Aus: junge Welt Ausgabe vom 08.07.2016, Seite 12 / Thema
Russophobie als ideologische Waffe
Gedanken anlässlich des deutschen Überfalls auf die UdSSR vor 75 Jahren
Von Manfred Weißbecker
Im Russischen Haus der Wissenschaft und Kultur in Berlin (RHWK) fand am 15. Juni das Kolloquium »Vor 75 Jahren. Der Überfall des faschistischen Deutschlands auf die Sowjetunion – Beginn des Großen Vaterländischen Krieges der Völker der UdSSR – Sachverhalte – Wertungen« statt. Der Historiker Manfred Weißbecker hielt dort einen Vortrag unter dem Titel »Russophobie in der ideologischen Kriegsvorbereitung der deutschen Faschisten«. junge Welt dokumentiert den Beitrag in gekürzter und redaktionell bearbeiteter Form. (jW)
Viele Historiker haben unwiderlegbar nachgewiesen, dass dem vor 75 Jahren entfesselten Krieg gegen die UdSSR verschiedene Pläne zugrunde lagen. Diese bezweckten die Gewinnung von »Lebensraum«, die Vorherrschaft des deutschen Faschismus auf dem europäischen Kontinent und eine deutsche Weltmachtstellung. In Russland sollte die »jüdisch-bolschewistische Führungsschicht«, sollten die Juden und ein großer Teil der slawischen Bevölkerung ermordet werden. An dieser Stelle soll im Rückblick auf die Vorgeschichte des 22. Juni 1941, auch auf die Rolle ideologischer Faktoren eingegangen werden. Diese ist bislang wenig berücksichtigt, geschweige denn umfassend erörtert worden. Ich wage zu behaupten: Ohne eine Analyse solcher Aspekte lassen sich wesentliche Abläufe in der Vorbereitung auf den Krieg kaum erklären. Ohne sie kann es außerdem auch in der Gegenwart nicht gelingen, bereits in Gang gesetzte militärischen Abenteuer zu verhindern.
Zumindest größere Teile der Bevölkerung müssen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, seit proklamierter Volkssouveränität und praktiziertem Parlamentarismus – wie es so unschön im Politsprech heißt – »mitgenommen« werden, um herrschen, Kriege vorbereiten und führen zu können. Massen in einem solchen Sinne zu beeinflussen, das gelang bekanntlich immer und immer wieder. Nicht zuletzt mit Hilfe der Medien, die sowohl Stimmungen erzeugen als ihnen auch entsprechen, die indessen oft genug als eine massenpsychologisch wirksame »Kriegswaffe« dienten und es noch immer tun. Wie sagte schon Heinrich Heine: »Die Macht der Großen existiert zuvörderst in den Köpfen der Kleinen.«
Konstruierte Feindbilder
Um Menschen »mitnehmen«, um dumpfe Massenloyalität schaffen zu können, wird seit jeher ein enormer ideologischer und politischer Aufwand betrieben. Dazu gehört insbesondere die Konstruktion von Feindbildern, die den »Guten« die »Bösen« gegenüberstellen, die Menschen anderer Art und Lebensweise diskreditieren, ja sogar dämonisieren. Gern werden dafür sogenannte anthropologische Gesetzmäßigkeiten bemüht.
So verkündete Heinrich Himmler am 12. November 1935, der Kampf zwischen Menschen und »Untermenschen« sei eine »geschichtliche Regel«. In einer auch vor 80 Jahren herausgegebenen Schrift des SS-Hauptamtes beim Reichsführer SS hieß es erläuternd: »Der Untermensch – jene biologisch scheinbar völlig gleichgeartete Naturschöpfung mit Händen, Füßen und einer Art von Gehirn, mit Augen und Mund, ist doch eine ganz andere, eine furchtbare Kreatur, ist nur ein Wurf zum Menschen hin, mit menschenähnlichen Gesichtszügen – geistig, seelisch jedoch tieferstehend als jedes Tier. Im Inneren dieses Menschen ein grausames Chaos wilder, hemmungsloser Leidenschaften: namenloser Zerstörungswille, primitivste Begierde, unverhüllteste Gemeinheit. Untermensch – sonst nichts!«
In diesem schrecklichen Nationalismus und Rassismus wurde auch Russophobie überdeutlich. Diese betrachte ich als eine Erscheinungsform von allgemeiner Fremdenfeindlichkeit. Der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer definiert sie als ablehenende, ausgrenzende oder feindliche Haltung gegenüber Personen oder Gruppen, die als andersartig gesehen werden. Ursachen für den Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion zu beleuchten, verlangt also auch Generelles zu erörtern und von der Tatsache auszugehen, dass es Xenophobie schon lange in der deutschen Geschichte gegeben hat – in unterschiedlicher Ausformung und wechselnder Intensität. Sie bot stets ein bis zu offener Feindschaft und Gewaltbereitschaft reichendes und völlig negatives Bild von Gruppen, denen bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. Dabei unterstellten russophobe Grundstimmungen den Russen, eigentlich allen Slawen, einen naturgegebenen, also unveränderbaren Charakter. Nationale Eigenheiten erscheinen vorrangig als genetisch bedingt. Alles Russische, so wird auch heute noch behauptet, entstamme vor allem byzantinischer Orthodoxie und tatarischem Despotismus. Es verkörpere »barbarisches« Asiatentum. Zudem weise es eine generelle Bereitschaft zu tyrannischen Herrschaftsformen auf und führe kontinuierlich zu aggressiven Expansionsgelüsten, gerichtet gegen ein Europa, dem Russland nicht zugehöre.
Russophobie tritt indessen nicht allein in ethnischem Gewande auf. Rassistisch-biologistische Argumentation und sozialpsychologisch-nationalistische Erklärungsmuster überlagern sich oft auch mit religiösen, vor allem christlichen Motiven. Und sie kommt ebenso in antikommunistischer bzw. einer sogenannten antitotalitären Gestalt daher. Bekanntlich trat aber an die Stelle der primär antikommunistisch geprägten Russophobie nach dem Zusammenbruch der UdSSR wieder das allgemeinere Feindbild Russland.
Natürlich gehört zur Geschichte deutscher Russlandbilder – darauf ist hier ausdrücklich und nicht nur nebenbei zu verweisen – ebenso Gegenteiliges, was mit dem oftmals verwendeten Begriff Russophilie möglicherweise unzureichend benannt wird. Zwischen beiden gab es stets ein Hin und Her, wobei die eigenen Interessen im Vordergrund standen, auch wenn diese als Reaktion auf vermeintliche oder reale Aktionen russischer Politik dargestellt wurden. Die Ambivalenz spiegelt sich selbst in häufig gebrauchten Schlagworten wider, die oft genug zugleich Schlachtrufe waren. Wer kennt nicht das Bild vom »russischen Bären«, in dem sich einerseits Anerkennung von kraftvoller Stärke paart mit einem nahezu liebevollen Hinweis auf das »Mütterchen Russland« und die »russische Seele«, das aber andererseits ebenso für x-beliebige Bedrohungsszenarien Angst und Furcht vor dem zähnefletschenden Untier zu bewirken vermag. Bekannt ist ebenso das »Rätsel Russland«, ferner die auf asiatische Gefahren verweisende und im Grunde bereits rassistische Redewendung, dass, wenn man am Russen kratze, ein Tatar zu finden sei. Ähnliches kann auch von den häufig verwendeten, Herablassung ausdrückenden Bildern »barbarisches Russland« oder »Koloss auf tönernen Füssen« bzw. von den abwertenden Adjektiven »blindgläubig«, »primitiv«, »faul«, »schmutzig«, »verschlagen« und »trunksüchtig« gesagt werden. Alles in allem: Es waren fatale Wirkungen, die sowohl sogenannten Dritten Reich als auch in der BRD ausgelöst wurden und werden, wenn von »den Russen«, die da »kommen« würden, die Rede war bzw. ist.
Der Weg zum Krieg
Welche Rolle die Russophobie für den Weg zum Krieg gegen die UdSSR gespielt hat, sei hier in der gebotenen Kürze in drei thesenartig formulierten Punkten angedeutet sowie durch einige Bemerkungen zu ihrem Wirken im Krieg ergänzt.
Eine erste These: Eine durchaus faschistisch zu nennende Russophobie ist nicht erst seit 1933, auch nicht erst seit der Gründung der NSDAP im Jahre 1920 festzustellen. Bekanntlich vollzog sich bereits am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine rigorose Abkehr von Idealen der Verständigung und Zusammenarbeit mit Russland. Sie machte die lange Tradition des regen Austausches und Miteinanders auf kultureller und wissenschaftlicher Ebene vergessen, drängte diese in den Hintergrund und verbannte sie aus dem »Zeitgeist«. Alles fiel im damaligen Deutschen Reich imperialistischen Bestrebungen und den Bemühungen kriegswilliger Eliten zum Opfer. Der angestrebte »Platz an der Sonne« ließ sich nur auf Kosten anderer erreichen, und der Spruch vom »deutschen Wesen«, an dem die Welt genesen solle, ließ einen völkischen, d. h. einen sich terroristisch und rassistisch gebärdenden Nationalismus erkennen, gerichtet insbesondere gen Osten.
Für die damalige Wende sei ein kleines, jedoch symbolträchtiges Beispiel benannt: Im ersten Jahr des Weltkrieges schuf ein deutscher Künstler eine Medaille, die den nackten Hindenburg mit erhobenem Schwert stehend über dem darniederliegenden »russischen Bären« zeigt. Damit sah sich der Sieger in der Schlacht von Tannenberg (einer Schlacht des Ersten Weltkriegs zwischen deutschen und russischen Truppen, die südlich von Allenstein in Ostpreußen stattfand und vom 26. August bis 30. August 1914 dauerte, jW) als »Befreier Ostpreußens« glorifiziert. Die Art der Darstellung ließ indessen auch den Willen zur Vernichtung Russlands, aber auch der anderen Konkurrenten erkennen. Auf millionenfach verbreiteten Ansichtskarten und Plakaten hieß es: »Jeder Tritt ein Britt«, »Jeder Stoß ein Franzos«, und »Jeder Schuss ein Russ«.
Lange also vor Hitlers Einzug in die Politik ist eine sich faschisierende Russophobie erkennbar. Als sich 1917/18 Gelegenheit bot, in Brest-Litowsk dem besiegten und revolutionserschütterten Russland einen Frieden zu diktieren, machten sich unter deutschen Militärs und Politikern außerordentlich expansionistische und zugleich menschenfeindliche Herrschaftsgelüste breit. General Erich Ludendorffs Pläne für ein Friedensdiktat von 1917 umfassten sogar weit mehr als das schließlich in Brest Erreichte und zielten – vor Hitler also – auf ein deutsches Ostreich. Wäre sein Forderungskatalog durchsetzbar gewesen, hätte dies nach dem Urteil des Ludendorff-Biographen Manfred Nibelin nichts anderes »als die Errichtung der deutschen Herrschaft über Osteuropa« bedeutet.
Die Berliner Ostpolitik jener Zeit offenbarte zudem noch anderes: Zum einen wurde die sowjetrussische Forderung nach einem Frieden ohne Annexionen mit der These unterlaufen, es sei kein Landraub, würden sich russische Gebiete doch »freiwillig« Europa anschließen; Verzeihung – Europa heißt es ja heute, damals war nur von einem Anschluss an das Deutsche Reich die Rede. Ob aus eigenem Antrieb oder unter Zwang – für das Verhalten in den besetzten Ostgebieten gegenüber der Bevölkerung, insbesondere gegenüber den Juden, spielte dieser vermeintliche Unterschied übrigens keine Rolle. Was von deutschen Truppen in den damals als »Ober-Ost« bezeichneten Gebieten praktiziert worden ist – angestachelt auch durch antisemitische Äußerungen des Kaisers – gilt in vieler Hinsicht als ein »Vorspiel zum Holocaust«.
Ebenso entlarvend klang jene Begründung, mit der 1917 Hindenburg die faktischen Annexionen rechtfertigte: Sie seien notwendig, um »für den nächsten Krieg gegen Russland den Raum für die Bewegung des linken deutschen Flügels« sichern zu können. In solcher Russophobie steckte mehr als das eigene Überlegenheitsgefühl, eher ein expansionistischer Sieges- und Herrschaftswille, auf jeden Fall der, sich die Ressourcen fremder Gebiete nutzbar zu machen, koste es, was es wolle. Begleitet wurde der »Drang nach Osten« von einer weit verbreiteten Vorstellung von einem immerwährenden feindlichen Gegensatz zwischen Slawen und Germanen sowie von einem »unvermeidlichen Endkampf« zwischen ihnen, den 1912 auch Wilhelm II. als »Rassenkampf« prophezeit hatte.
Expansionsstreben der Konzerne
Meine zweite These besagt: Russophobie basierte letztlich auf den Konzepten einer »Ostexpansion« deutscher Großkonzerne, deren Größenwahn bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach dem Urteil des Historikers Karsten Heinz Schönbach selbst das spätere Hitlerregime habe kaum noch übertreffen können. Selbst dessen Antisemitismus gab es bereits im politischen Bewusstsein großer Unternehmer. Ohne das russophobe Denken früher völkischer und konservativer Theoretiker ist auch Hitlers Russlandpolitik undenkbar. Insbesondere lässt sich das angedeutete Russlandbild preußisch-deutscher Militärs nicht anders denn als präfaschistisch, terroristisch und barbarisch-rassistisch charakterisieren. Aus taktischen Gründen aber bezeichnete die NSDAP in den ersten Jahren ihrer Existenz den Vertrag von Brest-Litowsk als »vorbildlich«. Solche Argumentation entsprang der Auffassung, man müsse hauptsächlich gegen das Versailler Diktat der Westmächte vorgehen. Daher konnten sich in der NSDAP kurzzeitig sogar sogenannte nationalbolschewistische Stimmungen Gehör verschaffen.
Es könne nicht oft genug betont werden, so tönte Joseph Goebbels Anfang 1926, dass »uns noch viel weniger mit dem westlichen Kapitalismus verbindet als mit dem östlichen Bolschewismus«. Russland sei »der uns von der Natur gegebene Bundesgenosse gegen die teuflische Versuchung und Korruption des Westens«. Gregor Strasser, bis 1932 Vorstandsmitglied der NSDAP und Wortführer des sich als antikapitalistisch gerierenden Flügels der Partei, hatte da schon eine Debatte zum Thema »Russland und wir« eröffnet und für eine prorussische Einstellung seiner Partei die Parole ausgegeben: »Das deutsche Mitteleuropa – im Kampf gegen den Westen, mit vorläufiger Unterstützung des Ostens!« Aber, man beachte: vorläufig. Und es ging keineswegs nur um Mitteleuropa – denn so Goebbels im Originalton: »Ich bin Deutscher! Ich will, dass Deutschland die Welt ist.« Wohlgemerkt, das wurde Mitte der 20er Jahre formuliert.
Es war gerade das deutsche Groß- beziehungsweise Weltmachtdenken, das wesentlich zur Entfesselung des Ersten Weltkrieges beigetragen hat und auch nach der Niederlage bei großen Teilen wirtschaftlicher, politischer sowie geistiger Eliten dominierte. Es wirkte wegbereitend für die Nazis und bei diesen zu der Symbiose von »Lebensraum«-Gewinnungszielen und einer regelrechten Verteuflung Russlands. Das Bild des Landes, mit dessen Hilfe Hitler in dem langen Kapitel »Ostorientierung oder Ostpolitik« seines Buches »Mein Kampf« die Eroberung von russischem Terrain im Osten rechtfertigte, ging von vorhandenen russophoben Vorstellungen aus. Diesen ordneten sich politische und ideologische Sichtweisen zu, wenn nicht gar unter. Das von Hitler bereits in »Mein Kampf« sowie am 3. Februar 1933 vor deutschen Generälen formulierte Ziel der Kolonialisierung Russlands durch die Deutschen prägte schließlich nahezu alle Russlandbilder des deutschen Faschismus – unabhängig von allem taktierenden und zeitweise friedensdemagogischen Verhalten gegenüber der als »jüdisch-bolschewistisch« charakterisierten Sowjetunion.
Eroberung und Vernichtung
Meine dritte These: ideologisch grundierte Phobien gehen generell Hand in Hand mit politischem Aktionismus. Sie verlangen gleichsam kategorisch gewaltsames Handeln. Geforderte Abwehrreflexe paaren sich mit angebotenen Lösungswegen, die angeblich zu Erfolgen führen, würde man nur aktiv und konsequent genug handeln. So sprach Alfred Rosenberg, Chefideologe der Nazis, schon früh von Russland als einer Apfelsine, die zu verspeisen gelänge, würde sie in einzelne Teile zerlegt.
Ohne bereits den »Plan Barbarossa« oder den berüchtigten »Generalplan Ost« im Auge gehabt zu haben, entfaltete sich seit Mitte der 20er Jahre das feindselige, rassistisch-militant und antibolschewistisch geprägte Russlandbild der Nazis als ein konstitutiver Bestandteil ihres künftigen Eroberungs- und Vernichtungskurses. Ihr antibolschewistischer Propagandakrieg der 1930er Jahre verknüpfte sich dann eng mit einer auf den angeblichen Volkscharakter bezogenen pejorativen Argumentation. Da wurde von einer »rassisch-völkischen Bedingtheit der bolschewistischen Revolution« geredet. Da wurde behauptet, in Russland sei eine Vermischung von »nordisch bestimmte(m) Charakter« und »mongolisch-asiatischen Instinkten« vor sich gegangen, wodurch das Wesen des Russentums geprägt worden sei. Da hieß es, im Laufe der Zeit habe sich eine »Bastardisierung« der angeblich charakterschwach gewordenen Russen vollzogen. Und immer wieder tauchte auch das »Argument« auf, die Russen seien dank ihres »Zerstörerinstinkts« nicht zu staatenbildender Kraft in der Lage gewesen. Sie hätten also, um bedeutsam zu werden, einer Vorherrschaft von Normannen und Deutschen bedurft.
So absonderlich und abstrus diese antibolschewistische Propaganda auch gewesen sein mag, ihre Inhalte drangen tief in die Köpfe der meisten Deutschen ein. Kritisches Nachfragen wurde rigoros unterbunden. Den Nazis gelang es, ihre von nationalistisch-rassistischer Selbstüberhebung und verbrecherischer Aggressivität gekennzeichneten Feindbilder massenwirksam zu machen. Sie verstärkten und vertieften damit die in den Köpfen bereits vorhandene Russophobie. Da störten schließlich auch jene Verwirrungen und Dissonanzen nicht, die es in Deutschland rund zwei Jahre nach dem Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes am 23. August 1939 gab. Von einem Tag zum anderen brach für Mitglieder und Anhänger der NSDAP zwar ein Weltbild zusammen, doch es wurde nicht durch ein anderes ersetzt. Goebbels notierte in sein Tagebuch, die Frage des Bolschewismus sei »im Augenblick von untergeordneter Bedeutung«, man sei in der Not und fresse »des Teufels Fliegen«. Rosenbergs Beamte mahnten im November 1939, es sei nicht nötig, antibolschewistische Literatur »voreilig aus dem Buchhandel zurückzuziehen oder sie sogar einstampfen zu lassen«. Die Arroganz ließ allerdings selbst in der Zeit der unmittelbaren Vorbereitung des Überfalls auf die UdSSR nicht einmal ansatzweise ein realitätsnahes Russlandbild zu. Forderungen nach »zuverlässiger« Berichterstattung wurden nach wie vor abgeblockt. Das, was im sogenannten Dritten Reich als »Sowjetforschung« betrieben wurde, verbaute der Naziführung selbst jeden einigermaßen realistischen Blick auf Russland. Manches sollte sich bekanntlich rächen. Hass macht eben blind!
Abschließend ist zu sagen, dass die Russlandbilder der Nazis zu einem Abschnitt der deutschen Geschichte gehören, der mit der Befreiung der Völker vom Joch faschistischer Herrschaft und Kriegführung endete, dass die Niederlage der Aggressoren zwar total geriet, doch eine vollständige Überwindung der hier behandelten Denkschemata bis heute noch nicht erfolgt zu sein scheint. Hasserfülltes und Verdammendes, auf jeden Fall Einseitiges lässt sich wieder vernehmen, Tag für Tag.
Manches hat sich zwar im Laufe der Zeiten geändert, abgemildert und – wie einige meinen – sogar kultiviert, doch generell ist immer zu berücksichtigen, dass das, was einmal in der Welt war, weiter existiert und wirkt, oft unterschwellig oder heuchlerisch überdeckt. Es lässt sich auch relativ leicht abermals zu Tage fördern. Die sogenannte Qualitätspresse und vermeintliche »Alphajournalisten« spielen dabei eine wesentliche, kaum zu unterschätzende Rolle. Natürlich nicht allein sie: Medien machen Stimmungen, aber sie treffen auch auf solche. Meinungen werden gefordert, doch sie spiegeln auch vorhandenes Verlangen. Massenmedien ermöglichen indessen kollektive Ängste, lassen aus Angst vor Fremden Fremdenfeindlichkeit erwachsen und mobilisieren animalische Denk- und Verhaltensweisen. Schließlich kann selbst eine nur latent vorhandene Russophobie Wegbereiter sein für eine Außenpolitik, die manche Kritiker bereits als einen faktisch geführten »Krieg gegen Russland« bezeichnen. Der wieder entfachte Kalte Krieg wird durch militärische Manöver unmittelbar vor russischen Grenzen noch verstärkt. Man mag sich nicht ausmalen, wie so einer weltweiten Katastrophe Tür und Tor geöffnet werden könnten.
Nichts hebt daher die politisch-moralische Pflicht auf zu prüfen, ob und, wenn ja, wie sich Grundkonstanten russophober Auffassungen in heutiger Zeit äußern, in welchen Varianten und Verschleierungen und wo auch immer. Und es sei als eine Erfahrung, gewonnen in jüngster Zeit, formuliert, dass Debatten dringend notwendig sind über das angeblich höchste Gut der Meinungsfreiheit, dessen offizielle, ja sogar höchtsrichterliche Deutung alles zu erlauben und zu dulden scheint, was erwiesenermaßen selbst Kriegsvorbereitung und Kriege ermöglicht hat. Ich meine, es sollten endlich strikte Grenzen gesetzt werden für die Verbreitung rassistischer Behauptungen und fremdenfeindlicher Klischees. Zumindest sollte mit dem Blick zurück eindringlich vor jeder Verwendung tradierter Stereotype und realitätsferner Bilder gewarnt werden.
Jede vernünftige politische Bildungsarbeit, verlangt auch von Historikern, würde ich sogar hauptsächlich daran messen wollen, wie sie die kritische Auseinandersetzung mit diesen betreibt und wie sie hilft, Wege zu einer konstruktiven und hoffentlich auch erfolgreichen Friedens- und Sicherheitspolitik zu finden. Denn deren Ziele können nicht ohne oder gar gegen Russland erreicht werden, nicht konfrontativ, sondern nur kooperativ und partnerschaftlich.
Manfred Weißbecker schrieb an dieser Stelle zuletzt am 20.6.2016 über den Volksentscheid für eine entschädigungslose Enteignung der deutschen Fürsten am 20. Juni 1926.
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