Ein Russisches Sommermärchen
Veröffentlicht in: Das kritische Tagebuch
Gert-Ewen Ungar
Es steht außer Frage, die Stimmung hier ist einzigartig. Wer sich an den Fußballsommer im Jahr 2006 in Deutschland erinnern kann, der hat in etwa eine Ahnung, was aktuell gerade in Russland passiert. Am Samstag bin ich aus Deutschland angereist. Man könnte es auch eine Flucht nennen. Eine Flucht vor einer erschreckend niederträchtigen Berichterstattung in den deutschen Medien gegenüber Russland. Noch in Deutschland habe ich mir am Tag der Eröffnung die Übertragung und das Rahmenprogramm in der ARD angeschaut. Ich war zutiefst erschrocken, zutiefst schockiert. Ein exklusiver Reisebericht aus Russland von Gert-Ewen Ungar[*].
Gert-Ewen Ungar ist während der Fußball-Weltmeisterschaft vor Ort in Russland und berichtet vor Ort für die NachDenkSeiten. Dies ist der erste Artikel unserer WM-Reihe.
Da stellte sich ARD-Moskau-Korrespondent Udo Lielischkies vor die Kamera und zeichnete das Bild einer Diktatur, sprach von Russen, die sich nicht trauen, vor der Kamera ihre Kritik an der Regierung zu äußern. Dabei, das müssten Udo Lielischkies und die Seinen selbst bei guter Abschirmung in ihrem Moskauer ARD-Studio inzwischen aufgefallen sein: die Breite des Sagbaren in Russland ist deutlich weiter als in Deutschland. Russland diskutiert deutlich freier als Deutschland. Es gibt dafür zahlreiche Gründe. Einer davon ist, dass es den deutschen Verlagen und Medienanstalten tatsächlich gelungen ist, in Deutschland die Meinungsvielfalt kaputt zu sparen.
Jedenfalls ist die deutsche Berichterstattung gegenüber Russland inzwischen eine absolute Unverschämtheit. Sie ist eine Unverschämtheit gegenüber Russland und den russischen Bürgern, aber sie ist auch eine Unverschämtheit gegenüber Deutschland und seinen Bürgern, da der einseitige und einfach grottenschlechte Journalismus sie über bedeutende Entwicklungen im größten Land Europas in Unkenntnis lässt, ja sogar absichtlich fehlinformiert.
So floh ich am Samstag vor all der Niedertracht und stellte bereits am Flughafen in Sankt Petersburg fest: Es gibt auch Fußballübertragungen ohne Propaganda. Eine bunte Menge versammelte sich in einem Restaurant vor einem Monitor und fieberte mit den kontrahierenden Mannschaften. Der Kommentator des russischen Fernsehens kommentierte ausschließlich das Spiel und nicht die Politik. Kein Seitenhieb, keine böswillige Unterstellung, keine Überheblichkeit. Es war wohltuend. Entgegen aller Vorwürfe scheint mir, dass es Deutschland ist, das die WM zur Agitation nutzt. Russland tut es nicht.
Ich fliege weiter nach Moskau. Ich bin gern in dieser größten europäischen Metropole. Es mag in Propaganda geschundenen deutschen Ohren seltsam klingen, aber ich fühle mich dort freier. Das enge Deutsche, der Hang zum Totalitarismus, den wir offenbar haben und der sich aktuell ganz deutlich beispielsweise in der Makroökonomie auslebt, findet sich dort nicht. Es ist die große Gelassenheit gegenüber der Andersartigkeit, die mich beeindruckt. Wo wir als Deutsche missionieren und belehren, gibt Russland Raum zur Entfaltung und Erprobung. Das ist eine große Tugend, die uns völlig fehlt.
Domodedovo ist einer der drei Moskauer Flughäfen und mein Zielflughafen. Er steht heute ganz im Zeichen der FIFA. Alles ist bunt, alles ist lebendig, alles noch ein bisschen quirliger als sonst. Für den nächsten Monat werde ich bei meinem Freund Pawel unterkommen.
Für den Abend verabreden wir uns mit Freunden. Wir treffen uns für einen Bummel durch die Innenstadt am Puschkin-Platz. Wir treffen Dima und seinen Partner Anton. Sie leben zusammen. Beide sind ganz angetan von der Atmosphäre, von der an diesem frühen Abend bereits Moskau getragen wird. Das letzte Vorrundenspiel ist noch nicht zu Ende, doch die Innenstadt Moskaus ist bereits sehr gut besucht. Überall sind Fans zugegen.
Dima spricht von Völkerverständigung, wie wichtig es ist, sich kennen zu lernen. Ich habe das Gefühl, nicht nur für ihn wird hier gerade eine große Idee Wirklichkeit. Es mag ein Erbe der Sowjetunion sein: Noch heute glauben Russen in einem ganz anderen Ausmaß als wir an die Notwendigkeit von Austausch und Begegnung zwischen den Nationen und Kulturen. Frieden ist Ergebnis der Begegnung von konkreten Menschen.
Wir besuchen ein Restaurant. Es gibt typisch russisches Essen, Pelmeni, Bortsch. Ganz dem Klischee entsprechend, stoßen wir mit Wodka an. Es gibt unglaublich viele Vorurteile über Russen und Russland, eins der wenigen, an dem etwas Wahres dran ist, ist das Vorurteil mit dem Wodka. Man kommt nicht um ihn herum. Das Restaurant ist nahe an seiner Grenze, es ist ein beständiges Kommen und Gehen. Mexikaner, Argentinier, Deutsche. Meine russischen Freunde genießen mit mir die Atmosphäre. Ich glaube, ich interpretiere, es ist Wertschätzung, was sie fühlen und was sie in diesem Moment erfüllt. In mir steigt Freude auf. Ich freue mich für Russland. Die Wertschätzung ist verdient.
Auch die Straße füllt sich, es wird gesungen und getanzt. So ausgelassen habe ich Moskau noch nie erlebt. Wir gehen auf die Straße, lassen uns vom Treiben mitreißen. Überall Landesflaggen. Eine zieht in besonderer Weise meine Aufmerksamkeit auf sich. Es ist die syrische Flagge. Ich frage die junge Frau, die die Flagge hält, ob sie aus Syrien sei. Sie bejaht. Woher ich sei, will sie wissen. Aus Deutschland. Ihr warmes Lächeln kühlt merklich ab. Wir haben uns durch unserer Positionierung offenkundig nicht nur Freunde gemacht.
Warum mit der russischen Flagge, frage ich. Russland hilft uns im Kampf gegen den Terrorismus. Hier eröffnet sich einem Satz eine ganz andere Sicht auf die Vorgänge in Syrien. Eine, von der wir in Deutschland durch die Verweigerung der deutschen Medien, echten Journalismus zu liefern, gut abgeschirmt sind. Doch die Position hat ihre Berechtigung hat. Unser Diskurs ist sehr verengt.
Ich würde das mit meiner syrischen, russischsprachigen Gesprächspartnerin gerne weiter vertiefen, aber es ist offenkundig weder der Ort noch die Zeit, das zu tun. Der Strom zieht uns weiter. Wir besuchen zunächst eine, dann eine weitere Gay-Bar in der Moskauer Innenstadt. Auch hier dreht sich alles um Fußball. Dima wird mit jeder Minute euphorischer.
Was die FIFA mit seiner Stadt machen würde, war ihm bisher nicht klar. Wer kann es auch wissen, ohne es erlebt zu haben? Doch auch andere wissen die FIFA zu nutzen. Zu Beginn der Weltmeisterschaft, ein bisschen verborgen im Schatten der Berichterstattung über Fußball, erhöht die Duma das Renteneintrittsalter für Männer auf 65 Jahre, für Frauen auf 63 sowie die Mehrwertsteuer deutlich. Es ist, als würde die Politik überall auf der Welt auf die Weltmeisterschaft warten, um unpopuläre Maßnahmen durchzusetzen. Auch wenn man das natürlich kritisieren muss, in Deutschland ist es nicht anders. Was wurde im Schatten der WM 2006 nicht alles durchgesetzt?
Die Erhöhung des Renteneintrittsalters findet im Rahmen der von Putin nach seiner Wiederwahl ausgerufenen Entwicklungsoffensive statt, die unter anderem zum Ziel hat, die Armut in Russland zu halbieren, die Lebenserwartung weiter zu erhöhen, die Bildung und Infrastruktur auszubauen. Man kann darüber diskutieren, ob die Maßnahme zum Ziel führt, braucht dafür aber saubere Informationen. Diese zu liefern ist der deutsche Journalismus derzeit allerdings nicht in der Lage. Wir müssen uns daher ehrlicherweise aus der Diskussion heraushalten. Uns hat der deutsche Qualitätsjournalismus ja schon dahingehend informiert, dass Homosexualität in Russland verboten ist. Wer diesem Text bis hierher folgte, weiß, wie falsch das ist, und fragt sich hoffentlich, wie diese breite Streuung einer Fehlinformation passieren konnte.
In Bezug auf Russland jedenfalls ist den deutschen Medien nicht zu trauen. Das ist gefährlich. Denn wenn nachweislich die Informationen zu einem Thema falsch sind, sind sie es mutmaßlich zu anderen Themen auch und das Vertrauen erodiert massiv, vor allem aber berechtigt. Dies allerdings ist der aktuelle Zustand des deutschen Mainstreams. Er befindet sich in Erosion.
Doch er kann aus eigenem Antrieb die Fehlentwicklung nicht korrigieren. Die Berichterstattung über die Fußball-WM in Russland ist stehender Beweis.
Inzwischen ist es drei Uhr morgens. Dima ist auf den Geschmack gekommen und möchte mehr, ich dagegen kann nicht mehr. Pawel bestellt ein Taxi, wir fahren nach Hause, Dima zieht mit einer Freundin weiter in die Mono-Bar, eine Gay-Disco. Wir sitzen in einem Taxi und fahren durch Moskau. Ich schaue aus dem Fenster – ich liebe diese Stadt, ihre Vielfalt und ihr Potential. Ich wünsche Russland aus tiefem Herzen ein Fußball-Sommermärchen und die Erfüllung all seiner Träume, denn ich weiß: sie sind friedfertig.
[«*] Gert-Ewen Ungar: Ein Anagramm, das bei unserer Abifeier im Jahr 1988 entstand und das ich seitdem nutze, wenn ich Kreatives produziere. Mit meinem ersten Reisebericht über Russland wurde dieser Name einem breiteren Publikum bekannt.
Ich studierte Philosophie und Germanistik in Frankfurt am Main, lebe in Berlin und arbeite als Pädagoge in der Sozialpsychiatrie. Seit 2014 reise ich häufig nach Russland und berichte über meine Erfahrungen dort. Ich schreibe regelmäßig für RT Deutsch.
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