Daniela Dahns Abrechnung mit der deutschen Einheit
Autor: Susanna Böhme-Kuby
Datum: 27. Januar 2020
Daniela Dahns facettenreiches und komplexes Bild der letzten dreissig Jahre steht dem bundesdeutschen Einheitsdiskurs als einer grossen Erfolgsgeschichte in Europa diametral entgegen und lädt zum Lesen und Zweifeln ein! Die streitbare Autorin, die ihrem “Unbehagen in der Einheit” schon in vielen Analysen und Pamphleten Ausdruck gegeben hat, legt eine Art Gesamtbilanz vor, mit einer Fülle von Fakten und persönlichen Einsichten.
Nicht, dass sie die mit der Einheit erlangte “Freiheit” für die Ostdeutschen nicht zu schätzen wüsste, die vor allem als Konsum-Freiheit und Freizügigkeit wahrgenommen wird, mit allen Annehmlichkeiten und Grenzen. Nein, ihr Schreibansatz entspringt einer weit grösseren Erwartung, nämlich dem – unerfüllten - Anspruch auf eine viel weiter gehende Demokratisierung der gesamtdeutschen Verhältnisse nach 1989. Die wiederholte Erfahrung, mit diesem Anspruch im Westen nicht auf gleicher Augenhöhe an- und ernstgenommen zu werden, provoziert tiefe Verletzung. Die meisten Westdeutschen können bis heute weder Anspruch noch Verletzung vieler Ostdeutscher, für die Dahn auch spricht, nachempfinden, geschweige denn verstehen. Weil sie die DDR und ihre Gesellschaft niemals als eine zweite deutsche Realität wahr- und ernstnehmen konnten, als realexisierende Alternative, von der aus auch für eine Westgesellschaft neue Anstösse hätten ausgehen können. Die antikommunistische und antisowjetische Propaganda des Kalten Krieges war und ist viel zu tiefgehend, dauert noch im Nachhinein fort und prägt im Westen (teilweise auch im Osten) bis heute unterschiedliche Wahrnehmungen der Realität.
Es ist kein Buch über die “Wende”, obgleich eingangs noch einmal die Illusionen der Ostdeutschen und die folgenreichen Verwerfungen des ersten Jahres 1989/90 aufgezeigt werden, die vom Westen als alternativlose Sachzwänge ausgegeben wurden. Denn der angeblich so plötzlich “abgefahrene Zug” zur Einheit folgte in Wirklichkeit einem längst vorliegenden Zehn-Punkte-(Fahr-)Plan der Bundesregierung, der schon in den 50er Jahren für den Fall einer möglichen Wiedervereinigung entworfen worden war, und den Dahn glasklar als “feindliche Übernahme auf Wunsch der Übernommenen” definiert. Als Beispiel dafür nennt sie u.a. das Resultat der bis dahin in ihrem Umfang einmaligen Privatisierung einer ganzen Volkswirtschaft durch die Treuhand, mit dem “Übergang von 95% des volkseigenen Vermögens der DDR in westliche Hände”. Kann sich ein Normalbürger davon überhaupt ein realistisches Bild machen?
Keine Revolution
Vor ihrer Übernahme hatten die Übernommenen Ende November 1989 – also nach dem Mauerfall - allerdings noch zu 86% für einen “reformierten Sozialismus” plädiert und nur 5% für einen “kapitalistischen Weg” - aber da war in Bonn die Vorbereitung einer Währungsunion bereits angelaufen, jener “keine Kosten scheuende Plan zum Aufkauf der Revolution”, wie Dahn deutlich formuliert. Der “Revolution”? Dieser, den Ostdeutschen nach wie vor so teure Begriff wird von Dahn stark relativiert, sie spricht von der “Revolution der Duckmäuser”: “Für die Sieger war das Schönste an der friedlichen Revolution, dass sie nichts revolutionierte”, sondern “die alten Spielregeln” wieder eingesetzt werden konnten. Das erinnert daran, dass der Begriff “friedliche Revolution” - ein Oxymoron - die einzige Art von Revolution bezeichnet, die Deutsche überhaupt zulassen können, man denke nur an ihre einst verschreckten Reaktionen auf die Französische Revolution und folgende.
Dahn weist auch nochmals auf die vielfältige politisch-psychologische Beeinflussung der Ostbürger aus dem Westen hin, auf die Rolle der Medien, insbesondere die des Fernsehens im Sommer 1989. Sie zitiert westliche Warnungen, wie die “Erklärung der Hundert: Wider Vereinigung”, in der im Dezember 1989 Intellektuelle und Wissenschaftler mit Weitsicht den sich anbahnenden “Export der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung der BRD nach Osten” als “Grossmannspolitik” bezeichnet hatten, die “die Wiedervereinigung in einem Scherbenhaufen enden lasse und den Aufbau des Europäischen Hauses gefährde”. Sie sieht diesen “Scherbenhaufen” aus zerstörten Arbeitsplätzen und Lebensentwürfen auch als Nährboden für die Propaganda der aus dem Westen stammenden AfD. Pegida und ähnliche rechte Bewegungen finden auch dort Raum, wo linke Alternativen zur Perspektivlosigkeit ihre Glaubwürdigkeit verloren haben, ein nicht nur auf Deutschland beschränktes Phänomen. Und den wichtigen Bogen zu den Folgen von 1989 für den Rest Europas und letztlich die gesamte Weltordnung, nach Auflösung der Sowjetunion und dem sog.Ende des Kalten Krieges, zieht Dahn im letzten Teil ihrer Abrechnung. Hier zitiert sie auch die von Vladimir Giacché in seiner Rekonstruktion des deutsch-deutschen “Anschluss” (2015) hervorgehobene Musterfunktion der Währungsunion für die Rolle des Euro in der EU.
Keine Erinnerungskultur
Doch vorher benennt und bedauert Daniela Dahn noch all die fehlenden Ansätze zur Schaffung von Gemeinsamkeiten, zum Beispiel in einer deutschen Erinnerungskultur - aber wie sollte es eine solche überhaupt geben können? Nicht einmal der in der DDR “verordnete” Antifaschismus konnte ja vom Westen positiv anerkannt werden, nicht zuletzt, weil der im Westen immer unter Kommunismus-Verdacht stand. Die Gesellschaft der BRD war eben nicht auf Antifaschismus, sondern auf Antikommunismus gegründet. Bei der Übernahme des Ostens durch den Westen, verbunden mit einer ideologischen Diffamierungs-Kampagne sondergleichen, die an der DDR nichts, aber auch gar nichts Gutes lassen konnte, blieb also nur ein Fazit: Alles Schrott, jenes Motto durchzieht fast die gesamte Anschluss-Publizistik. Solche Abwertung der DDR - des Staates, der nicht sein durfte - und der Leistung ihrer Menschen mag heute inzwischen von einigen durchaus als “Fehler”anerkannt und bedauert werden, allein es war kein Fehler, sondern Absicht.
Erich Kuby hatte angesichts dessen schon im Juli 1990 (Der Preis der Einheit) vermerkt: “Das Bonner Regime konnte die DDR auf eine Art vereinnahmen, die der Eroberung von Feindesland nahekommt. (…) Da wurde keinen Augenblick gezögert, die politische Schwäche der DDR-Opposition und die Verführungskraft der überlegenen westdeutschen Ökonomie in den Dienst der Erfüllung der Präambel des Grundgesetzes von 1949 zu stellen: Das gesamtdeutsche Volk wird aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.” Nur hat man es eben zu dieser “freien Selbstbestimmung” mit gemeinsamer Verfassungsgebung nicht kommen lassen, woraus man nur schliessen kann, messerscharf: … dass nicht sein kann, was nicht sein darf.
Im letzten Teil des Buches geht Daniela Dahn auch den unsäglichen militärischen Aktivitäten des Westens nach, die seit 1989 weltweit stattfinden, und in denen das vereinte Deutschland erneut bereit war und ist, nationale Interessen zu vertreten und militärische “Verantwortung” zu übernehmen. Deutschlands auch damit verbundene ambivalente ökonomische Rolle und deren Bewertung im europäischen Kontext bleibt in diesem Kontext allerdings ausgeblendet.
Demokratie ohne Kapitalismus?
Dahns eingangs gemachtes Bekenntnis “ Ich wollte immer in einer Demokratie leben, aber nie im Kapitalismus”, lässt in Westdeutschland Aufgewachsene etwas ratlos, die nur den Kapitalismus kennen, der mal diese und mal jene politische Form annehmen kann: offene Diktatur wie im Nationalsozialismus oder die US-gestützte Nachkriegs-Variante der parlamentarischen Demokratie. Bertolt Brecht hatte diesen Übergang von einer Form zur anderen damals bildreich und eindrücklich geschildert als “Anachronistischer Zug” in seiner langen Ballade über “Freiheit and Democracy”.
Und schon vor Kriegsende hatte Erich Kuby lakonisch diesen absehbaren Wechsel der Herrschaftsformen ohne Revolution beschrieben: “Das Mehl wird von einer Tüte in die andere geschüttet”. (Mein Krieg, Besinnung 1944)
Nach dem Ende des westlichen Nachkriegsaufschwungs seit den 70er Jahren und dem Wegbruch des Realsozialismus sind viele Pfeiler der demokratischen Fassade des Kapitalismus wieder brüchig geworden, Dahn benennt Symptome und Folgen, auch mit Blick auf heute wieder vielerorts manifeste nationalistische Tendenzen in den Institutionen selbst. Als sie nun aber nach ihrem Eintritt in den Westen - als erklärte Radikaldemokratin - gerade jene Institutionen auf ihre demokratische Tragfähigkeit hin prüfte und für zu leicht befand, war ihre Entrüstung darüber nur einer kleinen Minderheit der Bundesbürger verständlich. Denn die Mehrheit hatte sich ja in der Konsumfreiheit des Kapitalismus bisher so komfortabel einrichten können – kein Kunststück in einem der reichsten Länder der Welt! – dass sie das System selbst kaum hinterfragte, zumal es mit demokratischen Mitteln längst als unüberwindlich gilt. “Der Kapitalismus hat der Demokratie die Möglichkeit zu seiner Abschaffung entzogen”, resümiert Dahn schliesslich insbesonders angesichts des engen EU-Normen-Korsetts und gibt den neuen Gegenbewegungen der Generation Alarm zu bedenken: “Unsere nachträgliche Kritik an der Kapitalmaschine konnte an den Machtverhältnissen nichts ändern.” So ist es, und auch die einst in der BRD als “dritter Weg” hochgelobte Soziale Marktwirtschaft hat sich längst als Illusion erwiesen: Tertium non datur. Und wenn deren Wohlstandsversprechen in künftigen Rezessionen noch brüchiger wird, führt die Entwicklung absehbar nur weiter nach rechts. Dieser Pessimismus der Vernunft scheint auch Daniela Dahns Schlusssatz zu inspirieren, mit dem sie den Fridays for Future zuruft: “Ihr habt keine Chance” - jedoch ihr Optimismus des Herzens lässt sie hinzufügen: “...aber macht was draus!”
Würdelos
AntwortenLöschenBei diesem Text denke ich an den Filmbeitrag des rbb am 28.12.2019: Schicksalsjahre einer Stadt. Berlin feiert die Einheit. Die Währungsunion bringt die D-Mark für alle. Neue Freiräume entstehen. Ein Film von Dagmar Wittmers. Dafür herzlichen Dank, denn hierdurch werden unsere Nachfahren erfahren, wie es aussieht, wenn Menschen bei der Jagd nach Geld, nach angeblicher Demokratie und nicht erfüllbarer Freiheit den Wunsch nach Frieden auf diesem Planeten und ihre Menschlichkeit, ihre Würde und damit ihre Zukunft verlieren. Ich stimme ihnen aus ehrlichem Herzen zu, Frau Daniela Dahn. Welch eine klare Kampfansage, welch glasklare Position gegen die Verdummung durch das deutsche Kapital und deren Marionetten in der Politik und in den bürgerlichen Medien. Harry Popow