„Deutschland im
Tiefschlaf. Wie wir unsere Zukunft verspielen“ - Stephan Hebel
Duell
in Samthandschuhen
Buchtipp von
Harry Popow
Wenn dein Wecker nicht
richtig tickt, dann kaufe einen neuen. Wenn aber die Oberen in der
Politik dich übers Ohr hauen und du nichts merkst, dann schlafe
ruhig weiter. Einem Wecker gleicht das Buch von Stephan Hebel mit dem
Titel „Deutschland im Tiefschlaf. Wie wir unsere Zukunft
verspielen“. Stephan Hebel ist seit Jahrzehnten Leitartikler und
Kommentator. Er schreibt für die Frankfurter Rundschau sowie für
Deutschlandradio, den Freitag, Publik Forum und weitere Medien. Er
ist langjähriger FR-Leitartikler und Autor. Er diskutiert regelmäßig
im Presseclub
der ARD und ist ständiges Mitglied in der Jury für das Unwort des
Jahres.
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Quelle:FR
Er geht gleich ins Volle, wenn er angesichts der vielen
Risse im Fundament der Gesellschaft, wie ungerechte Verteilung des
Volksvermögens, Erosion der Sozialsysteme und Ignoranz der Macht
gegenüber dem Volk, Merkels Worte, uns gehe es ja gut, man könne so
weitermachen, unter scharfen Beschuss nimmt. (S. 7) Damit verdecke
man jene Zustände, die den Stillstand in der Politik deutlich
markieren. So nicht nur, wie eben angedeutet, das veraltete
Sozialsystem, die ärmere Schichten ausschließende Privatisierung,
die übermäßig aufgeblähten Exporte, Fehlentscheidungen beim
Klimaschutz und bei der Energiewende, die inkonsequente
Einwanderungspolitik sowie nicht zuletzt die „einfallslose“
Außenpolitik – bis hin zum militärischen Aufrüsten. (S. 15-18)
Stephan Hebel konstatiert,
dass wir die Augen verschließen „vor der Tatsache, dass die Welt
uns verändern wird, wenn wir die Welt nicht verändern“. Und er
benennt als Ursache diejenigen, „die keinen Wandel wollen, weil sie
vom jetzigen Zustand der Welt profitieren“. Die Übermacht des
„Weiter so“ präge das Denken und das Lebensgefühl der
Gesellschaft. Und dort, wo sich tatsächliche Veränderungen ergaben,
so bei der Kinderbetreuung, beim Mindestlohn u.a, da ende
Reformpolitik dort, „wo sie nur mit dem Geld der Privilegierten zu
bezahlen wäre“: Keine Steuererhöhungen für die Reichen, keine
ausreichenden Investitionen in Bildung, Verkehr oder Pflege u.v.a.m
(S.16)
Man frage sich, so der
Autor, warum es nicht zum massenhaften Widerstand aus der
Gesellschaft komme (statt sinkender Wahlbeteiligung, kaum
einflussreiche Protestbewegungen), wenn es mit punktuellen
Veränderungen gelinge, die Tatsache zu verschleiern, dass
Unternehmen, Vermögende und Spitzenverdiener vor jeder zusätzlichen
Belastung etwa durch Steuern bewahrt werden? Er verweist auf die oft
unrühmliche Rolle der Medien, ohne sie insgesamt pauschal zu
verurteilen. Deren politisch propagierte Geringschätzung des
Sozialen, der Vorrang von Konkurrenz und Selbstbehauptung am Markt
haben die geneigten Leser zur Abkehr von der Vorstellung „erzogen“,
dass es sinnvoll sein könnte, sich um mehr zu kümmern, als die
eigenen Angelegenheiten“. Selbst ökonomisch und sozial
Ausgegrenzte seien offensichtlich „nicht motiviert, an den
Verhältnissen etwas Grundlegendes zu ändern“. (S. 25) So kommt
es, dass wir „die Zerstörung solidarischer Vorsorgesysteme wie
Renten- und Krankenversicherung widerstandslos hinnehmen.“... Das
sei der Selbsterhaltung angepasstes Verhalten. Dem sich zu entziehen
hieße, „die Rationalität der Anpassung zu durchschauen“. (S.
26/ 27)
Dies aber wollen und
können, wie der Autor nachweist, weder die SPD mit ihren nicht
eingehaltenen Wahlversprechen zur Sozialpolitik, noch die Grünen,
die sich von einer sozial-ökologischen Reformpartei verabschiedet
haben, noch die Linke, die es könnte, aber konkretere Alternativen
anbieten müsste. Erst recht nicht ein Joachim Gauk noch die
Bundeskanzlerin, die Reformen nur so weit begrüßt, „wie sie mit
den Interessen der Unternehmen noch vereinbar sind“. (S.128)
Es gelte, so Stephan
Hebel, „den Kapitalismus in seiner heutigen Form zu überwinden“.
(S. 20) Er meint, deshalb müsse man nicht sofort das Kanzleramt
blockieren, aber es tun auch kleine Schritte, sozusagen ein Spektrum
des Widerstandes. Dazu zähle er nicht nur das Beispiel der Erhaltung
des Tempelhofer Flughafens, sondern auch die Wiederbelebung von
Dorfläden, den Kampf gegen die Privatisierung des Wassers,
Wahlentscheidungen, Bürgerbegehren sowie öffentliche Projekte und
Volksentscheide und die Proteste gegen TiSA und TTIP. Dabei warnt
Stephan Hebel auf Seite 187 vor der Gefahr, „von bestehenden
Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen einverleibt zu werden“.
Fazit ziehend schreibt er
auf Seite 211: „Wenn sich die Initiativen aus der Gesellschaft
vermehren und immer besser miteinander verbinden“, … besteht
Hoffnung, den Tiefschlaf in Deutschland zu beenden.
Das in einem guten
Sprachstil geschriebene Buch gibt reichlich Stoff zum weiteren
Nachdenken. So vor allem hinsichtlich der Machbarkeit eines Umbruchs
der alles beeinflussenden Macht des großen Kapitals und der Banken.
Mit Vernunft und gutem Willen ist da nichts zu deichseln. Auch hat
der Autor in diesem Buch nicht ausdrücklich vor den weiteren
Gefahren der Schläfrigkeit gewarnt, wie vor neuer militärischer
Aufrüstung, vor dem weiteren Vorrücken der NATO gen Osten. Wer
glaubt, mit mehr Wachheit z.B. die forcierten Aggressionsbestrebungen
der USA gen Russland und China bremsen zu können, dürfte nur in
einem weiteren Tiefschlaf seine innere Ruhe finden. Das Duell
zwischen OBEN und UNTEN mit einem „Sich-Gegenseitig-Nicht-Wehtun“
geht ohnehin weiter – zur weiteren Täuschung und Verulkung der
Völker. Tief schlafen bis es zu spät ist? Die Samthandschuhe sollte
man für später aufheben. (PK)
Stephan Hebel:
„Deutschland im Tiefschlaf. Wie wir unsere Zukunft verspielen“,
Taschenbuch: 240 Seiten, Verlag: Westend (15. September 2014),
ISBN-10: 3864890675, ISBN-13: 978-3864890673, Preis: 16,99 Euro
Erstveröffentlichung
der Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung
Online-Flyer Nr.
500 vom 04.03.2015
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