Mittwoch, 2. Januar 2013

„Drei Generationen“ – herausgegeben von Arnd Kolb und Guenay Ulutuncok

 
Migranten! Migranten?
 

Buchtipp von Harry Popow
 
„Stille Nacht…“ und „Leise rieselt der Schnee…“ In den vergangenen Tagen – da wir zur Weihnachtszeit des Jahres 2012 wieder vor Besinnlichkeit strotzten und der Bundespräsident Salbungsvolles von Frieden auf Erden, von Solidarität und Nächstenliebe schwafelte und nicht vergass, die zunehmende Gewalt zu bemängeln, ohne auch nur mit einer Silbe die Wurzeln allen Übels zu erwähnen - kam ein Buch über türkische Migranten auf den Markt: „Drei Generationen.“
 

Migranten? Sind sie nicht einfach Menschen wie wir, Mitbürger?  Sie sind keine Bürger zweiter Stufe. Sie arbeiten und leben mit uns, teilen dieselben kleinen und großen Nöte, teilen Glück und Unglück, Freude und Trauer. Und das in einem Land, das sie einst als billige Arbeitskräfte hereingeholt, ausgebeutet und immer schief angesehen hat: Kanaken! Gastarbeiter! Krummsäbel! Kümmeltürken! Eine fremde Masse, keine Individuen!

Dieses in erster Auflage erschienene Werk mit 108 Seiten und anspruchsvollen Porträts von türkischen Männern und Frauen, von Enkeln und Schülern in zweiter und dritter Generation – dies Buch platzt in die deutsche Bücherwelt ein wie ein Aufschrei menschlicher Seelen nach Gleichberechtigung, nach würdevoller Behandlung, nach Achtung der Menschenwürde, nach Gleichstellung in allen Lebensfragen.

Bereits das Titelbild auf dem großformatigen Buch, das wie eine Modezeitschrift aussieht, spricht Bände. Ein selbstbewußter älterer Mann vor seinem Auto, die Arme verschränkt, ein gewinnendes Lächeln auf den Lippen, die Augen verschmitzt blickend. Ein Bürger, mit dem es ein Leichtes wäre, ins Gespräch zu kommen. Was hat er hinter sich, warum kam er nach Deutschland, wie schwer fiel es ihm, sich einzuleben?

Bleiben wir bei den Fotos. Da schauen dich als Leser u.a. aus 38 ganzseitigen sowie aus 48 kleinformatigen Porträts sympathische Arbeiter, Rentner, Schüler, Wissenschaftler, Manager oder Gastronomen an. In lässiger Haltung, keine Pose eines Models. In ihrer Arbeitswelt, bei ihnen privat zu Hause oder auch in Kaffeehäusern, während ihrer Freizeit. Sie scheinen dich anzusprechen, mit einem Lächeln, das von Herzen kommt, auch mit einem stillen Vorwurf, nicht in jedem Fall als gleichberechtigte Bürger anerkannt zu sein. Auf Seite 100/101 ein Schwarz/Weiß-Foto. Eine Mauer. Ein Baum. Ein Buddelkasten, darauf ein Kind. Auf der Mauer der Spruch, in großen Buchstaben in deutsch und türkisch: „Leben einzeln und frei wie – ein Baum und brüderlich wie ein Wald ist unsere Sehnsucht.“ Es steht geschrieben (S. 25), der Fotograf habe in diesem Band wie mit einem Zauberstab das Kollektiv aufgelöst und durch Menschen ersetzt.

 Und wenn du als Leser dann noch die gekonnt geschriebenen künstlerischen und journalistischen Beiträge und Gedichte liest, dann fängst du an, dich zu schämen, ein Deutscher zu sein. Dann läßt du deine dem Zeitgeist entsprechende Arroganz gegenüber Ausländern, deine angeblich wohlbehütete Selbstzufriedenheit sausen, dann hörst du endlich mal hin, was die Migranten, unsere Mitbürger, bewegt, wie sie beim Wirtschaftswunder halfen, Deutschland wohlhabend zu machen, dann denkst du mal darüber nach, wie sie mit der hereinbrechenden Wirtschafts- und Finanzkrise mir nichts, dir nichts als überflüssig und schädlich für das Wohlergehen der Deutschen betrachtet wurden. Und die Migranten? Sie hatten große Hoffnungen, nicht nur Arbeit zu bekommen, sondern auch ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Und wußten oder ahnten nicht, dass allein der Markt – genauso wie in der Türkei – den Rhythmus des Arbeitens, Lebens und das sich „Ewig beugen müssen“ bestimmt, ja diktiert.

So nimmt es nicht Wunder, dass die Textbeiträge in diesem so eindrucksvollen Buch den Finger auf jene Wunden legen, die die Migranten quälen, ihnen die Zukunftsaussichten vermiesen, den Hass zwischen ihnen und den Bürgern weiter fördern. Acht Autoren widmen sich den Themen, wer die Migranten sind, sie skizzieren an Beispielen den Weg dreier Genrationen, blicken zurück, wie und warum die Einwanderung 1961 (Anwerbeabkommen mit Italien, Spanien, Griechenland und schließlich auch mit der Türkei) begann, wie die Herangerufenen von den Deutschen empfangen wurden, wie die Bilanz nach 50 Jahren aussieht. Dazwischen wunderbar geistvolle Gedichte, verfasst von dem Türken Yüksel Pazarkaya. Ein Aha gilt dem „Scharfrichter unter den deutschen Kabarettisten“ Wilfrid Schmickler mit seinem Gedicht „Wir sind Wir“. Ebenso scharfsichtig und klug insgesamt die Textbeiträge.

So zum Beispiel der folgende Schrei in einem Gedicht (S. 37):

(…)

„die uns bestellten zur arbeit –

wusstet ihr nicht

dass nur Tiere oder menschen

arbeitskraft haben

die ihr uns nicht für menschen haltet

haltet uns doch zumindest für tiere

die ihr so sehr liebt mit euren sanften herzen

und euren tierschutzvereinen“


Aras Ören drückt seinen damaligen Schmerz noch deutlicher aus: „Unsere Träume hatten Risse aber wir schwiegen. (…) Was wir nicht wussten war, daß wir … in diesem hochentwickelten Industrieland Klassenmenschen sein würden, ganz unten.“ (S. 73)

 Ören nimmt jene Forderungen aufs Korn, die da lauten, wer hier lebe, solle sich integrieren. Das klinge wie eine Drohung, wie eine „Mundhalteparole“. Das sei eine Forderung nach Passivität, die die Migranten minderwertig mache. Wörtlich schreibt er: „In einer Zeit, in der die Globalisierung unaufhörlich voran galoppiert, in der sich die Orte auf unserem Planeten immer mehr ähneln … , in der Konsum, Ideologien und Kulturen immer mehr gleichgeschaltet sind, ist eine solche eindimensionale Darstellung nicht zeitgemäß.“ Deutschland müsse solch schiefe Bilder abschaffen, so der Autor.

 Deniz Baspinar erinnert in ihren Zeilen an das geplante aber fehlgeschlagene Rotationsprinzip, „denn die Wirtschaft wollte ihre einmal eingearbeiteten Arbeitskräfte nicht wieder hergeben.“ So kam es, dass zwischen Ende der 1950er Jahre und 1973, dem Jahr des Anwerbestopps, aus allen Anwerberländern insgesamt 14 Millionen Menschen kamen, von denen 11 Millionen bis 1973 wieder in ihre Heimat zurückkehrten. Schlimm, dass nach dem Attentat auf zwei Hochhäuser in New York die Migranten in Deutschland nicht mehr Kanaken, sondern als muslimische Kanaken betitelt wurden. (S. 43)

 Die Autorin räumt ein, die Migranten enprechen schon lange nicht mehr dem Klischeebild der Öffentlichkeit. Es habe längst eine soziale Differenzierung eingesetzt. Menschen mit Migrationswurzeln gäbe es im Bundestag, im Landtag, in Parteien, in den Medien, als Führungskräfte in der Wirtschaft, in der Kultur und im Fußball. Viel verändert habe sich in Deutschland, nicht aber die Integrationsdebatte in der Politik und in den Medien. Wörtlich: „Und es ist eine Schande, immer wenn es um knapper werdende Kassen geht, machen sich Demagogen daran, für die Volksseele, die um Sicherheit und Einkommen fürchtet, einen Buhmann zu finden.“(S.75)

 Jürgen Bevers verweist in seinem Text auf die Verschärfung von Arbeitslosigkeit und Armut und auf die starke Zunahme von Asylbewerbern in den 90er Jahren. Da wurde das Thema Ausländerpolitik zum Reizthema, neu angeheizt durch die polemischen Thesen des Thilo Sarrazin. „Seine Muslim-Schelte spaltete die Nation.“ (S.83)

Dieses Buch ist nicht für die Unterhaltung bestimmt – es fordert den Leser heraus, es reißt ihn dort aus der Ruhe, wo Nachdenklichkeit mitunter ins Hintertreffen geraten ist, es nimmt ihn mit auf eine Reise, seine Mitbürger besser verstehen und achten zu lernen. Meines Erachtens ein Buch auch – und ganz besonders – für den Schulunterricht, ja, als kleines Theaterstück denkbar… Dem Buch beigefügt sind die Kurzviten und Porträts der acht Autoren.

 Aus dem Gedicht „geliebte fremde“ (S.89):


„…doch der mensch möge nicht sein in der fremde

ohne hoffnung ohne ausweg ohne einen halt“


„Drei Generationen“: Herausgeber: Arnd Kolb und Guenay Ulutuncok, Redaktion: Nadja Gawrisewicz, Copyright, alle Fotos (ohne Vermerk) Guenay Ulutuncok, Mediaproduktion-Köln, DOMiD, Druck: book factory-Berlin, 1. Auflage Dezember 2012, ISBN 978-3-9811827-0-5

 Erstveröffentlichung in der Neuen Rheinischen Zeitung

 

 

 

 

                                                                     

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