(Entnommen der Zeitschrift RotFuchs vom Mai 2014, Nr. 196)
Zwiegespräch
mit meiner russischen Mutter
Das
Mosaik in der Krypta
Langsam
gehe ich auf das große Denkmal zu. Treptow, 8. Mai 2012. Der Park.
Sonne und Maienduft. Seit Jahrzehnten war ich nicht mehr hier.
Eingesteckt habe ich ein Foto: unsere russische Mutter Tamara mit
Gästen aus der UdSSR. Sie kam 1935 aus Liebe nach Deutschland, unser
deutscher Vater lernte sie in der Sowjetunion kennen. Im Hintergrund
das Ehrenmal – irgendwann in den 70er Jahren. Dort in der Krypta
wurde sie verewigt – in einem Mosaik-Fries mit anderen sowjetischen
Männern und Frauen. 1949 war ich als 13jähriger mit ihr dort, kurz
nach der offiziellen Einweihung. In Erinnerung ist mir, daß sie
ihre rechte Hand auf die Schultern einer vor ihr stehenden Frau legt,
um diese zu trösten.
Ich
verlangsame meine Schritte. An meiner Seite geht Hans, ein guter
Bekannter. Er hat einen Lebensweg wie ich hinter sich. Der Befreiung
haben wir beide dadurch Nachdruck verliehen, daß wir unseren Staat
mit der Waffe in der Hand schützten. Humanität muß konsequent
verteidigt werden. Wir gehen die Stufen nach oben. Das Eisengitter
der Krypta ist geschlossen. Was nun? Stille. Andere legen Blumen ab.
Auch wir. Ich trete dicht ans Tor, Die Figuren vor uns sind gut zu
erkennen. Meine Mutter aber ist im Rondell ganz links abgebildet. Das
weiß ich noch von meinem ersten Besuch. Ich kann den Kopf nicht
durchs Gitter stecken, dafür aber meinen Fotoapparat. Ich richte ihn
wohl zu weit nach links, so daß mir die Aufnahme nicht gelingt.
Schade. Aber Hans versucht es ebenfalls ...
Plötzlich
träume ich: „Na, wie geht‘s, mein guter Junge?“ Mir stockt das
Herz. Was soll ich in aller Kürze antworten? Ihr, die sie sich stets
von Kleinmut, Egoismus und Herzlosigkeit zu befreien wußte, aber
auch Härte zeigen konnte: bei Dummheit, engstirnigem Denken, leerem
Geschwätz. Sie war politisch immer hellwach. Dazu schön, klug,
begabt. Und tapfer, galt es doch, als russische Mutter von vier
Kindern im faschistischen Deutschland zu überleben. In der DDR war
sie Dolmetscherin – vorwiegend für sowjetische Wissenschaftler,
die das Land besuchten. Die umsorgte sie warmherzig. Verträgt die
1984 von uns Gegangene die Wahrheit über die Zustände des Jahres
2012, bei deren Entstehen auch eigene Schuld mit ihm Spiel war? Ist
sie erschüttert? Ich beruhige sie. Wir leiden keine materielle Not.
Mir scheint, sie müde lächeln zu sehen. Denn Materielles allein war
nie der jungen Russin Ding. Sie liebte Musik, Literatur, Gemälde,
Geistiges. Und wollte auch reisen. Die Möglichkeit dazu war bei uns
leider begrenzt.
„Und
nun?“, höre ich sie im Geiste fragen. Sie verlangte stets ein
klares Wort. Keine Heuchelei oder Unehrlichkeit. So nenne ich die
Dinge beim Namen: Das Alte hat uns wieder. Und das Schlimmste: Kriege
und Gewalt sind weltweit zurückgekehrt. Auch mit deutscher
Beteiligung. Erst Tage später fällt mein Blick auf ihre damals sehr
schlanke Figur. Hans hat sie in der Krypta mit seiner Kamera doch
noch erreicht. Aber nun kann ich ihr nicht mehr tröstend zurufen:
Wir sind wieder auf dem Weg, auch wenn er zunehmend härter wird. Und
wir wissen nicht, wie alles enden wird. „Tschüß, liebste Mama!“
Dein Optimismus wirkt nach. Er steht für Hoffen und Handeln.
Harry
Popow, Schöneiche
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