„Das Blendwerk. Von der ´Colonia
Dignidad´ zur ´Villa Baviera´“ von Horst Rückert
Verkrüppelung
im Namen Gottes
Buchtipp von Harry Popow
Wer greift sich da nicht
an den Kopf: Es gibt Menschen, die sich bewusst verkrüppeln lassen,
geistig und moralisch. Sie fügen sich einer einzigen Person, die im
Namen Gottes die Außenwelt, die Liebe, die Ehe, das Individuelle als
Teufelswerk bezeichnet und zum Verzicht auf materielle Gaben und auf
ein solidarisches Miteinander aufruft. Was Wunder, wenn z.B. ein
Ehepaar nebeneinander im Bett liegt und – ohne sich zu berühren –
wochenlang auf ein Kind wartet. Als Frau und Mann nach Wochen
erfahren, was zu tun sei, schreien sie auf und beschimpfen den
schönsten und menschlichsten Akt als Teufelswerk.
Diese beiden und hunderte
andere Bewohner einer deutschen Siedlung in Chile unterwarfen sich
„festen Ritualen, um sich öffentlich von Sünden zu reinigen...“
(S. 23) Mehr noch: Wer sündigte, wurde verprügelt. Bei besonderen
Vergehen gab es Elektroschocks. Kinder wurden vom Gründer und Führer
der Gemeinde missbraucht, selbstverständlich unter größter
Verschwiegenheit. Trotz harter Arbeit wurden Löhne nicht gezahlt,
Freizeit und Urlaub gab es nicht, auch kein Fernsehen und Radio,
weder Zeitungen noch Zeitschriften. Männer und Frauen lebten
getrennt voneinander. Während der Militärdiktatur Pinochets gab es
im Gelände der Siedlung bis 1978 unterirdische Tunnel, Waffen und
Sprengstoffe. Politische Gefangene wurden gefoltert. Die „Colonia
Dignidad“ war … „ein Aktionszentrum der chilenischen
Militärdiktatur, die sich in einem Krieg gegen den internationalen
Terrorismus wähnte“. (S. 76)
So nachzulesen in einem
aufsehenerregenden Buch von Horst Rückert mit dem Titel „Das
Blendwerk. Von der ´Colonia Dignidad´zur ´Villa Baviera´“. Der
Autor begab sich 2006 auf die Spuren dieses von den Bewohnern und
anliegenden chilenischen Menschen zwar wohlwollend hingenommenen aber
im eisigen Keller der Verschwiegenheit versunkenen
menschenverachtenden Lagers. Er wurde fündig und recherchierte
außerordentlich gründlich.
Paul Schäfer - Fahndungsfoto
Die Rede ist zunächst von
Paul Schäfer, geboren am 4. Dezember 1921 in Deutschland. Er geriet
bereits als junger Mann in Verdacht, ihm anvertraute Jugendliche
sexuell missbraucht zu haben. Er sah sich als „der wahre Nachfolger
Jesu, er empfange seine Wahrheit direkt von Gott“. (S. 16) Dieser
im Jahr 2005 in Chile verhaftete „Vertreter Gottes“ und
Verbrecher wurde bereits Anfang der sechziger Jahre in Deutschland
wegen Kindesmissbrauch per Haftbefehl gesucht, flüchtete mit Kindern
und Helfern nach Chile und baute dort sein autoritär geführtes
Imperium der Gewalt und Alleinherrschaft auf und starb 2010 in
Argentinien.
Hinter 2,80 Meter hohen
insgesamt 8.000 Betonpfählen, abgetrennt von der Welt der Chilenen,
vegetierten die Siedler im Glauben, der Führer und Gründer der
Sekte brächte – das war Anfang der 1960er Jahre - „seine kleine
Gemeinde aus dem von bolschewistischer Unterdrückung bedrohten
Westdeutschland in das leere Land im Süden Chiles, das zu
kultivieren und fruchtbar zu machen der Auftrag Gottes“ sei. (S.
31) Das nach außen verkündete Programm des Lagers „Colonia
Dignidad“, wie es sich nannte: Wohltätig zu sein, „armen und
kranken Leuten zu helfen“. (S. 30) Das Blendwerk bestand darin, so
heißt es im Klappentext, dass diese hermetisch abgeriegelte Siedlung
vierzig Jahre lang „ein Musterbild deutscher Tüchtigkeit und
Ordnung“ bot.
Bewohner der „Villa
Baviera“
Quelle:
http://ciperchile.cl
Es sind zwei gravierende
Dinge, die der Autor aufdeckt: Erstens die abenteuerliche
Motivierung. Da wurde den Bewohnern vorgegaukelt, sie gehörten einer
auserwählten Elite an, die sich im Namen Gottes von allen
menschlichen Sünden befreien würde, so von der gesamten Außenwelt.
Der Führer, Herr Schäfer, wäre der Repräsentant Gottes, er sei
der Vermittler, ihm hätten alle Lagerinsassen hörig zu sein. Wer
dagegen opponiere, sei des Teufels und müsse streng bestraft werden.
„Es gelte, sich auf das nahe Ende der Welt, auf das bevorstehende
Gericht Gottes über die Menschheit vorzubereiten“. (S. 16) Die
Bedrohung käme „aus dem kommunistischen Osten“, er sah im Traum
den „russischen Stiefel“, der „Europa niedertritt“. (S. 28)
Wesentliche Bestandteile dieses Glaubens waren der „religiöse
Antikommunismus und die Zweiteilung der Welt in ein gutes Drinnen und
ein böses Draußen...“ (S. 71)
Horst Rückert fragt
zweitens mit Recht nach der deutschen Hilfestellung für die Siedler
in diesem berüchtigten Lager in Chile. Was er herausfindet, ist
mager genug. Noch 1972 habe man in der Siedlung „ein Stück
Auslandsdeutschtum“ gesehen. Sie würde allerdings weiterhin
Deutschland mehr belasten als nützen. Die Motive und Hintergründe
dieser bis 1985 währenden Zurückhaltung trotz Informationen über
mögliche Verbrechen in der deutschen Siedlung sind unbekannt. „Bis
heute weigert sich die Bundesregierung, Wissenschaftlern oder
Journalisten Zugang zu den Akten zu geben...“(S. 89) Die
Entschuldigung: Man halte sich an die Regeln des Völkerrechts und
respektiere die Souveränität Chiles. (S. 91) Der Rechtsanwalt
Winfried Hempel, so der Autor, würde derzeit wegen unterlassener
Hilfeleistung Prozesse vorbereiten, „in denen er die Bundesrepublik
Deutschland und die Republik Chile auf insgesamt 120 Millionen
US-Dollar Schadensersatz verklagen will“. (S. 95)
Es geht um
Vergangenheitsbewältigung. Rückert plädiert für eine sehr
differenzierte Ursachenforschung. Auf keinen Fall könne man dem
einzelnen Verführer und Verbrecher die alleinige Schuld an
Unmenschlichkeit zuordnen und sich so von Mitschuld unterschiedlicher
Größe freisprechen. Die Mittäter seien ausfindig zu machen und zu
bestrafen. Doch im Nachhinein wollen die älteren Lagerbewohner von
„Colonia Dignidad“ nichts wissen. Sie sprechen bei ihrer Schuld
nur von einem WIR, ohne in den Tiefen ihrer Seele nach eigenen
willenlosen Mitmach-Attacken gegenüber hilflosen Opfern zu forschen
und so ebenfalls ein eindeutiges Schuldbekenntnis abzugeben. Die
Alteingesessenen seien bis heute nicht bereit, sich mit den
Verbrechen der Sekte auseinanderzusetzen. Sie wollten ihre
Gemeinschaft in der „Villa Baviera“ erhalten. Damit sei eine
„bruchlose Verwandlung eines Folterzentrums in ein
Freizeitparadies“ nicht gelungen, schreibt Horst Rückert auf Seite
224. Leid würde abstrahiert, relativiert und „in einen höheren
Plan Gottes“ eingeordnet. (S. 232)
Dieses Unterdrückungslager
präsentiere sich ab 2005 mit der „Villa Baviera“ als deutsche
Touristenattraktion, wo nach wie vor deutsche Gemütlichkeit,
deutsche Sitten und Gebräuche ihr bayerisches Zuhause in Chile
haben, wirtschaftlich weitgehend auf eigenen Füssen stehend, aber
die einstigen Mordtaten und Kindermisshandlungen nur nebenbei
erwähnend.
Das Buch „Blendwerk“
deckt nicht nur vergangene Verbrechen auf. Es verweist nicht nur auf
die Schuld von Mittätern. Es erinnert nicht nur an eine gründlich
vorzunehmende Vergangenheitsbewältigung. Es beleuchtet vor allem die
kausalen Zusammenhänge zwischen Macht, Anbetung des Gottes Markt und
Manipulierung der Menschen durch Politik und bürgerliche Medien.
Deutlich ablesbar u.a. am Verschweigen der wahren Ursachen sowohl der
beiden Weltkriege als auch des Ukraine-Konfliktes. Ein Blendwerk
neuer Art ist im Gange. Aufarbeitung, so Horst Rückert auf Seite
244, geschehe nur, um „das Funktionieren und die Entwicklung der
neuen Ordnung nicht“ zu gefährden.
So nimmt der geistige und
moralische Verfall – oftmals wolle man das nicht wahrhaben –
seinen immer spürbarer werdenden Fortgang. Das Blendwerk Konsum,
Freiheit und Demokratie, Wachstum und Bündnistreue tut das Seinige
für ein sorgenfreies Wohlgefühl unter dem Motto „Mir geht es ja
gut“. Grünes Licht für Verkrüppelungen „im Namen Gottes“, im
Namen des Antikommunismus? (PK)
Horst Rückert: Das Blendwerk: Von der
„Colonia Dignidad“ zur „Villa Baviera“, Broschiert, 256
Seiten, Verlag: A1; Auflage: 1 (27. August 2014), ISBN-10:
3940666564, ISBN-13: 978-3940666567
Erstveröffentlichung der Rezension
in der Neuen Rheinischen Zeitung
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