Ein politisches
Tagebuch von Jo Menschenfreund
Buchtipp von Harry Popow
Jeder hat seine eigene Sicht, aber nicht jeder sieht
etwas, das besagt ein polnischer Aphorismus. Die Politik macht es uns vor,
jeder quasselt auf Teufel komm raus, mehr oder weniger substanzreich. Meist
weniger. Unsere Zeit aber benötigt Sehende, Nachdenkliche, Handelnde, kritische
Sichten. Licht ins Dunkel zu bringen, Klartext zu sprechen - das ist eine Frage des Überlebens geworden
auf diesem Planeten Erde, eine Frage des Charakters, des zielgerichteten politischen
Kampfes. So wie das in linksgerichteten fortschrittlichen Zeitungen, in
online-Beiträgen und vereinzelt in Parteien geschieht. Das neueste erfeuliche
Beispiel: Das 461 Seiten umfassende Buch von Jo Menschenfreund (Pseudonym) mit
dem Titel „Mein Leben in der Piratenpartei 2012“.
Jo Menschenfreund ist Gründer der AG Friedenspolitik
und zum Zeitpunkt der Erstellung des Buches einer der für drei Monate gewählten
Sprecher des basisdemokratisch organisierten „Sozial Progressiven
Piratenkreises“ innerhalb der Piratenpartei. Zu seinem Buch meint er, es sei keine
vollständige Geschichte der Piratenpartei, er beschreibe lediglich Vorgänge und
Erlebnisse „aus der subjektiven Sicht eines engagierten Aktivisten…“
Doch Skepsis ist angebracht. Da sollte man sich schon angesichts
der bisherigen politischen Unterprofilierung dieser anfangs in der Gunst der
Wähler nach oben geschnellten Piratenpartei fragen, welche Sicht auf die Partei
und auf die Welt Jo Menschenfreund hat?
Welche Vorstöße unternimmt der Autor, um sich und damit auch die Partei fester
zu positionieren? Welche Spuren nimmt er auf?
Ins Auge
fällt, mit wie vielen Themen sich der Autor auseinandersetzt. Da geht es laut
Inhaltsverzeichnis u.a. um das Innenleben der Piratenpartei, um
Basisdemokratie, um Rassismus, um das Grundgesetz, um die Manipulation durch
die Medien, um die Bankenkrise, um die Antideutschen und deren versuchtes
Eindringen in die Piratenpartei, um Nazis, um Friedenspolitik, um Terrorismus,
um Menschenrechte, um Drohnen, um Verschwörungstheorien. Es geht um Erwartungen,
Hoffnungen, Initiativen, Auseinandersetzungen, Enttäuschungen und Aussichten. Drei
der wesentlichen Themenkomplexe möchte der Leser besonders ins Auge fassen: Krieg,
Europa und Antiimperialismus.
Auf den insgesamt 461 Seiten finden sich etwa 222
Vokabeln zum Krieg. Will man Wörter suchen, die die Ursachen von Kriegen markieren,
dann gibt es fünfmal die Bezeichnung Monopol, 30 mal das Wort Imperialismus
(das man in den bürgerlichen Medien kaum findet), dreimal das Wort Ausbeutung,
einmal die Vokabel Mehrwert. Nach solchen Wörtern wie Privateigentum,
Eigentumsverhältnisse und Profitmaximierung sucht man allerdings vergeblich.
Bereits
im Vorwort positioniert sich der Autor: Er wolle eine politische Programmatik mithelfen
zu entwickeln, „die eine moderne Friedenspolitik im 21. Jahrhundert dem Konzept
des ´Recht des Stärkeren` aus der Zeit als wir
noch in Höhlen wohnten, gegenüber stellt.“ Braucht er dazu Mut? Er beantwortet
sich die Frage selbst: Nur wenige würden sich trauen, öffentlich auszusprechen
was sie denken, wurde dies doch über Jahrzehnte als "kommunistisch"
oder "sozialistisch", als "Spinnerei" oder "weltfremd"
bezeichnet, bzw. besonders neuerdings als „antisemitisch“, „rechts“ oder „Querfront“.
Jo belegt
diese Aussage zusammenfassend: „Alle Welt spricht von den ca. 3.000 Toten durch
den Terroranschlag von 9/11. Und die toten US-Soldaten aus dem Irak- und
Afghanistankrieg werden einzeln als Helden geehrt. Schon viel weniger denken an
die über 1,75 Millionen nicht US-Bürger, die durch die Kriege zu Tode kamen.
Noch weit weniger reden von den tausenden, vielleicht zehntausenden von
missgebildeten Kinder durch Uranmunition 619. Und niemand spricht von den
Millionen, die körperlich und / oder seelisch schwerstverletzt wurden, die ihr Leben
lang an der Bürde eines Krieges zu tragen haben. Und wieder hört man in
Deutschland, dass Krieg ´auch mal notwendig sei´. Man hört, dass es
einen ´gerechten Krieg´ gäbe. Man erklärt uns, dass Deutschland ´seinen
Beitrag leisten müsse.´ Man erklärt uns, dass wir den Menschen helfen
müssten ´sich zu befreien´. Was nichts anderes bedeuten soll, als sich
unseren Idealen, unserem Weltbild anzupassen. Was automatisch bedeutet, dass
wir Krieg als ewigen Begleiter akzeptieren sollen.“ (S. 448)
Der Autor
und Pirat weiß ebenso wie Millionen andere Bürger: Enttäuschungen türmen sich
nur dann auf, wenn sie sich aus Illusionen nähren, aus Gläubigkeit und
politischem Unwissen, in Verkennung der wahren Ursachen für imperialistische
Machtansprüche. So ist das auch mit den anfänglichen Jubelschreien zur EU. Jo
meint, die Piraten würden ja sagen zur Europäischen Union, wollen aber
anmerken, die EU-Einheit solle als langfristiges, basidemokratisch vorbereitetes
Projekt beginnen. Aber vollkommen unabhängig von der derzeitigen Geldordnungs-
und Finanzkrise. Dem widerspreche, das legt der Autor dar, dass es Profiteure
der heutigen Krise gebe. Und diese sollten zuallererst herangezogen werden.
Wörtlich: „Wenn diese Unternehmen ihre Last dem Staat, also jedem einzelnen
Bürger, aufbürden, müssen Sie auch ihr Eigentumsrecht abgeben.“ (S. 109) Auf
Seite 110 ergänzt er: „Wir dürfen uns nicht wegen einer Krise, in die uns die
Elite der Gesellschaft manövriert hat, dazu bringen lassen, überhastet und
übereilt in eine neue Gesellschaftsordnung einzutreten, in der noch stärker
Eliten das Sagen haben und Einfluss nehmen werden. Wodurch mehr Sprengstoff
entsteht, als wir derzeit durch die Finanzkrise angehäuft sehen.“
Was
unternimmt ein vernunftbegabtes Wesen, um sich eine eigene Orientierung zu geben, um sich weitgehend unabhängig von
den Nebelschwaden verbreitenden bürgerlichen Medien zu machen? Jo
Menschenfreund tut das, indem er sich die Frage stellt, ob er sich einen
Antiimperialisten nennen könne. Auf Seite S.198/199 schreibt er: „Nachdem man mich auf Twitter einen ´Piraten-Ober-Antiimperialisten´
genannt und aus dem Grund geblockt hatte, wollte ich der Sache nachgehen, was
denn einen ´Antiimperialisten´ heutzutage überhaupt ausmachte. Und so kaufte
ich mir das Büchlein ´Mit Kapitalismus ist kein Frieden zu machen´ der
Linksjugend Hamburg, um mich auf den neusten Stand zu bringen.“ (Mit Kapitalismus ist kein Frieden zu machen, Christine Buchholz/Stefan
Ziefle ed.al, www.papyrossa.de ISBN
978-3-89483-504-0)
In der Einleitung des Büchleins werde darauf hingewiesen, so Jo
Menschenfreund, wie die Konsequenzen, die aus dem zweiten Weltkrieg gezogen
worden waren, nämlich „NIE WIEDER KRIEG“ und „NIE MEHR FASCHISMUS“
längst der so genannten „Realpolitik“ geopfert wurde. Krieg sei wieder
zu einem Mittel der Interessenvertretung geworden, nur klüger verpackt in Rechtfertigungen.
„Und selbst wenn diese sich nachträglich als Lügen herausstellen, funktioniert
es beim nächsten Krieg wieder wie immer.“
Auf Seite 201 zieht der Pirat Jo Menschenfreund für sich das Fazit: Wer sich mit Friedenspolitik beschäftige, komme um das Thema Imperialismus
und Antiimperialismus und auch die Frage einer linken Ideologie nicht herum.
Für ihn erschließe sich, dass er wohl tatsächlich ein Antiimperialist sei. Auf
Seite 403 fährt er fort: „Aktive Friedenspolitik im oben dargelegten Sinn ist
m.E. die einzige Chance, die die Menschheit hat, um mit steigenden
Bevölkerungszahlen und schwindenden Ressourcen, sich zu einer friedlichen und
nachhaltig wirtschaftenden Gesellschaft zu entwickeln. Wenn der Wert der
menschlichen Arbeit und das Engagement der Menschen für Rüstung und Kriege
verschleudert wird, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass der nächste Jahrhundertwechsel
einen großen Teil der Menschheit wieder in Höhlen leben sieht. Nachdem
Millionen und Milliarden qualvoll zu Tode kamen.“
Das Fazit
des Rezensenten: „Mein Leben in der Piratenpartei 2012“ sollte ein Lehrbuch
sein, wie man nicht nur „basisdemokratisch“ mitspielt in der Piratenpartei,
sondern ernsthaft darum ringt, seine eigene politische Position zu erlangen und
zu festigen. Die Vielfalt der Interessengebiete, die der Autor ins Spiel bringt
und sich damit auseinandersetzt, zeugt von einer hohen kulturellen und
politischen Bildung, von einem erstrebenswerten Drang, über sich selbst
hinauszuwachsen, durch eifriges Suchen ein Sehender und aktiv Handelnder zu
sein.
…doch
nicht jeder sieht etwas? Jo Menschenfreund gehört nicht zu denen, die sich
verschaukeln lassen.
„Mein
Leben in der Piratenpartei 2012“ von Jo Menschenfreund, epubli-Verlagsgruppe
Holtzbrinck, 27,90 Euro, Hardcover, DIN A5 quer, 464 Seiten, Erscheinungsdatum:
31.12.2012
Blog
des Autors: http://jomenschenfreund.blogspot.com
Erstveröffentlichung der Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung
Mehr
über den Rezensenten: http://cleo-schreiber.blogspot.com
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