Mittwoch, 20. November 2013

"Risse im Balkon" - von Ulla Lessmann


Von Marotten und Schrullen


Buchtipp von Harry Popow


Davon liest man nicht alle Tage: Vom altersbedingten Vergessen, vom Staub wischen oder vom Fenster öffnen oder nicht, vom schwer hören und kaum sehen können, vom Hoffen auf etwas oder von resignierender Enttäuschung, vom Tun oder sich wie ein Blatt im Wind gehen lassen, vom sinnlosen Sammeln, von irrsinnigen Träumen, von lichtscheuer Besessenheit, vom Fluch der Vergesslichkeit, vom Fimmel des Karteikarten sortierens. Und, und, und.


Themen, die die Autorin Ulla Lessman in ihrem neuesten Buch „Risse im Balkon. Nachrichten vom Wahnsinn des Alltags“ ans Tageslicht zerrt. Beobachtungen, die meist untergehen, unbeachtet, weil sie zu banal sind, viel zu klein für die Größe dieser Welt. Aber nicht für die Alten, denen die Autorin ihre ganze Aufmerksamkeit widmet. Das Kleine, Winzige, Unscheinbare – das ist es, was sie im schnelllebigen Alltag der älteren Menschen neu entdeckt und vielfach in satirischer Weise stark überhöht. Nein, sie spottet nicht, ist sie doch selbst in die Jahre gekommen, aber sie nimmt Denk- und Verhaltensweisen aufs Korn und auf die Schippe, die mitunter mehr sind als Marotten oder Schrullen. Sie bewegen sich zwischen unnötiger Selbstüberhebung und persönlichem Verfall, zwischen dem Ich und den äußeren Zwängen.

Wer in diesem klugen Verwirrspiel der Wörter und Sätze den hier und dort anzutreffenden Hintersinn herauszupicken versteht, wird um einen Lesegenuss nicht herumkommen. Der Titel deutet ihn bereits an: „Risse im Balkon“. Dieser droht abzustürzen. Aber den Riss will man nicht wahrhaben. Obwohl der Balkon beim Absturz Menschenleben töten könnte. Aber: „...niemand habe Zeit, auf entstehende Risse zu achten,... (S. 71) Risse, die jeden begleiten, in sich selbst und in der Gesellschaft.

Sehr schmerzhaft und traurig die Kurzgeschichte „Das Tourismuszimmer“ (S. 16). Eine alte Frau wird dazu ermuntert, ein Teil ihrer Wohnung in ländlicher Idylle mit Außenklo als Ferienwohnung umzugestalten und Urlaubern anzubieten. Als sie damit fertig ist, lauert sie am Fenster, ob da auch Leute kommen. Tagelanges Warten. Dann endlich. Ein Paar. Doch sie erwartet eine unerhörte Enttäuschung. Und trotzdem, im nächsten Sommer wird es schon werden...

Nahezu gesellschaftskritisch geht es „In der S-Bahn“ zu (S. 28) „Und die da oben, die kassieren nur...“ Von denen da oben „fährt keiner mit dem Zug, die fliegen alle, obwohl sie damit das Klima kaputt machen, das ist denen scheißegal...“ (S. 30) „...und die Atomkraftwerke bauen sie ohne Rücksicht auf Verluste...“

Bewundernswert schöne Sätze, die man bei Ulla Lessmann lesen kann. Hier nur einige Kostproben: „Eine Sortiererin und Ordnerin, der Ariadne-Faden durch das Labyrinth einer Welt, in der Hermine und Meta sich sonst verirrten.“ Und: „Dass er nach Staub roch, nach Unzufriedenheit, nach dem Schweiß in trockenen alten Akten.“ (S. 37) „Vor allem um die Lippen herum sind diese rissigen, winzigen Falten eingekerbt; wie Vogeltritte in tauendem Schnee.“ (S. 54) „Wenn die Schwingungen des Schlafes näherkommen, dreht sie sich auf die andere Seite und die Welle fließt sanft zurück, bevor die nächste kommt.“ (S. 74) „Da hat es angefangen, dieses heimliche Wiederauftauchen von Zeilen, von Melodien, von Gedichtfetzchen.“ (S. 79) „Die Bilder seiner Erinnerung haben nicht ausgereicht, ihn müde zu machen.“ (S. 83) „Stille ist wie ein warmes Bett. Sie kann sich in Stille einkuscheln wie in eine mollige Decke, sich ganz und gar und rundherum mit ihr bedecken. Stille ist geborgene Weichheit, wärmender Schutz.“ (S. 120)

Im Kleinen und Banalen das Große entdecken, das Menschliche und nicht mühelose Miteinander, das Überwinden von Ängsten und Unzumutbarem, das ist es, was Ulla Lessmann den Lesern als Botschaft zureicht. Gewiss – nicht immer leicht zu verstehen, ihre Gedankensprünge, ihre Andeutungen, ihre Assoziationen. Genaues Lesen gehört dazu wie auch aufmerksame Beobachtung des eigenen Umfeldes, um sein Herz jenen kleinen und doch so großen Dingen des Alltags zu öffnen, die mitunter unterzugehen drohen, die aber das Leben ausmachen. Marotten und Schrullen gehören nun einmal dazu. Das Büchlein mit seinen 35 Kurzgeschichten wird seine Leser finden.

Zur Autorin: Ulla Lessmann, Kölnerin mit norddeutschen Wurzeln, schrieb ihren ersten Roman mit zwölf Jahren. Satire und Tod vereint die studierte Diplom-Volkswirtin und ausgebildete Journalistin literarisch seit vielen Jahren in ihren erfolgreichen Kurzkrimis. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Mehr Informationen unter www.ulla-lessmann.de.

Ulla Lessmann: „Risse im Balkon, Nachrichten vom Wahnsinn des Alltags.“ Gebundene Ausgabe: 128 Seiten, ViaTerra Verlag, Aarbergen; Auflage: 1 (21. Oktober 2013), Sprache: Deutsch, ISBN-10: 3941970127, ISBN-13: 978-3941970120, Größe und/oder Gewicht: 20 x 12 x 1,6 cm



Erstveröffentlichung der Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung


 

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