(II)
Ein Kessel ERLESENES (6-10)
Gehortete
Zitate aus der schönen Literatur, die ich sehr mag, geschrieben von
gerne gelesenen Autoren, sowohl aus der Belletristik als auch aus
politischen Streitschriften. In loser Folge ab sofort in meinem Blog
nachzulesen. Warum? Weil die Textauszüge oftmals Dinge benennen, die
aktueller nicht sein können. Wer mag, leiste sich das geistige
Vergnügen.
(10)
Kazimierz Brandys: „Briefe an Frau Z. Erinnerungen aus der
Gegenwart 1957-1961“, Verlag Volk und Welt, 2. Auflage 1974.
Lebenssinn,
S.113:
Die
Woge der amerikanischen Zivilisation hat dem westlichen Europa neue
Spannungen, Raum- und Zeitraffungen gebracht, den Boom und die
geistige Laizisierung, gestützt auf das wundertätige System der
Fließbandproduktion und -technik – sie schuf jedoch gleichzeitig
eine neue psychische Rutschbahn, die mit der Vernichtung des
Lebenssinns, dem Verlust des Lebensziels, der Leere im Herzen droht.
Die kosmetisierten Greisinnen hinter Lenkern aus synthetischen
Massen, die wie Elfenbein aussehen, heben gern einen und sind nicht
glücklich. (…) Die neue Literatur ist eine Auflehnung – nicht
gegen Heuchelei, Not oder Ausbeutung, sondern gegen die Wirklichkeit,
die nicht mehr genügt. In der saturierten, organisierten,
zweckbestimmten Existenz verbirgt sich die Angst vor den Fehlern
eines Ziels, und, sagen wir es, damit die Rechnung stimmt., auch die
Angst vor den Zielen, die sich die Ideologie stellt.
Interesse
am Mitmenschen, 319:
Jawohl,
die meisten Zeitgenossen kümmern die fachlichen, beruflichen
Qualifikationen des Menschen mehr als seine psychische Qualität. Sie
fragen nicht, wie er ist, sondern was er macht.
(9)
Hajo Herbell: „Herztöne. 19 kurze Texte und eine wahre
Geschichte“, NORA Verlagsgemeinschaft Dyck & Qwesterheide
(2002)
Zweifel,
Seite 71/72:
Ich
habe sie ja, ich habe meine Ideale, meine Vision, wenn Sie so wollen,
bis heute nicht dahingegeben. Aber Zweifel? Du liebe Güte, wer hätte
angesichts vieler realsozialistischer Praktiken nicht zweifeln
sollen. Gewiss, diese gab es auch, die vom Zahn des Zweifelns nicht
genagt wurden oder werden, schlichte Gemüter, Langsamdenker oder
Garnichtdenker, es tut mir leid, vielleicht sind es ja gute und
wohlmeinende Menschen, aber von beschränkter Urteilskraft sind sie
trotzdem. (…) Ohne Intelligenz und ohne Zweifel ist eine moderne
sozialistische Politik überhaupt nicht denkbar. Zweifel, Abwägen,
Nachdenken, Absage und die unermüdliche Suche nach Neuem,
Zeitgemäßem, dem zur Politik werdenden vielzitierten Gebot der
Stunde, das ist nicht die Absage an einen sozialistischen Standpunkt,
sondern es ist aller Wahrscheinlichkeit nach der einzige
sozialistische Standpunkt, der in der Welt von heute denkbar ist.
Verdummung,
Seite 50:
Sehen
wir nicht, wie die Neunte selbst aus den Silvesterprogrammen mehr und
mehr zurückgenommen wird? … sie wird verfratzt abgeleiert als
sogenanntes Europa-Signal? Und wir hören sie angewidert als den
Sound von Fernsehwerbungen für Käse oder Hygieneartikel. Wir sind
Zeugen dafür, wie an die Stelle des Gesprächs, auch der
Kontroverse, des produktiven Streits das nervtötende
Durcheinanderreden der Talk-Runden tritt, an die Stelle einer
nachdenklichen Unterhaltung zwischen zwei oder mehreren Leuten das
Chatten. Nicht mehr die Aufklärung, die Ratio, der gesunde Verstand
regieren die Stunde, sondern die Verdummung, Esoterik, Köhlerglaube,
Wundermänner, Handleser und Missionare von Ersatzreligionen erleben
Hochzeiten. Weil sie die Gegenwart nicht verstehen und die Geschichte
schlecht kennen, auch nicht wissen, wo die Kräfte ruhen, an denen
man sich aufrichten kann, fliehen viele in die Finsternis der
Vor-Vorzeiten, der Apokryphen, der Prophezeiung des Weltuntergangs
(…).
(8) Fritz Raddatz: „Unruhestifter“, Erinnerungen, List Taschenbuch, Ullstein Verlage, 2. Auflage 2006
Unruhestifter, S. 436:
Die Bundesrepublik ist zwar als Staatsform eine Republik; aber sie ist es ihrer inneren Verfasstheit Moral, Geistigkeit, ihrer politischen Hygiene nach nie gewesen. Sie hat die Nazizeit so wenig ´bewältigt` wie die Weimarer Republik die Kaiserzeit; beide Staaten übernahmen den komplett erhaltenen Beamten-, Militär- und Wirtschaftsapparat des alten Staates. Beide Staaten übernahmen den alten Gefühlshaushalt und Wertekatalog. Beide Staaten waren/sind innen morsch.
Seite 240: Für die Menschen zumindest meiner Generation war Geld nicht der Maßstab, es bestimmte nicht den Lebenshorizont. Verwirklichung fand in der Arbeit statt. (…) Träume galten nicht dem Haben, sie galten dem Sein.
Unruhestifter, S. 436:
Die Bundesrepublik ist zwar als Staatsform eine Republik; aber sie ist es ihrer inneren Verfasstheit Moral, Geistigkeit, ihrer politischen Hygiene nach nie gewesen. Sie hat die Nazizeit so wenig ´bewältigt` wie die Weimarer Republik die Kaiserzeit; beide Staaten übernahmen den komplett erhaltenen Beamten-, Militär- und Wirtschaftsapparat des alten Staates. Beide Staaten übernahmen den alten Gefühlshaushalt und Wertekatalog. Beide Staaten waren/sind innen morsch.
Seite 240: Für die Menschen zumindest meiner Generation war Geld nicht der Maßstab, es bestimmte nicht den Lebenshorizont. Verwirklichung fand in der Arbeit statt. (…) Träume galten nicht dem Haben, sie galten dem Sein.
(7)
Daniil Granin: „Garten der Steine. Reisebilder“, Verlag Volk und
Welt, Berlin, 1973
Rebellion
der Jugend, Seite 134:
Sie
rebellieren gegen das Spießertum. Rebellion – was anderes haben
sie nicht im Sinn. Rebellion ohne besondere Ideen, ja ganz ohne
Ideen. Sie scheuen sich nach dem Sinn des Lebens zu suchen, nach
Idealen, die dann doch vom Leben verunstaltet werden. Sie denken etwa
so: Lügt euch ruhig was vor, aber ohne uns. Wir spielen nicht mit.
Diese Welt lässt sich nicht verändern. (…) ...wir tanzen, lasst
uns in Ruhe!
(6)
Tschingis Aitmatow: „Abschied von Gülsary“, „Der weiße
Dampfer“, „Über Literatur“, Verlag Volk und Welt, Berlin 1974
Entideologisierung,
Seite 364:
(Aus
der Rede zum 100. Geburtstag Gorkis)
Und
schon wieder begehen Menschen an Menschen neue Bestialitäten, jetzt,
in dieser Minute, in dieser Sekunde... (Aitmatow bezieht sich hier
auf den Vietnam-Krieg, H.P.) In diesem Ringen der Welten, in diesem
Brodeln der Geschichte, inmitten des Chaos und Wirrwarrs unter einem
Teil der westlichen Intelligenz, der Desillusionierung und
Ratlosigkeit unter dem anderen, angesichts offener Appelle zur
„Enthereoisierung“ und „Entideologisierung“ der Kunst,
angesichts der Zweifel am menschlichen Verstand und der Behauptung,
daß der Mensch „inkommunikabel“ sei mit seinesgleichen und
seiner dinglichen Umwelt, angesichts der versteckten und unverhüllten
Bemühungen , dem Menschen das Bewußtsein seiner Menschen- und
Bürgerpflicht zu rauben, um so sein Verantwortungsgefühl zu
zerstören inmitten der hemmungslosen Verherrlichung der Gewalt, der
niedrigen Instinkte und des Universalmodells vom berüchtigten
„Übermenschen“, entgegen dem betäubenden Boom
„massenproduzierter“, „kommerzieller“, „industrieller“
und sonstiger Erzeugnisse von „Superkultur“, mit deren Hilfe die
Widersprüche vertuscht, die Spießer aber beruhigt und übertölpelt
werden sollen , als Fanal gegen all diesen Krampf ertönt immer
wieder von unserem Ufer die nie verstummende Stimme Gorkis: „Mit
wem seid ihr, Meister der Kultur?“
Ideenlosigkeit,
Seite 357:
(Aus
der Rede zum 400. Geburtstag Shakespeares)
In
den positiven Helden Shakespeares finden wir eine unendliche Tiefe
der menschlichen Seele, die jeden Rahmen sprengt. (…) Ich denke,
das muß im Zusammenhang mit dem Shakespeare-Jubiläum auch deshalb
erwähnt werden,, weil es im Westen Versuche gibt, Literatur und
Kunst zur Ideenlosigkeit zu verleiten, zur Absage an die
erzieherische Wirkung des positiven Helden im Buch und auf der Bühne,
zur abstrakten Darstellung der Wirklichkeit. (…) Zweifellos, seit
Shakespeare hat sich auf unserem Planeten vieles verändert. Doch das
Wesen der Kunst und ihre berufung sind gleich geblieben: den
Interessen des Volkes zu dienen, den Menschen und das Leben wahrhaft,
realistisch darzustellen.
Belesenheit,
S. 348:
(Aus
einem Artikel)
Bildung,
Belesenheit, ein weiter Horizont, die Fähigkeit, bildhaft zu denken
– all das ist ein wichtiges Fundament, es reicht aber nicht aus.
Nur wer die komplizierten Lebensprozesse gründlich und selbständig
zu analysieren gelernt hat, kann zu einem Künstler mit ausgeprägter
Individualität werden.
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