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Das Unbehagen in der Demokratie
Theodor Weißenborn
Das
aus dem Griechischen stammende Wort „Demokratie“ und die Sache,
die es bezeichnet, bedeuten laut allen mir bekannten Enzyklopädien
(im Gegensatz etwa zu Theokratie, Aristokratie, Plutokratie und
anderen Herrschaftsformen) soviel wie Volksherrschaft, und diese
stützt sich auf den ehernen Grundsatz, daß alle Gewalt vom Volke
ausgeht, womit stets die Gesamtheit des Volkes und nicht etwa eine
privilegierte Gruppe oder nur eine soziale Oberschicht gemeint ist,
sondern (so in der Formaldemokratie) die Mehrheit, deren Wille auf
direktem Wege durch Plebiszite (Volksabstimmungen) oder die Wahl von
Volksvertretern (parlamentarische Demokratie) zu ermitteln ist. Auf
diese Weise (so der englische Philosoph Jeremy Bentham, 1748 bis
1832) soll „das größte Glück der größten Zahl“ gewährleistet
sein, was freilich voraussetzt, daß die Mehrheit weiß, was für sie
gut ist und nicht etwa in einem „falschen Bewußtsein“ (Marx)
befangen ist.
Genau hier setzt bereits unsere Skepsis an, denn selbst unter der Voraussetzung sogenannter freier Wahlen und dort, wo Wahlergebnisse nicht gefälscht werden, kommt es schon im Vorfeld von Wahlen zu massiven und oftmals irreführenden Beeinflussungen der Wähler, durch die Schürung von Ängsten oder verheißungsvolle Versprechen („herrliche Zeiten“, „Wohlstand für alle“, „Keiner soll hungern und frieren“, „blühende Landschaften“ usw.), die sich dann über kurz oder lang als dreiste Lügen erweisen.
Besonders fragwürdig sind die Ergebnisse von Volksabstimmungen, die allenfalls etwas darüber sagen, was die Mehrheit will oder nicht will, aber nicht das geringste darüber, ob das von der Mehrheit Gewollte gut und richtig ist. Zwar sehen vier Augen mehr als zwei, aber auch fünf oder gar fünfzig Millionen Wähler können verblendet in einem Begeisterungstaumel Fehlentscheidungen treffen und sich wie die Lemminge ins Verderben stürzen. Wer garantiert, daß selbst nach den atomaren Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima nicht Mehrheiten weiterhin für das Betreiben von Atomkraftwerken plädieren? Und fordern nicht gerade jetzt fanatisierte Massen in der Türkei die Wiedereinführung der den Menschenrechten hohnsprechenden Todesstrafe? – Wer dächte da nicht unwillkürlich an den kollektiven Schrei: „Führer befiehl, wir folgen!“ oder an das Ende der Weimarer Demokratie durch die Selbstentmachtung des Parlaments, das mehrheitlich das Ermächtigungsgesetz erließ und damit die Voraussetzung für die Schreckensherrschaft der Faschisten schuf?
Damit sind wir bei einem Beispiel, das zeigt, daß auch der parlamentarischen Demokratie nicht zu trauen ist – sei es, weil Abgeordnete mit Blindheit geschlagen sein können, sei es, daß sie (auch das ist menschlich) bestechlich und korrupt sind oder Vetternwirschaft betreiben, das heißt trotz ihres Auftrags, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, auf dem Wege der Gesetzgebung unter Täuschung der Öffentlichkeit Entscheidungen treffen, die (siehe die Zahlen der Obdachlosen, die der unterhalb der Armutsgrenze lebenden Kinder, die der verarmten Rentner) gerade nicht das Glück der größten Zahl, sondern im Gegenteil den wachsenden Wohlstand einer verschwindend kleinen Gruppe von Kapitaleignern fördern – jener 10 Prozent der Gesamtbevölkerung, die im Besitz von 90 Prozent des gesamten Volksvermögens sind!
Längst werden in den demokratisch verfaßten Ländern Europas und der übrigen Welt die wirklich wichtigen gesellschaftspolischen Entscheidungen nicht mehr von den gewählten Regierungen getroffen! Die Bankenbosse, die Konzernherren, die Pharmaindustrie, die Waffenfabrikanten sind es, die das Sagen haben, die die Regierungen unter Druck setzen und im Bündnis mit diesen die Völker knechten. Dies eben ist unsern Regenten vorzuwerfen: daß sie mit den Feinden ihrer Völker paktieren, die Demokratie mißbrauchen, ihre Wähler betrügen, daß sie das Unrecht verschleiern, statt es publik zu machen, und also mitschuldig werden. Manche zunächst demokratisch gewählte Regenten mutieren über kurz oder lang sogar zu Diktatoren, die demokratische Grundrechte abbauen, Verfassungen aushebeln und die Menschenrechte verletzen.
Von einer inhaltlichen Verwirklichung der Demokratie, etwa der Vergesellschaftung der Produktionsmittel, kann ebenfalls nicht die Rede sein, obwohl gerade dafür Artikel 14 des Grundgesetzes („Eigentum verpflichtet“) die Voraussetzung böte.
Angesichts eines derart desaströsen Bildes, wie zumal die westeuropäischen parlamentarischen oder Formaldemokratien es bieten – was um alles in der Welt könnte bei einer derartigen Diagnose noch ein praktikables Therapeutikum sein? Wir wissen, längst sind die Monopolkapitalisten so klug geworden, daß sie die vielfältigen Formen der Ausbeutung geschickt zu tarnen wissen, längst sind sie so schlau, die unterdrückten Massen leidlich bei Laune zu halten und über ihre Nöte zu täuschen, damit sie nur ja kein Klassenbewußtsein entwickeln oder gar sich international zusammenschließen. Revolutionäre Situationen (obwohl sie da und dort, z. B. in Bangladesch, längst existieren) werden verschleiert, damit sie nicht ins Bewußtsein der Weltöffentlichkeit dringen. Die leidvoll Betroffenen, die Ausgebeuteten, hält man bewußt in der Angst, daß es ihnen, sobald sie aufbegehren, noch schlechter gehen werde als ohnehin schon. Wie sehr, bis zu welchem Grad muß der Leidensdruck noch steigen?
Ich bin kein Prophet, aber eines scheint mir sicher: Früher oder später wird es da oder dort zur Revolution kommen, und die Kapitaleigner, im Bündnis mit den Militärs, werden nicht zögern, Waffen einzusetzen, um ihre Pfründe zu sichern. Es droht ein womöglich globaler Krieg. Um ihn zu verhindern, ist eine neue Internationale weltweiter Friedenskräfte dringend geboten!
Kurzkommentar:
Es
ist wohl wahr: Ohne Maskierungen hat
das Kapital keine Chance. Es braucht die Täuschung, die Schminke.
Doch man könne den Hintern
schminken wie man will, es wird kein ordentliches Gesicht daraus, so
zitiert Kurt Tucholsky in „Schloß Gripsholm“ seinen Freund
Karlchen.
H.P.
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