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35. Jahrestag der Wende Deutschlands und eine utopische Forderung
5. Oktober 2025
BRD
,
DDR
,
Entmündigung
,
Geschichtsbild
,
Kultur
,
Menschenrechte
,
Recht auf Arbeit
,
Tag der Deutschen Einheit
,
Wiedervereinigung
von Bernhard Taureck
Der dritte Oktober – es vergingen inzwischen 35 Jahre seit der Wende –
wurde als Zeichen der nationalen Beglückung gefeiert und erweist sich
längst als Zeichen eine absichtlich betriebenen Unterprivilegierung der
DDR-Bürger. Die in der DDR aufgewachsene Daniela Dahn, mit der ich in
2002 in Berlin sprach, hat die Defizite deutlich aufgezeigt.
Beklagt wird erstens der dauerhaft geringere Lohn für die gleiche Arbeit im Osten.
Beklagt wird zweitens die kulturelle Entmündigung. Ein im Westen
gefeierter Autor wie Ulrich Plenzdorf und viele andere erhielten keine
Publikationschance mehr. Dafür serviert man uns Kriminalfilme wie Das
Leben der anderen, die spannend sind, die jedoch mit dem Vorgehen der
Staatssicherheit nichts zu tun haben. Dazu gehört auch der Abriss des
DDR-Palasts der Republik, der trotz heftige Proteste 2008 abgeschlossen
wurde. Grund: Asbestverbauung. In Paris wird derzeit das Centre Pompidou
aus demselben Grund nicht abgerissen, sondern saniert. Auf dem
Potsdamer Platz entstand zugleich ein Gebäudekomplex, der auf mich wie
eine architektonische Platzwunde wirkt. Ich selber wurde Zeuge der
kulturellen Entmündigung 2000 in Berlin und 2008 in Chemnitz. In beiden
Fällen blickte ich in die Physiognomie von Menschen, der der Lebenssinn
entzogen worden war. Zudem weiß ich von vielen Professorenkollegen, die
in den Ruhestand versetzt und mit erheblich gekürzten Pensionen
abgefunden werden. Hierzu zählt auch der bekannte Philosophiehistoriker
Hermann Klenner.
Beklagt wird, drittens, der Vorgang einer Raubaktion, die ihresgleichen
sucht. Lanciert durch die Treuhand und gedeckt durch grünes Licht der
Kohlregierung bereicherten sich Westbanken um jene 900 Milliarden, die
dem Staatsvolk der DDR gehörten. Gesamtdeutschland begann also mit dem
Akt einer umfassenden Verteilungsungerechtigkeit und dem Fehlen ihrer
gerechten Ahndung.
Zu beklagen ist, viertens, die eigenartige Sprachbenutztung. Denn man
sprach von Wiedervereinigung und setzte das Adjektiv ehemalig vor die
DDR. Niemand spricht vom ehemaligen Kaiserreich, von der ehemaligen
Republik von Weimar, nicht einmal von einem ehemaligen Dritten Reich.
Der Eindruck entsteht, dass die Erinnerung an die DDR doppelt bestattet
werden soll. Im Unterschied zu den westlichen Staaten trug die DDR das
Adjektiv Demokratisch in ihrer Selbstbezeichnung.
Die Bezeichnung Wiedervereinigung drückt Geschichtsklitterung aus. Denn
die beiden Staaten waren zwei politische Einheiten. Wiedervereinigung
dagegen drückt aus, dass sie einst ein und derselbe Staat waren.
Ein fünfter Aspekt betrifft die Menschenrechtslage. Hierzulande beruft
man sich emphatisch auf sie. Zu den Menschenrechten der ersten
Generation gehört das Recht auf Arbeit aller Menschen. Dieses Recht ist
mit einer liberalistischen Gesellschaft jedoch unvereinbar. Denn
Unternehmen, die nur wenig Arbeit bezahlen können, würde das
Menschenrecht in den Ruin treiben. Doch die sozialistisch gestaltete
Gesellschaft der DDR praktizierte das Menschenrecht auf Arbeit
durchgängig.
Als sechster Unterschied fällt mir eine medizinische Versorgung der
Bevölkerung auf. In der DDR ging Gründlichkeit vor Profit. Einer meiner
begabten jungen Freude ließ sich kurz nach der Wende einmal in der
Charité untersuchen. Er urteilte, er sei bisher noch nie so gründlich
untersucht worden. Und was wurde als Honorar verlangt? Die Hälfte des in
Westdeutschland geforderten Preises.
*
Soll ich verraten, wovon ich und viele Freunde träumen? Von einer DDR
2.0. Sie wäre ein autarker Staat in Ostdeutschland. Dort herrschte
Gerechtigkeit der Verteilung und die Bestrafung von ungerecht erworbenem
Eigentum. Die DDR 2.0 wäre ärmer als der Westen, weil ihm die Pandemie
des Konsumerismus fehlt. Westdeutschland und die DDR 2.0 würden
gleichwohl in friedfertiger Konkurrenz zueinander stehen. Ohnehin ist zu
erwarten, dass Europa irreversibel verarmt und lediglich als Archipel
von Luxusorten für Milliardäre zählt. Die Bindung an Russland und
Eurasien wäre stärker als an die liberalistisch organisierten USA, die
beständig mit ihren Staatsbankrott beschäftigt sind. Ohnehin wäre
künftig die Volkrepublik China, deren Verfassung sich als Diktatur des
Volkes bezeichnet, und die mit ihm verbündeten Staaten ein globaler
Garant für friedfertiges Verhalten.
Bernhard H. F. Taureck ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes Rheinland-Pfalz / Saarland
Bild oben: Am „Checkpoint Charlie“, Berlin April 1990
Foto: Blende22, CC BY-SA 4.0
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=40212185
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