„Und
Frieden auf Erden“ – aber nicht in Palästina
Eine ganz
unsentimentale Betrachtung eines Nichtchristen zum Weihnachtsfest
2018
Arn Strohmeyer
„Frieden auf Erden und
den Menschen ein Wohlgefallen“, rufen die Engel in der
Weihnachtsgeschichte des Lucas-Evangeliums. Und in den Kirchen wird
wieder von den Kanzeln die frohe Botschaft von Maria und Josef und
dem Jesuskind in der Krippe im Stall von Bethlehem mit großem Pathos
verkündet. Aber mit dem Frieden ist es in dem Land, das angeblich
das „Heilige“ ist und in dem die Engel sangen und die Hirten ihre
Zeugen gewesen sein sollen, so eine Sache. Wirklichen Frieden hat es
dort selten gegeben, Palästina war in seiner Geschichte immer wieder
umkämpft, es wurde erobert, erneut umkämpft und immer wieder
erobert. Vor fast 140 Jahren kamen die letzten Eroberer nach
Palästina – zionistische Siedlerkolonialisten, die den dort
lebenden Arabern das Land wegnahmen und nach vielen Jahren dauernden
Kämpfen ihren Staat errichteten. Seitdem herrscht im „Heiligen
Land“ permanenter Kriegszustand, Willkür, Besatzung,
Unterdrückung, Terror, Ausnahmezustand…
Und die
Weihnachtsgeschichte? Auch von ihr ist außer viel gefühlvoller
Innerlichkeit bei denen, die glauben (besonders in Deutschland) und
milliardenschwerem Konsum nicht viel geblieben. Selbst Theologen
halten die Erzählung von Jesu Geburt im Stall von Bethlehem für
eine historisch wertlose, weil frei erdachte Legende. Sie ist von
ihren Autoren aus rein theologischem Interesse heraus erfunden
worden, um alttestamentliche Weissagungen erfüllt zu sehen: dass aus
Bethlehem der Messias hervorgehen wird, der über Israel herrschen
soll (Micha 5,1).
Das Weihnachtsfest
entbehrt also jeder historischen Grundlage, auch die so bekannten
Erzählungen, die mit ihm im Zusammenhang stehen sollen
(Volkszählung, Kindermord, Geburt im Stall, die Ankunft der heiligen
drei Könige, Flucht nach Ägypten) sind ein Konglomerat aus
Geschichtsirrtümern, Wunschdenken und Dogmatik. Das Hauptfest der
Christen gründet sich zur Gänze auf Legenden. Hier sind nicht
einzelne Punkte verändert oder erfunden worden, hier ist ein ganzer
Kranz von Legenden, geschichtlich wertlos, jedoch von großer
historischer Beständigkeit und weit reichender Wirkungsgeschichte
aus frommer Fantasie erfunden worden. (der Theologe Heinz-Werner
Kubitza)
Und der himmlische Appell
für Frieden? Die Weltgeschichte war trotz oder gerade auch wegen
Jesu Botschaft eine ununterbrochene Kette von Kriegen und
Gewalttätigkeiten, die viel Not und unendliches Leid für die
Menschheit gebracht haben – bis heute. Wirklichen Frieden hat es
immer nur vorübergehend in kurzen Epochen gegeben, zumeist waren es
nur Waffenstillstände. Das Christentum hat so gesehen in seiner
Geschichte wenig zum Frieden in der Welt beigetragen. Gerade in
Palästina hat es – denkt man etwa an die Kreuzzüge – schwere
Verbrechen begangen und so große Schuld auf sich geladen. Im Namen
des christlichen Gottes waren die europäischen Ritter ausgezogen,
das „Heilige Land“ zu erobern. Was sie darunter verstanden, war
klar: entweder die muslimischen „Heiden“ mit dem Schwert zum
rechten Glauben zu bekehren oder sie schlicht auszurotten. Ströme
von Blut sind bei diesem Unternehmen geflossen. Die Araber haben
diese ihnen von Christen zugefügte Katastrophe nie vergessen und
sehen sie als Vorgeschichte der bis heute andauernden westlichen
Aggression und Gewalt gegen den Nahen und Mittleren Osten an.
Denn Jahrhunderte später
hat der Kolonialismus der christlichen Staaten (England und
Frankreich) durch seine verhängnisvolle Politik im Orient und
besonders auch in Palästina Verhältnisse geschaffen, die die Region
bis heute in Unruhe und Chaos halten. Die christlichen USA stehen in
der Tradition dieser Politik und stützen den
siedlerkolonialistischen Staat Israel, haben ihn zur militärischen
Vormacht in der Region gemacht und verhindern so jeden Ansatz zu
einem gerechten Ausgleich der Interessen.
Der Beitrag der Kirchen zu
einem Frieden dort ist eher bescheiden zu nennen. Immerhin unterhält
die katholische Kirche Beziehungen zu den Palästinensern und
befürwortet die Zwei-Staaten-Lösung in Palästina. Die
protestantische Kirche ist aber die Gefangene ihrer eigenen
Nach-Auschwitz-Theologie, die besagt, dass sie die heutigen jüdischen
Israelis immer noch als die authentischen Nachkommen des
alttestamentarischen „Volkes Gottes“ ansieht, diese also das
Recht auf das Land haben, die Palästinenser spielen in diesem
Szenario überhaupt keine Rolle. Die in den USA sehr mächtigen
Evangelikalen sehen die Gründung Israels 1948 als wichtiges Zeichen
der Endzeit an, das darauf hinweist, dass Christus als Messias
wiederkommen, die Menschheit in einen letzten Kampf (Armageddon)
führen und die Welt dann in Frieden regieren wird. Sie unterstützen
Israel deswegen mit beträchtlichen Geldmitteln und sind begeisterte
Anhänger der Trumpschen Nahost-Politik. Positiv erwähnt werden muss
aber, dass christliche Menschenrechtsgruppen beider großen
Konfessionen sich sehr engagiert für einen Frieden in
Israel/Palästina einsetzen.
In einer Zeit, in der das
Wertbewusstsein dafür, was Frieden eigentlich bedeutet, offenbar
weitgehend verloren gegangen ist, weil Machtpolitik und ökonomische
Interessen das Weltgeschehen dominieren, muss man die Frage nach dem
Sinn von Frieden wieder neu stellen, was heißt, man muss den
biblischen Friedensapell aus der mythischen in die säkulare Sprache
übersetzen und fragen: Was kann Frieden heute noch bedeuten, und wie
ist er möglich beziehungsweise warum ist er unmöglich – vor allem
in Palästina? Bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage kommt
man um die große Zeit der Aufklärung und ihren deutschen
Hauptvertreter Immanuel Kant (1724 – 1804) nicht herum.
Ausgangspunkt seiner
Überlegungen zum Problem des Friedens sind zwei Festlegungen: seine
Definition der Aufklärung und daraus folgend sein Bild vom Menschen:
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst
verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich
seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Und:
Jeder Mensch hat nach Kant den Anspruch sein Selbst-Zweck zu
sein, das heißt von jedem anderen auch als solcher geschätzt und
von keinem als bloßes Mittel zu anderen Zwecken gebraucht zu werden.
Das ist aber nur unter freien und gleichen Menschen möglich. Die
Würde des Menschen besteht also aus seinem Zweck-an-sich-selbst,
also niemals Mittel zu sein, das von anderen Menschen
gebraucht wird. Kant sagt es nicht so direkt, aber es ist klar, was
er meint: dieser Begriff vom Menschen schließt Gewalt über andere
Menschen in welcher Form auch immer (Krieg, Unterdrückung,
Ausbeutung) aus.
Auf dieser gedanklichen
Grundlage formuliert er die Bedingungen für eine Zukunft ohne
Gewalt: Nur eine staatsbürgerliche Ordnung (für Kant eine
„republikanische Verfassung“), zu der sich freie und gleiche
Menschen zusammengeschlossen haben, kann Frieden gewährleisten.
Zudem müssen sich Staaten (wie einzelne freie Menschen in der von
ihm angestrebten Republik) miteinander verbinden, um ihren
kriegerischen Eigensinn unter gemeinsame Kontrolle zu bringen und so
einen dauerhaften Frieden zu begründen. Hindernisse auf dem Weg zu
einem solchen Prozess sind vor allem die Gier zum
Immer-mehr-Haben-Wollen und das profitorientierte Handeln. Kant
schwebt so etwas wie eine Föderation freier, souveräner Staaten
(ein „Völkerbund“) vor, die sich nach einem gemeinschaftlich
verabredeten „Völkerrecht“ richten sollen. Er gibt sich aber
keinen Illusionen hin und weiß, dass zu einem solchen
„weltbürgerlichen“ Zustand ein langer, kontinuierlicher
Annäherungsprozess der Staaten nötig ist. Die Gedanken Kants und
anderer Aufklärer fanden dann auch in der UN-Menschenrechtscharta
aus dem Jahr 1945 ihren Niederschlag.
Was bedeuten Kants
Gedanken in Bezug auf Israel/Palästina? Der Philosoph aus Königsberg
hat (ohne ein Prophet sein zu wollen), einen klaren Hinweis gegeben,
warum es dort keinen Frieden gibt und warum er dort ganz
offensichtlich auch nicht möglich ist: weil es dort keine
Gesellschaft bzw. keinen Staat der Freien und Gleichen gibt, weil
dort Gewalt und die Unterdrückung von Menschen vorherrschen und weil
eben die Unterdrückten (die Palästinenser) gar keine Chance haben,
ihre Würde als Zweck-zu-sich-selbst zu leben, sie sind
lediglich Mittel der Repression eines siedlerkolonialistischen
Herrenvolkes. Und diese äußerst disharmonische Situation der
israelischen Gesellschaft mit ihrer Gier zum Immer-mehr-Haben-Wollen
(in diesem Fall das Land der Palästinenser) macht Israel zu einem
aggressiven Staat, für den Krieg der Normalzustand ist.
Der Kern und das Wesen des
Konflikts waren von Anfang an die zionistischen Ansprüche auf ein
arabisches Palästina und die sich daraus ergebenden Konsequenzen.
Israel ist eine Insel im riesigen arabisch-muslimischen Raum, die
sich der europäischen Zivilisation und Kultur und ihren Werten
zugehörig und verpflichtet fühlt. Aber wenn es denn idealiter so
etwas wie ein westliches Wertesystem im oben angeführten Sinne Kants
gibt, dann macht die israelische politische Realität mit ihren
Besatzungs- und Apartheidstrukturen deutlich, dass dieser Staat
zivilisatorisch und kulturell nicht zum Westen gehört. Und Israel
will diese Zugehörigkeit offenbar auch gar nicht oder nur
eingeschränkt, denn seine führenden Politiker betonen immer wieder,
dass man mit Menschenrechten und Völkerrecht im westlichen Sinne
nichts zu tun habe, weil der Zionismus (die israelische
Staatsideologie) seine eigenen Gesetze habe.
Aber nicht nur Israel
befindet sich da in einer eklatanten widersprüchlichen Situation,
sondern auch der Westen. Denn durch seine Duldung und sogar
Unterstützung der repressiven Strukturen Israels und dessen
ständigen kriegerischen Ausbrüchen stellt er sein eigenes
Wertesystem ebenfalls in Frage. Dazu gehört auch, dass der Westen
stillschweigend die israelische ahistorische Darstellung des
Konflikts akzeptiert: eben das Bild von den friedliebenden Israelis
und den friedensunwilligen, aggressiven Arabern, speziell den
Palästinensern.
Der deutsche Soziologe
Walter Hollstein schrieb schon 1972: „Die ungeschichtlichen
Erklärungsmuster des Nahost-Konflikts nützen Israelis wie auch dem
Abendland: Das erstere lässt dergestalt vergessen, dass der
Zionismus mit seinem Machtanspruch überhaupt erst die
Auseinandersetzung mit der arabischen Welt herausforderte; das
letztere kaschiert erleichtert, dass sein Antisemitismus am Ursprung
des Zionismus stand und also die andauernde Auseinandersetzung im
Nahen Osten wesentlich mitbedingte. So umgeht man bequem die Analyse
der wirklichen Ursachen des Nahost-Konflikts und akzeptiert das
Gesetz des Schweigens über diese schreienden Wahrheiten der
Geschichte.“
In der deutschen
Gesellschaft ist seit einiger Zeit eine sehr intensive Diskussion
über das „Böse“ entbrannt, womit die aggressiven, destruktiven
Anteile der menschlichen Seele gemeint sind. Die Debatte ist eine
Folge der zunehmenden Gewalt im nationalen oder internationalen
Rahmen: Kriminalität, organisiertes Verbrechen, Terrorismus, Kriege
usw. Die westliche Politik behauptet in diesem Zusammenhang (wie oben
bereits angesprochen), „wertorientiert“ zu sein, also für
Freiheit, Demokratie, Rechtstaat, Menschenrechte und Völkerrecht
einzustehen, was heißt: auf der Seite der „Guten“ zu sein. Die
„Anderen“ – etwa Putins Russland, Assads Syrien, der Iran, die
Hisbollah und die Hamas – sind die „Bösen“. Dass mit dem
Vorschieben von „Werten“ zumeist nur die eigenen Interessen
kaschiert werden, ist eine Binsenweisheit. Die katastrophalen
politischen Fehler des Westens (wie etwa Bushs völkerrechtswidriger
Irak-Krieg 2003) haben im Nahen und Mittleren Osten ein beispielloses
Chaos geschaffen, Hunderttausende sind dabei ums Leben gekommen –
und das Sterben geht weiter, weshalb die Menschen dort sehr wohl den
immensen Widerspruch zwischen den hehren westlichen
Freiheitsversprechen und den schrecklichen Folgen der westlichen
Realpolitik verstanden haben.
Und sie haben auch die
moralische Doppelbödigkeit der Propagierung der westlichen Werte
verstanden: Sanktionen gegen Russland, Syrien und den Iran, aber
jedes Wohlwollen und jede Unterstützung für Israel, dessen Gewalt-
und Landraubpolitik gegenüber den Palästinensern ein Hohn auf jede
Humanität ist. Und wenn der Westen (besonders Deutschland) immer
wieder gebetsmühlenartig sein Eintreten für Israels Sicherheit
betont, dann bedeutet das nichts anderes, als dass man gar nicht
daran denkt, die Besatzung und die Herrschaft über die Palästinenser
zu beenden. Und wenn diese Unterdrückten dann gegen dieses ihnen vom
Westen zugefügte Unrecht aufbegehren, dann sind sie die „Bösen“
bzw. die „Terroristen“, die man erst durch eine inhumane Politik
selbst geschaffen hat, um sie dann im Namen der „westlichen Werte“
bekämpfen zu müssen. Ein absurder Teufelskreis, der sich immer
weiterdreht, ohne dass Vernunft und Moral ihm Einhalt gebieten.
Natürlich befindet sich
Israel, obwohl es seit Jahrzehnten ein ganzes Volk brutal unterdrückt
(4,5 Millionen Menschen im israelischen Herrschaftsbereich haben
keine bürgerlichen und politischen Rechte und der Landraub für die
Siedlungen geht ungebremst weiter) und obwohl der zionistische Staat
seine Nachbarn (zur Zeit Syrien und den Libanon) nach Belieben
überfällt und attackiert, weil ihm nach dem Holocaust „alles
erlaubt ist“, steht er in den Augen des Westens auf Seiten der
„Guten“. Denkt man an die oben angeführten Kriterien von
Immanuel Kant, dann ist Israels politisches Handeln zutiefst
unmoralisch, ja „böse“. Aber an diesen Staat werden ganz andere
Maßstäbe angelegt, was wiederum die Glaubwürdigkeit des Westens,
sich auf seine Werte berufen zu können, völlig unterhöhlt.
Wie kann man das moralisch
„Böse“ der israelischen Politik beschreiben, um dieses Phänomen
psychologisch beziehungsweise psychoanalytisch besser zu verstehen?
Ganz allgemein lässt sich sagen (und diese Aussage trifft natürlich
nicht nur auf Israel zu, weil es sich hier um ein universales
menschliches Problem handelt): Das Böse gehört zur menschlichen
Natur, es existiert im Unbewussten jedes Individuums und Kollektivs,
wird aber nur dann destruktiv wirksam, wenn es als solches nicht
erkannt und nicht ins Bewusstsein gehoben wird, sondern im
Unbewussten weiter seine Wirkung entfalten kann. Dann kann das Böse
– abgetrennt von den positiven Anteilen der Psyche – eine
Eigendynamik entwickeln, indem es als Projektion auf die Außenwelt
gerichtet wird. Dabei handelt es sich um eine Form der Angstabwehr,
die Angstinhalte werden verschoben und damit zugleich verewigt. Das
eigene Böse wird dann auf den „Anderen“, den Gegner, den „Feind“
projiziert, dieser wird dämonisiert und stellt dann das dar, was man
selbst nicht sein will. Das auf den „Gegenüber“ oder „Feind“
übertragene Böse nötigt dann den Verdränger dazu, das Verdrängte
selbst zu werden und zu tun. (Natürlich gibt es auch das ganz
bewusst und vorsätzlich geplante und angewandte Böse, aber dieses
braucht zu seiner moralischen Rechtfertigung auch die Projektion, um
den „Anderen“ dämonisieren zu können.)
Das klingt sehr abstrakt
und theoretisch, trifft aber auf die israelische Situation genau zu,
was hier an drei Textbeispielen von jüdischen Autoren belegt werden
soll. So sieht die israelische Psychoanalytikerin Ruchana Marton in
der Mauer, die die Israelis zur Abschottung gegen die Palästinenser
gebaut haben, eine „metaphorische Blende“, deren Sinn und
Funktion es ist, die „Existenz des palästinensischen Volkes
insgesamt auszublenden“. Sie begründet das so: „Von einer
psychologischen Warte aus ermöglicht diese Blende es den jüdischen
Israelis, das Leid und die Menschlichkeit der Bewohner auf der
anderen Seite zu vergessen. (...) Ein brauchbarer Ansatz, einige der
psychologischen Mechanismen zu verstehen, die mit der Mauer zu tun
haben, ist das Prinzip der Spaltung. Es lässt zwei Extreme zu, die
Welt ist in ‚gut‘ und ‚böse‘ gespalten, ohne ein Mittleres.
Spaltung ist der primitivste Abwehrmechanismus, auftretend bei
übergroßer Verängstigung und einem Bedürfnis, unerträglich
starke positive und negative Emotionen voneinander zu trennen.
Ironischerweise fordert diese begriffliche Verarbeitung laufend
psychologische Energie und ist als Langzeitlösung nicht sehr
effektiv, denn die Ängste werden eher blockiert als erforscht,
verarbeitet und schließlich abgebaut.“
Weiter
schreibt Ruchama Marton: „Indem man sowohl die äußeren wie die
inneren Aspekte des guten Selbst vom bösen Selbst abspaltet, ist es
psychologisch möglich, die ungeliebten Teile des eigenen Selbst auf
den ‚Anderen‘, d.h. die Palästinenser, zu übertragen. Dann kann
man die projizierten Teile und Eigenschaften verachten, die ja nun
dem ‚Anderen‘ angehören. Die Trennmauer wird so ausschließlich
als Akt des Selbstschutzes wahrgenommen, als Schutz vor der wilden
Aggression, die man mit den Palästinensern assoziiert. Die Mauer
erlaubt dem zionistischen israelischen Kollektiv-Selbst, sich nicht
als aggressiv, gewalttätig, grausam, Besitz ergreifend, als
Verletzer von Menschenrechten zu sehen, indem alle diese Züge auf
die Palästinenser jenseits der Mauer projiziert werden.“
Die
Mauer ist also nicht nur eine physische Barriere, sie trennt auch –
in den Augen der Israelis – das fortschrittliche, zivilisierte und
demokratische Israel von den rückständigen, barbarischen und
gewalttätigen Palästinensern. Die Mauer erlaubt es den Israelis,
diese ‚Anderen“, die vor allem als „Terroristen“ und
Selbstmordattentäter wahrgenommen werden, ohne Empathie und
Miterleben des menschlichen Leids auszublenden. Ruchama Marton
schreibt: „Sie [die Mauer] ist undurchsichtig, um den Blick auf das
Elend und Leid auf der anderen Seite zu verhindern. Wäre sie
durchsichtig, könnten wir tatsächlich das beunruhigende Leid der
Menschen auf der anderen Seite sehen. Sie ist hässlich, denn sie
soll die Illusion stützen, auf der anderen Seite lebe ein böses,
ein hässliches Monster und keine normalen Menschen. Die
palästinensische Existenz jenseits gilt als minderwertig, hässlich,
schmutzig, gewalttätig und gefährlich.“ Durch diese Abschottung
und die Verweigerung des Blicks auf die andere Seite stumpfen die
Israelis aber auch selbst ab, denn sie spalten ja einen Teil ihrer
eigenen Psyche ab, die sie nicht mehr wahrnehmen. Das Getto kommt so
wieder und mauert auch die Israelis ein, soweit Ruchana Marton. Der
israelische Historiker Benny Morris vertritt genau diese Auffassung
einer Spaltung in „gut“ und „böse“, Er nennt die
Palästinenser „Barbaren“, „Serienkiller“ und „wilde
Tiere“. Man müsse sie einsperren, damit sie die Israelis nicht
umbringen könnten. Man müsse eine Art Käfig für sie bauen, um sie
darin wegzusperren.
Der israelische
Psychoanalytiker Ofer Grosbard bestätigt die Aussagen von Ruchana
Marton und bringt den Begriff der Paranoia in die Analyse ein. Er
schildert ausführlich die fatalen Folgen, die eine solche seelische
Disposition – die Projektion des eigenen Bösen auf den „Anderen“
– für den Einzelnen wie auch die Gesellschaft und die Politik des
Staates hat. Die Juden haben sich früh in ihrer Geschichte von den
anderen Völkern abgesondert, weil sie glaubten, dass sie vom
allmächtigen Gott ganz besonders und bevorzugt geliebt würden und
deshalb auserwählt seien. Grosbard schreibt: „Das jüdische Volk
hat sich über Jahre hinweg durch seine Unterschiedlichkeit und
Eigenheiten selbst von den Nachbarländern abgesondert. Die Isolation
birgt in sich selbst gleichzeitig Gefühle des Verfolgtseins und der
Überlegenheit. Da ich so großartig und wichtig bin, haben die
anderen einen Grund mich zu beneiden, zu verfolgen und zu hassen. Aus
der Psychopathologie wissen wir, dass Paranoia sich häufig mit
Größenwahn verbindet.“
Das jüdische Trauma, das
bis zur Paranoia gehen kann, ist angesichts der Geschichte dieses
Volkes mit all ihren Verfolgungen und Katastrophen ja auch durchaus
verständlich, auch wenn man hinzufügen muss, dass es in der
jüdischen Geschichte auch lange Perioden der Ruhe und des
friedlichen Zusammenlebens mit Nicht-Juden gegeben hat (das Gegenteil
zu behaupten, ist ein zionistischer Mythos). Die Angst ist aber
dennoch in der Seele jedes Juden tief verwurzelt. Grosbard schildert
alle Facetten dieser Angst, und wie eng sie mit der Paranoia
verschwistert ist – dem Gefühl der ständigen Bedrohung, auch wenn
diese gar nicht real vorhanden ist. Der in Israel allgegenwärtige
Satz „Die ganze Welt ist gegen uns!“ ist der Beleg für den
Fortbestand dieses paranoiden Seelenzustandes. Der israelische
Psychoanalytiker legt dar, dass die Bedrohungsangst im Fall Israels
in erster Linie ein Phänomen des seelischen Innen und nicht des
Außen ist. Weil die Vergangenheit immer präsent ist, fällt es so
schwer, die gefühlte Bedrohung im Innen und die reale Bedrohung von
außen auseinanderzuhalten. Der Paranoide fühlt sich immer bedroht.
Der Paranoide schwankt
also zwischen Unsicherheit und Angst einerseits und
Selbstgerechtigkeit, dem Gefühl der Einzigartigkeit, Überheblichkeit
und Arroganz auf der anderen Seite. Eine solche Haltung verstellt
aber den Blick auf die reale Außenwelt, weil sie immer die schlimmen
Erinnerungen der Vergangenheit in die gegenwärtige Wirklichkeit
hineinzieht. Aus diesem Grund kann der Paranoide dem „Anderen“ in
seiner Realität nie wirklich begegnen, ohne das Gefühl der
Bedrohung auf ihn zu übertragen, was auch heißt, er kann die Schuld
für das eigene Tun nie bei sich selbst suchen, sondern immer nur
beim „Anderen“, was aber wiederum jede Übernahme von
Verantwortung ausschließt.
Der Paranoide ist deshalb
dem „Anderen“ gegenüber auch zu keiner Empathie fähig, worin
Grosbard den Grund für die offenbar unlösbare Feindschaft zwischen
Israelis und Palästinensern sieht. Erst wenn Israel bereit wäre,
die Leiden, die es den Palästinensern zugefügt hat, anzuerkennen
und zu einer Politik der Entschuldigung und Versöhnung fähig und
bereit wäre, könne es seine Paranoia überwinden. Die Alternative
ist die Fortsetzung von Gewalt und Krieg. Grosbard schreibt: „Solange
wir die Existenzberechtigung der Palästinenser leugnen und die
legitimen Rechte der Araber nicht anerkennen, werden wir keinen
Frieden haben. Solange wir nicht verstehen, dass wir aus ihrer Sicht
wie aus einer anderen Welt gekommen sind, ihr Land besetzt und sie
aus ihren Häusern vertrieben haben, solange wird es keine Versöhnung
geben.“
Die
amerikanisch-jüdische Philosophin Judith Butler verfolgt wie Ruchana
Marton und Ofer Grosbard auch einen psychoanalytischen Ansatz,
argumentiert ganz ähnlich, geht aber über deren Analysen hinaus,
indem sie einen Weg aufzeigt (vielleicht den einzig möglichen), wie
der Teufelskreis der Gewalt durchbrochen werden kann und so etwas wie
Frieden möglich würde. Israels Politik ist ihr zufolge vom
Holocaust angetrieben, was einerseits aus der jüngsten jüdischen
Geschichte heraus verständlich ist, andererseits wird dieses Trauma
von der offiziellen israelischen Politik aber ganz bewusst am Leben
erhalten und politisch instrumentalisiert. Letzteres ist deswegen
sehr gefährlich, weil das Trauma Wiederholungscharakter, ja
Wiederholungszwang hat. Judith Butler schreibt: „Das Trauma bricht
in die Gegenwart ein und zieht die Möglichkeit der Gegenwart in die
Vergangenheit hinein; die Traumatisierten werden damit in einer
ungewissen geschichtlichen Zeit festgehalten, in der diejenigen, die
traumatisches Leid zufügten, die eigene Welt erneut bevölkern und
die Möglichkeit einer anderen Zukunft verbauen.“
Es gibt
viele Beispiele, die das hier von Judith Butler Gesagte belegen: etwa
die vielen Nazi-Vergleiche, die israelische Politiker ständig
benutzen – so sind Nasser, Arafat und Ahmadinedschad immer wieder
mit Hitler gleichgesetzt worden. Jedem Politiker oder jedem Staat,
der Israel nicht wohlgesonnen ist (wie jetzt etwa der Iran) wird die
Planung eines neuen Holocaust unterstellt. Die Palästinenser werden
als die „neuen Nazis“ dämonisiert. Als Israels Truppen 1982
Beirut eingekreist hatten, verstieg sich der israelische
Ministerpräsident Menachem Begin zu der Aussage: „Ich fühle mich,
als hätte ich eine Armee nach Berlin geschickt, um Hitler im Bunker
zu vernichten.“ Israels Sicht auf das gegenwärtige politische und
militärische Geschehen ist also tief in der Vergangenheit verhaftet,
wodurch die aktuelle Realität ausgeblendet wird. Wenn die
Vergangenheit aber ständig in die Gegenwart hineingezogen wird, ist
die Wiederholung der selbst erlittenen Gewalt nun an anderen fast
unumgänglich, wenn jetzt auch unter anderen historischen Umständen
und nicht in der gleichen Weise des Vorgehens. Judith Butler schreibt
mit dem Blick auf Israel: „Wir müssen auch einsehen, dass niemand
kraft Geschichte von der Möglichkeit ausgenommen ist, selbst
Unterdrücker und Übeltäter zu werden.“
Was
aber kann man dem aus dem Trauma folgenden Zwang zur Wiederholung der
Gewalt entgegensetzen? Judith Butler sieht als einzigen Weg zum
Frieden nur die Notwendigkeit, Klarheit über den Unterschied
zwischen „damals“ und „heute“ herzustellen. Wenn das „Damals“
das „Heute“ beherrscht, muss dies zur Blindheit in und gegenüber
der Gegenwart führen. Die israelische Politik wird so gesehen nur
zum Frieden, also zur Anerkennung der Grundsätze von Gerechtigkeit,
Gleichheit und Achtung für Leben und die Wohnstatt der „Anderen“
finden, wenn sie zulässt, dass Distanz zur Vergangenheit geschaffen
wird, das heißt, wenn der Holocaust Vergangenheit wird, was nicht
vergessen heißen soll, sondern eine andere Art des Nichtvergessens
wäre. Erst dann – so Judith Butler – kann Israel aus der
Vergangenheit Lehren ziehen, die die Formulierung von Grundsätzen
humanen Verhaltens ermöglichen. Sie schreibt: „Das Trauma lässt
sich zwar nicht durch einen bloßen Willensakt aus der Welt schaffen,
aber man kann es so weit durcharbeiten, dass wir uns darüber klar
werden, wie es die Gegenwart in die Vergangenheit hineinzuziehen oder
vielmehr die Vergangenheit als Gegenwart zu wiederholen und
damit die Erfahrung der geschichtlichen Distanz zu übergehen droht,
jenes Intervalls, das wir brauchen, um Klarheit darüber zu gewinnen,
wie wir angesichts einer solchen Vergangenheit das Beste aus der
Gegenwart machen können.“
Das
wäre ein humaner Ansatz, in der so leidgeprüften Region Palästina
zu
einem wirklichen Frieden zu kommen. Aber dem stehen die harten
politischen Realitäten gegenüber. Die Israelis müssten nicht nur
ihr eigenes Trauma durch Verarbeitung überwinden, sondern sie
müssten auch das Trauma, das sie der anderen Seite (den
Palästinensern) zugefügt haben, anerkennen und sie um Vergebung
bitten. Ein solcher Schritt würde aber die Gründungsmythen und die
Grundlagen ihres ganzen staatlichen Projekts (des Zionismus) in Frage
stellen. Die Begründung einer anderen, neuen politischen Kultur (im
Sinne Kants und der UN-Menschenrechtscharta) wäre zur Bewältigung
dieser Aufgabe nötig, aber es gibt im heutigen Israel nicht einmal
einen Hoffnungsschimmer, dass sich die Politik in diese Richtung
bewegen wird. Denn dazu wäre ein Mentalitätswechsel (im Sinne des
biblischen metanoein = umdenken) nötig, aber solche Prozesse
nehmen viel Zeit in Anspruch oder finden gar nicht statt. Der Frieden
im „Heiligen Land“ wird deshalb noch lange eine Utopie bleiben.
Literatur:
Butler,
Judith: Am Scheideweg. Judentum und die Kritik am Zionismus,
Frankfurt/Main 2013
Geier,
Manfred: Aufklärung, Das europäische Projekt, Reinbek 2012
Grosbard,
Ofer: Israel auf der Couch. Zur Psychologie des Nahostkonfliktes,
Düsseldorf 2001
Hollstein,
Walter: Kein Frieden um Israels. Zur Sozialgeschichte des
Palästina-Konfliktes, Frankfurt/ Main 1972
Kant,
Immanuel: Werke, Darmstadt 2011
Kubitza,
Heinz-Werner: Der Jesus-Wahn. Wie die Christen sich ihren Gott
erschufen. Die Entzauberung einer Weltreligion durch die
wissenschaftliche Forschung, Marburg 2011
Rotchild,
Alice: Gebrochene Versprechen – geplatzte Träume. Geschichten von
jüdischen & palästinensischen Traumata und Unverwüstlichkeit,
Neu-Isenburg 2009
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