zur Russischen Föderation. Das ist unter Berücksichtigung der Ereignisse in Kiew nicht zu beanstanden. Ebenso wenig, dass in Sewastopol stationierte russische Einheiten die ordnungsgemäße Durchführung der Wahlen und ihren Flottenstützpunkt absicherten, nachdem bereits ukrainisches Militär einsatzbereit war und sich nationalistische Verbände aus dem Zentralstaat auf dem Weg in die Krim befanden. Die weit überwiegende russischstämmige Bevölkerung fürchtete zu recht ernsthafte Repressalien und Krieg. Bei einer Wahlbeteiligung von 83 Prozent sprachen sich mehr als 96 Prozent der Krimbewohner für den Anschluss an Russland aus. (11) So ein Ergebnis lässt sich nicht fingieren.
Wenn gemäß der UN-Charta – wie Reinhard Merkel schreibt – in einem Konfliktfall Notwehr des Angegriffenen und Nothilfe seitens anderer Staaten rechtens ist, kann das nach der Unabhängigkeitserklärung auch auf die Krim Anwendung finden. Denn von einem Konfliktfall war in der damaligen Situation auszugehen. In Kiew hatte es zahlreiche Opfer gegeben, ukrainische Einheiten und Nationalistenverbände waren bereit, auf der Krim zu intervenieren, und in der Ostukraine begann kurz darauf ein mörderischer Bürgerkrieg. Ein Verbot des Russischen als Zweitsprache wurde beschlossen (später zurückgenommen), die ehemalige ukrainische Ministerpräsidentin Julia Timoschenko hatte gedroht, sie wolle „dem Drecksack Putin in die Stirn schießen“ und „die russischen Hunde fertigmachen“. (12) und der Vorsitzende der rechtsextremen Swoboda-Partei, Oleg Tjagnibok, hatte dazu aufgerufen, „Russensäue, Judenschweine und andere Unarten“ zu bekämpfen. (13)
Insofern war die unverzügliche Aufnahme der Republik Krim in die Russische Föderation geboten, um ein Massaker an der russischstämmigen Bevölkerung auf der Krim zu verhindern. Auch die Anwesenheit russischen Militärs vor den ukrainischen Kasernen war während des Referendums erforderlich, um die Durchführung der Wahlen und damit das Selbstbestimmungsrecht der Krimbewohner und ihren Schutz zu gewährleisten – es war sozusagen eine humanitäre Intervention sui generis und somit völkerrechtskonform.
Unter Berücksichtigung der Fakten und aller Umstände sind die Sezession und der Anschluss der Krim an die Russische Föderation weder rechtlich noch sonst wie zu beanstanden. Der Begriff „Annexion“ ist auf diese Vorgänge nicht anwendbar und dient allein propagandistischen Zwecken.
Der Schriftsteller und Publizist Dr. jur. Wolfgang Bittner lebt in Göttingen. 2017 erschien von ihm im Westend Verlag in Frankfurt am Main das Buch „Die Eroberung Europas durch die USA – eine Strategie der Destabilisierung, Eskalation und Militarisierung“.
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