Entnommen:
https://www.jungewelt.de/2016/05-13/031.php
Aus:
Ausgabe vom 13.05.2016, Seite 7 / Ausland
NATO
rückt nach Osten
Raketenabwehrbasis
in Rumänien eröffnet, Baubeginn in Polen. Russland kündigt
Nachrüstung an
Von
Reinhard Lauterbach
Einen
»Schritt der NATO nach vorn« nannte Jens Stoltenberg,
Generalsekretär der westlichen Militärallianz, das Vorhaben am
Donnerstag in einem Artikel in der polnischen Gazeta Wyborcza. Damit
hat er nicht einmal unrecht, obwohl er es nicht so gemeint haben
dürfte. Mit der Inbetriebnahme einer Raketenabwehrbasis in Rumänien
am Donnerstag und dem Baubeginn für ein analoges Objekt in der Nähe
von Slupsk im Norden Polens am heutigen Freitag rückt die NATO noch
ein Stück näher an Russland heran.
Geplant ist, auf jedem
der beiden neuen Stützpunkte je 24 Raketenabwehrflugkörper vom
US-amerikanischen Typ »Aegis« zu stationieren. Das Vorhaben geht
auf die Amtszeit des früheren US-Präsidenten George W. Bush zurück.
Verschiedene polnische Regierungen haben es mit größerer oder
geringerer Intensität unterstützt. Das gegenwärtige Kabinett in
Warschau sieht sich durch den Baubeginn in Redzikowo, Kreis Slupsk,
bestätigt. Eine »Nabelschnur« in die USA sei das Vorhaben, jubelte
die konservative Zeitung Rzeczpospolita; es binde die Vereinigten
Staaten militärisch an ihren Außenposten Polen und zeige, dass die
Sicherheit der NATO-Länder »unteilbar« sei.
Verteidigungsminister Antoni Macierewicz kündigte an, zum ersten
Spatenstich anzureisen. Ein Häuflein Gegendemonstranten will am
Eingangstor der geplanten Basis eine Mahnwache veranstalten. Es sei
»die letzte Gelegenheit, unseren Protest deutlich zu machen«,
lautet die wenig mobilisierende Begründung der Initiatoren. Auch
Kritik örtlicher Kommunalpolitiker an dem Vorhaben ist nicht
übermäßig ernst zu nehmen. Sie haben ausrechnen lassen, dass die
Region in der 25jährigen Betriebsdauer der Basis durch entgangene
anderweitige Investitionsmöglichkeiten einen Verlust von 2,5
Millarden Zloty (zirka 600 Millionen Euro) erleide, etwa weil mehrere
Kilometer um die Basis keine Windräder gebaut werden dürfen und sie
ihre Pläne für einen kleinen Flughafen begraben müssen. Das sieht
mehr nach Feilschen um Ausgleichszahlungen aus dem nationalen
Haushalt aus. Den politischen Aspekt des Projekts Raketenabwehr
klammern die örtlichen Kritiker ebenso aus wie die polnische
Öffentlichkeit im allgemeinen.
Angeblich sollte der
Stützpunkt dazu dienen, potentielle Gefahren durch iranische oder
nordkoreanische Raketen zu neutralisieren – obwohl weder der eine
noch der andere dieser »Schurkenstaaten« entsprechende Flugkörper
besaß oder besitzt. An Einwänden aus Russland, das geplante System
solle die russische Zweitschlagskapazität ausschalten und damit dem
Westen die Fähigkeit zum ungestraften Erstschlag zurückgeben, hat
die NATO beharrlich vorbeigeredet. Schon deshalb liegt der Verdacht
nahe, dass Moskau den Kern der Sache getroffen hat. Ebenso wurden
russische Angebote vom Tisch gewischt, eine mögliche Gefahr durch
den Iran – die inzwischen durch das Atomabkommen ohnehin vom Tisch
ist – durch den gemeinsamen Betrieb eines Frühwarnradars im
Kaukasus zu kontrollieren.
NATO-Generalsekretär Stoltenberg
ließ sich in dem erwähnten Festartikel noch ein Argument einfallen,
um zu bestreiten, dass das Raketenabwehrsystem gegen Russland
gerichtet ist. Die NATO-Raketen trügen ja gar keine Sprengköpfe,
könnten also auch keine russischen Raketensilos zerstören. Das
freilich hat ja auch niemand in Russland behauptet.
Russland
hat bereits angekündigt, auf den Aufrüstungsschritt der NATO in
Polen »asymmetrisch« zu antworten. Zur Debatte steht u. a. die
Aufstellung von Kurzstreckenraketen vom Typ »Iskander« in der
Region Kaliningrad, die in einem Radius von 500 Kilometern einen
Großteil Polens erreichen und neben konventionellen auch atomare
Sprengköpfe tragen können. Außerdem hat Russland den Bau von
Raketen angekündigt, die anfangs sehr schnell fliegen und später in
geringer Höhe und in unregelmäßigen Trudelbewegungen ihre Ziele
ansteuern sollen. Gegen die sei die US-Abwehr machtlos, weil die
Flugbahnen nicht berechnet werden könnten.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen