Ab
1. Juni im Buchhandel:
„Im
Stillen Park der untoten Seelen. Tamaras Notizen – auf den Spuren
von Träumen und ungeweinten Tränen“ - Harry Popow
Gruftgeflüster
Buchtipp
von Elke Bauer
Im
schier unübersichtlichen Blätterwald bundesrepublikanischen
Literaturbetriebes ist mir ein Buch aufgefallen, das in seiner
Authentizität und beeindruckenden Aussage etwas Besonderes in Form
und Inhalt darstellt.
Der
Erzähler Henry Petrow stellt Tagebuch und Briefwechsel seiner Mutter
Tamara vor. Mit seinem Rückblick auch auf sein eigenes Leben
können Leser ein authentisches Erinnerungsbuch an die DDR
entdecken.
Besonders
im zweiten Teil “Was Tamara nicht erleben musste“ werden die
Aussagen über die gesellschaftlichen Ereignisse, besonders die
politischen Verhältnisse der Nachwende weitergeführt, in dem Sinne,
dass sie für Tamara erschreckend wären und in keiner Weise zu ihren
Träumen gehörten.
Henry
ist im Jahre 2016 selbst schon in dem Alter, in dem der Mensch
Erinnerungen pflegt, diese bewertet und aus den Hinterlassenschaften
ans Tageslicht fördert. Es sind für ihn belangvolle Rückblicke,
die auch für die Nachkommenden Bedeutung haben können.
Er
lädt die Leser ein, Tamara Petrowna näher kennenzulernen. Ihre
Tagebuchaufzeichnungen beginnen in den 30iger Jahren des
20.Jahrhunderts. Wir bedenken das Leben des klugen, empfindsamen
Moskauer Mädchens mit. Es zeigt sich so erfrischend anders als uns
in manchen damaligen Lebensläufen aus dem Russischen nahegelegt
wurde. In ihrem Tagebuch ist ihre Jugend nachzuvollziehen, die sie
als behütete Tochter eines Fabrikdirektors in der russischen
Hauptstadt und den verschiedenen Arbeitsorten des Vaters im In- und
Ausland verbringt. In ihren Moskauer Jugendjahren ist sie in den
Theatern und Museen, aber auch in den Tanzlokalen und kleinen Cafes
zu Hause. Sie vertraut ihrem Tagebuch ihre große Kunstbegeisterung
ebenso wie ihre Liebe zur Natur und zur Heimatstadt Moskau an. Sie
genießt die Verehrung der jungen Männer in ihrem Freundeskreis und
ist immer auf der Suche nach der großen Liebe. Sie bekennt zarte
Liebesgeschichten, doch ihren jugendlichen Verehrern gegenüber ist
sie sehr skeptisch, die sind ihr alle zu oberflächlich. Sie findet
ihre große Liebe mit dem deutschen Ingenieur Eric, dem sie 1935 im
Alter von zwanzig Jahren in das faschistische Deutschland folgt. Wir
erleben mit ihr das schwierige Eingewöhnen in die fremde Kultur und
die ihr fremd bleibenden deutschen Familienbeziehungen der ersten
Jahre.
Nach
der Trennung von ihrem Mann 1949, welcher ihr nie die seelische
Heimat gab, die sie erwartete, ist sie mit ihren vier Kindern auf
sich allein gestellt. Sie
bemüht sich, hauptsächlich als Dolmetscherin und Beraterin beim Bau
des Ehrenmals in Berlin-Treptow, bei der Wismut in Schwarzenberg
/Erzgebirge, als Russischdozentin für führende Wirtschaftskader und
an anderen Arbeitsstellen, ihre Lebensvorstellungen aktiv zu
verwirklichen und ihre Kinder zu befähigten Menschen heranzubilden.
Dabei ist sie immer die rührend besorgte Mutter, die ihre Kinder
liebevoll ins Leben begleitet, an ihren Erfolgen Anteil nimmt und
ihnen Mut macht durch ihre eigene Stärke.
Das
Alleinsein ohne Partner fällt ihr schwer. Ihre Beziehungen, die sie
im späteren Leben hat, kann sie nicht festigen und so bleibt sie
letztlich allein. Ihre Sehnsüchte nach vielen Reisen kann sie sich
nicht erfüllen. Arbeit, Kinder und mangelnde finanzielle
Möglichkeiten zwingen sie, in Büchern kennenzulernen, was sie gerne
im Original gesehen hätte. Die Bücher Tschechows und anderer großer
Erzähler, die Werke solcher ausdrucksstarken Maler wie Hieronymus
Bosch, Jan Vermeer van Delft und des Russen Lewitan sowie klassische
Musik bleiben in ihrer geistigen Welt bestimmend. Sie teilt sich dem
Sohn und Offizier Henry mit, seiner klugen und tapferen Frau, genannt
Cleo, und ihren Enkeln. So liest man mit Schmunzeln Briefe der Enkel
an ihre Großmutter.
Wir
gehen mit ihr, wieder sehr berührend, nicht sentimental, den Weg der
Bedrängnisse, der zunehmenden Krankheiten, Geldnöte und immer
stärker werdenden Einsamkeit. Sie erkennt die Gefahr, die mit
Erstarken des Kapitalismus im westdeutschen Nachkriegsdeutschland
heraufzieht, kritisiert auch die steigende Konsumorientierung mancher
DDR-Bürger.
Diesem
kritischem und stets aktivem Geist folgend, setzt Sohn Henry ihre
ausgesprochen hohen Ansprüche an die Gesellschaft und an sich selbst
in seinem Leben in die Tat um.
Als
ihr Leben zu Ende geht, ist sie traurig über die Weltlage nach 1980,
über ihre Einsamkeit und dem Bewusstsein, nie ganz in Deutschland
angekommen zu sein. Das ist die besondere Tragik ihres Lebens. Ihre
Träume und ungeweinten Tränen sind zurecht überliefert, weil sie
so authentisch sind.
So,
wie der Erzähler den Regungen der individuellen Seelen nachgeht, so
will er eine größere Sicht auf die „untoten Seelen“ richten,
derer im Treptower Ehrenmal gedacht wird. Sie werden nicht
untergehen, auch wenn ihre Körper schon in der Krypta vergangen
sind. Der Stolz auf Mutter Tamara, die im Mosaik-Fries in der Krypta
als Tröstende und Helfende abgebildet ist, wird immer in ihm
fortleben. Deshalb arbeitet er im Buch leise und beharrlich die
Forderungen Tamaras und der „untoten Seelen“ nach einem
menschlichen, von Kriegen befreiten Leben, heraus. Es ist das
Bedürfnis des Erzählers, die Seele der Tamara den erwachsenen
Kindern, den Enkeln und den Lesern zu offenbaren. Er will ihr Bemühen
um wahre menschliche Werte im Gegensatz zu Bestrebungen für
Besitzstände und Äußerlichkeiten, die sie auch in der DDR
erkannte, darstellen.
So
ist es kein Wunder, dass Sohn Henry im zweiten Teil „Was Tamara
nicht mehr erleben musste“ in die heutigen politischen Debatten die
progressiven Ideen bedeutender Persönlichkeiten und Philosophen
wirft und vehement verteidigt. So nennt er Platon und Thomas Morus
mit ihren Gedanken über Arm und Reich in der Gesellschaft. Die
Erkenntnis der immer gefährlicheren Herrschaft des Kapitals über
die Völker ist für ihn die Fortsetzung des „Sehens“ und die
Zukunftsangst seine Mutter Tamara. Er benennt die Kämpfe unserer
Gegenwart und die Enttäuschung unserer Zeitgenossen bei den sich
anbahnenden globalen Katastrophen.
Er
weist in den Schriften seiner Bloggerseiten, die er im oben
genannten zweiten Teil anführt, auf die Manipulierung vieler
Zeitgenossen zu Nur-Besitzanbetern, die mitunter den Sinn des Lebens
aus dem Auge verlieren, die DDR-Vergangenheit – ganz im Sinne der
Kapitalclique – verteufeln und sich ganz und gar marktkonform
angepasst haben und von Politik nichts mehr wissen wollen. Solchen
Mitläufern, die nach Goethe …nichts Besseres an Sonn – und
Feiertagen wissen, als ein Gespräch von Krieg – und
Kriegsgeschrei, wenn hinten weit in der Türkei, die Völker
aufeinanderschlagen…
Der
Autor will damit auch das weitverbreitete Desinteresse am politischen
Geschehen bei vielen Bürgern anprangern, will aufrütteln. Er geht
mit denen ins Gericht, deren Träume das Erreichen möglichst hoher
Stufen des Wohllebens sind, die für die vielen Flüchtlinge (wer
hat sie verursacht?) Zäune aufstellen, damit ihre „Kreise nicht
gestört“ werden.
Aus
dem Flüstern in der Gruft, auch mit der Stimme Tamaras, vermeint er
ein immer lauteres Stöhnen zu vernehmen. Es sind die Stimmen der
Opfer des zweiten Weltkriegs und aller Kriege, die davor warnen, die
Verursacher von immer neuen Verbrechen, von weiterer ökonomischer
Verelendung ganzer Völker nicht ernst genug zu nehmen, ihnen keine
Gegenwehr entgegenzusetzen.
So
gibt uns das Buch einen vorurteilsfreien Rückblick auf das Leben in
der DDR, nicht ohne die Schwächen dieses Lebens erkennen zu lassen.
Trotzdem ist es eine lebenswerte Epoche für viele gewesen und weist
auf die Notwendigkeit der Schaffung eines lebenswerten Geschicks für
alle Menschen hin. Mag für alle Nachdenklichen die Frage aufkommen:
“Wie hast Du Dein bisheriges Leben gemeistert?“ Der Text
vermittelt die Erkenntnis, dass ohne Spurensicherung, die
Vergangenheit betreffend, kein sicherer Weg in die Zukunft führt.
Das
Buch stellt an den Leser einen hohen Anspruch an das Mitdenken,
verzichtet aber nicht auf den Unterhaltungswert der vielen locker
geschilderten Erlebnisse.
Auch
möchte ich auf die Fotodokumente hinweisen, die zeigen, wie
authentisch die schriftlichen Einlassungen sind und so zum besseren
Verständnis der Zusammenhänge der geschilderten Fakten beitragen,
sie noch besser emotional erlebbar machen.
Es
ist ein Verdienst des AAVAA Verlages, dieses in der Form etwas
ungewöhnliche, im Inhalt zutiefst humanistische Buch
herauszubringen.
Harry
Popow: „Im Stillen Park der untoten Seelen. Tamaras Notizen – auf
der Spur von Träumen und ungeweinten Tränen.“ AAVAA Verlag, 1.
Auflage 2016, Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag, Coverbild: Harry
Popow, 327 Seiten, Taschenbuch, ISBN: 978-3-8459-1956-0, Preis: 11,95
EURO, Hohen Neuendorf bei Berlin, www.aavaa-verlag.com
Zur
Rezensentin: Elke Bauer, geb. 1939,
Bibliothekar an allgemeinbildenden Bibliotheken der DDR/ Fachschule
für Bibliothekare Leipzig 1961,
Diplomkulturwissenschaftler/Universität Leipzig 1970, Bibliothekar
in ltd. Funktion bis 1991, Aufbau einer eigenen Buchhandlung,
selbstständige Buchhändlerin 1991 bis 2001, Rentnerin, ab 2011 in
München lebend.
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