Von
Marotten und Schrullen
Buchtipp
von Harry Popow
Davon
liest man nicht alle Tage: Vom altersbedingten Vergessen, vom Staub
wischen oder vom Fenster öffnen oder nicht, vom schwer hören und
kaum sehen können, vom Hoffen auf etwas oder von resignierender
Enttäuschung, vom Tun oder sich wie ein Blatt im Wind gehen lassen,
vom sinnlosen Sammeln, von irrsinnigen Träumen, von lichtscheuer
Besessenheit, vom Fluch der Vergesslichkeit, vom Fimmel des
Karteikarten sortierens. Und, und, und.
Themen, die die Autorin Ulla Lessman in ihrem neuesten Buch „Risse im Balkon. Nachrichten vom Wahnsinn des Alltags“ ans Tageslicht zerrt. Beobachtungen, die meist untergehen, unbeachtet, weil sie zu banal sind, viel zu klein für die Größe dieser Welt. Aber nicht für die Alten, denen die Autorin ihre ganze Aufmerksamkeit widmet. Das Kleine, Winzige, Unscheinbare – das ist es, was sie im schnelllebigen Alltag der älteren Menschen neu entdeckt und vielfach in satirischer Weise stark überhöht. Nein, sie spottet nicht, ist sie doch selbst in die Jahre gekommen, aber sie nimmt Denk- und Verhaltensweisen aufs Korn und auf die Schippe, die mitunter mehr sind als Marotten oder Schrullen. Sie bewegen sich zwischen unnötiger Selbstüberhebung und persönlichem Verfall, zwischen dem Ich und den äußeren Zwängen.
Wer
in diesem klugen Verwirrspiel der Wörter und Sätze den hier und
dort anzutreffenden Hintersinn herauszupicken versteht, wird um einen
Lesegenuss nicht herumkommen. Der Titel deutet ihn bereits an: „Risse
im Balkon“. Dieser droht abzustürzen. Aber den Riss will man nicht
wahrhaben. Obwohl der Balkon beim Absturz Menschenleben töten
könnte. Aber: „...niemand habe Zeit, auf entstehende Risse zu
achten,... (S. 71) Risse, die jeden begleiten, in sich selbst und in
der Gesellschaft.
Sehr
schmerzhaft und traurig die Kurzgeschichte „Das Tourismuszimmer“
(S. 16). Eine alte Frau wird dazu ermuntert, ein Teil ihrer Wohnung
in ländlicher Idylle mit Außenklo als Ferienwohnung umzugestalten
und Urlaubern anzubieten. Als sie damit fertig ist, lauert sie am
Fenster, ob da auch Leute kommen. Tagelanges Warten. Dann endlich.
Ein Paar. Doch sie erwartet eine unerhörte Enttäuschung. Und
trotzdem, im nächsten Sommer wird es schon werden...
Nahezu
gesellschaftskritisch geht es „In der S-Bahn“ zu (S. 28) „Und
die da oben, die kassieren nur...“ Von denen da oben „fährt
keiner mit dem Zug, die fliegen alle, obwohl sie damit das Klima
kaputt machen, das ist denen scheißegal...“ (S. 30) „...und die
Atomkraftwerke bauen sie ohne Rücksicht auf Verluste...“
Bewundernswert
schöne Sätze, die man bei Ulla Lessmann lesen kann. Hier nur einige
Kostproben: „Eine Sortiererin und Ordnerin, der Ariadne-Faden durch
das Labyrinth einer Welt, in der Hermine und Meta sich sonst
verirrten.“ Und: „Dass er nach Staub roch, nach Unzufriedenheit,
nach dem Schweiß in trockenen alten Akten.“ (S. 37) „Vor allem
um die Lippen herum sind diese rissigen, winzigen Falten eingekerbt;
wie Vogeltritte in tauendem Schnee.“ (S. 54) „Wenn die
Schwingungen des Schlafes näherkommen, dreht sie sich auf die andere
Seite und die Welle fließt sanft zurück, bevor die nächste kommt.“
(S. 74) „Da hat es angefangen, dieses heimliche Wiederauftauchen
von Zeilen, von Melodien, von Gedichtfetzchen.“ (S. 79) „Die
Bilder seiner Erinnerung haben nicht ausgereicht, ihn müde zu
machen.“ (S. 83) „Stille ist wie ein warmes Bett. Sie kann sich
in Stille einkuscheln wie in eine mollige Decke, sich ganz und gar
und rundherum mit ihr bedecken. Stille ist geborgene Weichheit,
wärmender Schutz.“ (S. 120)
Im
Kleinen und Banalen das Große entdecken, das Menschliche und nicht
mühelose Miteinander, das Überwinden von Ängsten und Unzumutbarem,
das ist es, was Ulla Lessmann den Lesern als Botschaft zureicht.
Gewiss – nicht immer leicht zu verstehen, ihre Gedankensprünge,
ihre Andeutungen, ihre Assoziationen. Genaues Lesen gehört dazu wie
auch aufmerksame Beobachtung des eigenen Umfeldes, um sein Herz jenen
kleinen und doch so großen Dingen des Alltags zu öffnen, die
mitunter unterzugehen drohen, die aber das Leben ausmachen. Marotten
und Schrullen gehören nun einmal dazu. Das Büchlein mit seinen 35
Kurzgeschichten wird seine Leser finden.
Zur
Autorin: Ulla Lessmann, Kölnerin mit norddeutschen Wurzeln, schrieb
ihren ersten Roman mit zwölf Jahren. Satire und Tod vereint die
studierte Diplom-Volkswirtin und ausgebildete Journalistin
literarisch seit vielen Jahren in ihren erfolgreichen Kurzkrimis. Ihr
Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Mehr Informationen unter
www.ulla-lessmann.de.
Ulla
Lessmann: „Risse im Balkon, Nachrichten vom Wahnsinn des Alltags.“
Gebundene Ausgabe: 128 Seiten, ViaTerra Verlag, Aarbergen; Auflage: 1
(21. Oktober 2013), Sprache: Deutsch, ISBN-10: 3941970127, ISBN-13:
978-3941970120, Größe und/oder Gewicht: 20 x 12 x 1,6 cm
Erstveröffentlichung
der Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung
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