Dienstag, 22. Januar 2019

Der Westen & Russland - zum Diskurs




22. Jahrgang | Nummer 2 | 21. Januar 2019



Der Westen & Russland – zum Diskurs


von Wolfgang Schwarz

Zur Begleitmusik des Kalten Krieges gehörten auf westlicher Seite über die Jahrzehnte immer wieder auch Schreckensszenarien, in denen eine bis an die Zähne gerüstete Sowjetunion an der Spitze des Warschauer Paktes durch einen Überfall auf die NATO – gern in Zentraleuropa, an der Nahtstelle der Systeme, also auf deutschem Boden – den Dritten Weltkrieg vom Zaune brach und ein militärisch unzureichend gerüsteter Westen um sein Überleben kämpfte. Als prominentes Beispiel ist manchem vielleicht noch „The Third World War: The untold story“ des britischen Ex-Generals Sir John Hackett von 1982 in Erinnerung; deutscher Titel: „Welt in Flammen. Der Dritte Weltkrieg: Schauplatz Europa“.



Entsprechende Szenarien gingen in aller Regel von einer mehr oder weniger dramatischen konventionellen Überlegenheit des Ostens aus, so dass der Vormarsch gegebenenfalls durch frühzeitigen massiven Einsatz taktischer Kernwaffen durch die NATO gestoppt werden sollte.


Passiert ist das alles gottseidank nicht, und da man hinterher bekanntlich immer klüger ist, weiß man im Westen inzwischen, was der US-amerikanische Politologe John Mueller unlängst in einem Essay in Foreign Affairs resümierte, dass nämlich „die Sowjetunion nie ernsthaft eine direkte militärische Aggression gegen die Vereinigten Staaten oder Westeuropa in Betracht gezogen [hat]“. Mueller verwies dabei auf eine der führenden US-Autoritäten in sowjetischen Angelegenheiten, den Historiker Vojtech Mastny, den seine intensiven Untersuchungen zu der Schlussfolgerung geführt hätten, „dass die Strategie der nuklearen Abschreckung ‚irrelevant war‘“, darauf gerichtet „einen großen Krieg abzuschrecken, den der Feind überhaupt nicht führen wollte“.


Seither sind nicht nur der Warschauer Pakt und die einst als übermächtig empfundene Sowjetarmee längst Geschichte, sondern es hat sich das militärische Kräfteverhältnis so grundlegend gewandelt, dass, wie Kristin Ven Bruusgaard von der Stanford University im Dezember 2018 in The National Interest lapidar vermerkte, eine konventionelle Auseinandersetzung zwischen Russland und den USA heute „nicht fair sein wird, […] sie (die Russen – W.S.) werden verlieren“. Und zwar, so wäre zu ergänzen, umso eher, wenn sich zusätzlich europäische NATO-Staaten beteiligten. Wen dazu militärische Zahlenangaben zu Streitkräftestärken und unmittelbar einsetzbaren Beständen an Großwaffensystemen interessieren, der kann unter anderem die aktuelle Ausgabe der „Military Balance“ des Londoner International Institute for Strategic Studies (IISS) zu Rate ziehen.
Trotzdem hat in der NATO, Deutschland inbegriffen, die Stunde der russophoben Panikmacher, die uns erneut weismachen wollen, dass Moskau nur auf eine günstige Gelegenheit lauert, längst wieder geschlagen.



Im Dezember vergangenen Jahres steuerte der britische Denktank Human Security Center (HSC) ein Szenarium bei, dem zufolge es im Frühjahr 2024 – nach einer „unsauberen Wahl von Putins gesalbtem Nachfolger“ – zu Protesten in Moskau kommen könnte, die sich trotz staatlicher Gewaltmaßnahmen landesweit ausbreiten. Die herrschende Elite entscheidet daraufhin, dass ein „kontrollierter Konflikt mit der NATO […] die beste – oder eher die am wenigsten schlechte – Option“ sei, davon abzulenken. Im Visier: Estland, Lettland und Litauen. „Wie in anderen vergleichbaren Konflikten wird der russische Angriff durch einer Serie von Anschlägen unter falscher Flagge gegen Moskaus Interessen ausgelöst werden.“


Seriöse deutsche Medien greifen, um dem Publikum die russische Bedrohung plausibel zu machen, nicht zuletzt auf die Expertise ausgewiesener Fachleute zurück. In einem Interview in der Tagesspiegel-Ausgabe vom 6. Dezember war das Joachim Krause, „Professor emeritus und Direktor des Institutes für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel“, wie das Blatt mitzuteilen wusste. Und Chefredakteur von SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen beim renommierte De Gruyter-Verlag, könnte man hinzufügen. Das Gespräch führte Hans Monath.
Krause begann mit einem Paukenschlag: „Fakt ist: Spätestens seit Anfang 2014 sucht Russland die strategische (Hervorhebung – W.S.) Konfrontation mit den westlichen Staaten und zwar hauptsächlich im militärischen Bereich.“ In sicherheitspolitischen Kontexten bedeutet „strategisch“ bekanntlich ganz großes Theater. 


Da wäre zu fragen, was Moskau dabei denn in die Waagschale zu werfen hat, bei über zehnfach geringerem Militärbudget als dem der USA und fast 15-fach niedrigerem, nimmt man die NATO insgesamt. Mehr noch: Laut SIPRI sind die russischen Rüstungsausgaben im Jahre 2017 „preisbereinigt“ um 20 Prozent zurückgegangen. Für 2018 liegen aktuelle Zahlen noch nicht vor, Putin hatte aber eine weitere Kürzung angekündigt.
Den Interviewer interessierten diese Details offenbar nicht.
Krause weiter: Der Westen müsse „angemessen […] reagieren“. Und: „Entscheidend ist, dass das militärpolitische Kalkül Moskaus durchkreuzt wird, welches darauf abzielt, wieder einen erfolgreichen (Hervorhebungen – W.S.) Angriffskrieg in Europa möglich werden zu lassen.“ Wann wäre das denn schon einmal der Fall gewesen? Als die GSSD mit 500.000 Mann und 5000 Panzern in der DDR stationiert war und die USA tausende von taktischen Kernwaffen auf bundesdeutschem Boden vorhielten, um Front und gegnerisches Hinterland gegebenenfalls zu pulverisieren?
Nachfrage Monath dazu? Fehlanzeige.



Des Weiteren ging Krause auf die Stationierung von konventionell wie nuklear armierbaren russischen Kurzstreckenwaffen vom Typ Iskander in der Exklave Kaliningrad ein: „Die Aufstellung dieser Waffen macht nur Sinn als Teil eines Plans für einen regionalen Krieg im Baltikum, bei dem Russland nach erfolgreicher Besetzung der baltischen Staaten und vielleicht auch anderer Territorien die Nato von einer Rückeroberung dieser Gebiete abschrecken will.“ Das wäre dann ein klassischer Fall für die Beistandsklausel in Artikel fünf des Nordatlantikvertrages, der auch in Moskau nicht unbekannt sein dürfte. Zu rechnen wäre daher gegebenenfalls mit dem militärischen Gesamtpotenzial der NATO. Nun weiß man aber oder hat sich spätestens beim Luftfeldzug des Westens gegen Gadaffi wieder daran erinnert, dass bei intensiver Kriegführung schon nach relativ kurzer Zeit Waffendepots und Munitionsvorräte aufgebraucht sind. Plant man ernsthaft Krieg, ist man gut beraten, die Wirtschaft rechtzeitig auf eine signifikant verstärkte Herstellung und Bevorratung von Rüstungsgütern umzustellen.


Ob es dafür aufseiten Russlands (bereits) Anzeichen gibt? Monath hat nicht danach gefragt. Und für besonders hartnäckig Begriffsstutzige legte Krause noch nach: „Die Lagerung von Kernwaffen in Kaliningrad bei gleichzeitiger Stationierung von Iskander Raketen bedeutet, dass in absehbarer Zeit Berlin und Warschau einer direkten Bedrohung durch nicht-strategische russische Kernwaffen ausgesetzt sind.“


Dazu ist zunächst einmal anzumerken, dass vom Startgerät des Systems Iskander zwei unterschiedliche Flugkörper eingesetzt werden können, beide bei den russischen Streitkräften vorhanden:

zum einen eine ballistische Boden-Boden-Rakete (NATO-Code: SS-26), für die der „2017 Ballistic and Cruise Missile Threat“-Report des National Air and Space Intelligence Center‘s (NASIC) der US-Luftwaffe eine Reichweite von 360 Kilometern ausweist,

und zum anderen ein Boden-Boden-Marschflugkörper (NATO-Code: R-500), von dem der 2017er NASIC-Report zwar eine Aufnahme im Flug enthält, aber im Unterschied zu den anderen russischen Cruise Missiles seltsamerweise keine Reichweitenangabe macht.


Krause seinerseits spricht von Systemen, die „gerade noch unter dem INF-Vertrag erlaubt“ seien, was auf ein Maximum von 499 Kilometern Reichweite hinausliefe. Die Distanz per Luftlinie zwischen Kaliningrad und Berlin wird im Internet mit 528 Kilometern angegeben.


Doch selbst wenn man mit Krause annimmt, dass Berlin mit Iskander-Flugkörpern aus der Exklave heraus getroffen werden könnte, dann bleibt doch die entscheidende Frage: In welches andere militärische Szenarium außer in das eines allgemeinen atomaren Vernichtungskrieges passte denn die nukleare Bedrohung einer gegnerischen Hauptstadt, gar ein solcher Angriff auf ein urbanes Zentrum mit überwiegend ungeschützter Zivilbevölkerung?


Auch das interessierte den Mann vom Tagesspiegel allerdings nicht. Möglicherweise bestand zwischen Interviewer und Interviewtem ja einfach eine Art Grundkonsens: Dem Russen ist prinzipiell alles zuzutrauen. Damit erübrigt sich natürlich nicht nur jegliches Nachfassen, es beantwortet sich vielmehr zugleich die Frage von selbst, ob hier ernsthafter Journalismus geboten wurde oder bloß grobschlächtige Feindbildpropaganda.


Zu Krauses Ausführungen passendes Putin-Bashing hatte Karl Schlögel, emeritierter Viadrina-Professor und ausgewiesener Osteuropa-Historiker, bereits am 4. Dezember in der Welt geliefert: „Das muss man können: einen neuen Kriegsschauplatz zu eröffnen – und kaum jemand regt sich auf. Doch Putin, der Meister der Eskalationsdominanz, kann es. Russlands Präsident, der den Westen schon Jahre vor sich hertreibt, schickt seine Kanonenboote in die Straße von Kertsch, beschießt und kapert nach Piratenmanier in internationalen Gewässern ukrainische Schiffe, setzt verwundete Seeleute fest und verschleppt sie ins Lefortowo-Gefängnis nach Moskau, und schreit ‚Haltet den Dieb‘.“ Dabei sollte man doch „seit der Krim-Okkupation […] auf Putins Stil, den Handstreich, die Überrumpelung, die virtuose Choreografie, in der Planung und Improvisation zusammenkommen, gefasst sein.“


Die empfohlene Rezeptur fiel entsprechend aus: „[…] sofortiger Stopp der Nordstream 2 Gaspipeline“, mit deren Erträgen Putin „seine Abenteuer finanzieren kann“.


Ob Schlögel wirklich glaubt, dass gegenüber Russland ein Vorgehen nach dem Grundsatz auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil ein Mittel zur Konfliktberuhigung oder gar -lösung sein könnte. Oder geht es ihm gar nicht darum?


Henry Kissingers jedenfalls meinte schon zu Beginn des Ukraine-Konflikts: „Die Dämonisierung von Wladimir Putin ist keine Politik. Sie ist ein Alibi für die Abwesenheit von Politik.“





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