Migranten!
Migranten?
Buchtipp
von Harry Popow
„Stille Nacht…“ und „Leise rieselt der Schnee…“ In den vergangenen Tagen – da wir zur Weihnachtszeit des Jahres 2012 wieder vor Besinnlichkeit strotzten und der Bundespräsident Salbungsvolles von Frieden auf Erden, von Solidarität und Nächstenliebe schwafelte und nicht vergass, die zunehmende Gewalt zu bemängeln, ohne auch nur mit einer Silbe die Wurzeln allen Übels zu erwähnen - kam ein Buch über türkische Migranten auf den Markt: „Drei Generationen.“
Migranten?
Sind sie nicht einfach Menschen wie wir, Mitbürger? Sie sind keine Bürger zweiter Stufe. Sie
arbeiten und leben mit uns, teilen dieselben kleinen und großen Nöte, teilen
Glück und Unglück, Freude und Trauer. Und das in einem Land, das sie einst als billige
Arbeitskräfte hereingeholt, ausgebeutet und immer schief angesehen hat:
Kanaken! Gastarbeiter! Krummsäbel! Kümmeltürken! Eine fremde Masse, keine
Individuen!
Dieses
in erster Auflage erschienene Werk mit 108 Seiten und anspruchsvollen Porträts
von türkischen Männern und Frauen, von Enkeln und Schülern in zweiter und
dritter Generation – dies Buch platzt in die deutsche Bücherwelt ein wie ein
Aufschrei menschlicher Seelen nach Gleichberechtigung, nach würdevoller
Behandlung, nach Achtung der Menschenwürde, nach Gleichstellung in allen
Lebensfragen.
Bereits
das Titelbild auf dem großformatigen Buch, das wie eine Modezeitschrift
aussieht, spricht Bände. Ein selbstbewußter älterer Mann vor seinem Auto, die
Arme verschränkt, ein gewinnendes Lächeln auf den Lippen, die Augen verschmitzt
blickend. Ein Bürger, mit dem es ein Leichtes wäre, ins Gespräch zu kommen. Was
hat er hinter sich, warum kam er nach Deutschland, wie schwer fiel es ihm, sich
einzuleben?
Bleiben
wir bei den Fotos. Da schauen dich als Leser u.a. aus 38 ganzseitigen sowie aus
48 kleinformatigen Porträts sympathische Arbeiter, Rentner, Schüler,
Wissenschaftler, Manager oder Gastronomen an. In lässiger Haltung, keine Pose
eines Models. In ihrer Arbeitswelt, bei ihnen privat zu Hause oder auch in
Kaffeehäusern, während ihrer Freizeit. Sie scheinen dich anzusprechen, mit
einem Lächeln, das von Herzen kommt, auch mit einem stillen Vorwurf, nicht in
jedem Fall als gleichberechtigte Bürger anerkannt zu sein. Auf Seite 100/101
ein Schwarz/Weiß-Foto. Eine Mauer. Ein Baum. Ein Buddelkasten, darauf ein Kind.
Auf der Mauer der Spruch, in großen Buchstaben in deutsch und türkisch: „Leben einzeln und frei wie – ein Baum und brüderlich
wie ein Wald ist unsere Sehnsucht.“ Es steht geschrieben (S. 25), der
Fotograf habe in diesem Band wie mit einem Zauberstab das Kollektiv aufgelöst
und durch Menschen ersetzt.
So
nimmt es nicht Wunder, dass die Textbeiträge in diesem so eindrucksvollen Buch
den Finger auf jene Wunden legen, die die Migranten quälen, ihnen die
Zukunftsaussichten vermiesen, den Hass zwischen ihnen und den Bürgern weiter
fördern. Acht Autoren widmen sich den Themen, wer die Migranten sind, sie
skizzieren an Beispielen den Weg dreier Genrationen, blicken zurück, wie und
warum die Einwanderung 1961 (Anwerbeabkommen mit Italien, Spanien, Griechenland
und schließlich auch mit der Türkei) begann, wie die Herangerufenen von den
Deutschen empfangen wurden, wie die Bilanz nach 50 Jahren aussieht. Dazwischen
wunderbar geistvolle Gedichte, verfasst von dem Türken Yüksel Pazarkaya. Ein
Aha gilt dem „Scharfrichter unter den deutschen Kabarettisten“ Wilfrid
Schmickler mit seinem Gedicht „Wir sind Wir“. Ebenso scharfsichtig und klug
insgesamt die Textbeiträge.
So
zum Beispiel der folgende Schrei in einem Gedicht (S. 37):
(…)
„die
uns bestellten zur arbeit –
wusstet
ihr nicht
dass
nur Tiere oder menschen
arbeitskraft
haben
die
ihr uns nicht für menschen haltet
haltet
uns doch zumindest für tiere
die
ihr so sehr liebt mit euren sanften herzen
und
euren tierschutzvereinen“
Aras
Ören drückt seinen damaligen Schmerz noch deutlicher aus: „Unsere Träume hatten
Risse aber wir schwiegen. (…) Was wir nicht wussten war, daß wir … in diesem
hochentwickelten Industrieland Klassenmenschen sein würden, ganz unten.“ (S.
73)
Dieses
Buch ist nicht für die Unterhaltung bestimmt – es fordert den Leser heraus, es
reißt ihn dort aus der Ruhe, wo Nachdenklichkeit mitunter ins Hintertreffen
geraten ist, es nimmt ihn mit auf eine Reise, seine Mitbürger besser verstehen
und achten zu lernen. Meines Erachtens ein Buch auch – und ganz besonders – für
den Schulunterricht, ja, als kleines Theaterstück denkbar… Dem Buch beigefügt
sind die Kurzviten und Porträts der acht Autoren.
„…doch
der mensch möge nicht sein in der fremde
ohne
hoffnung ohne ausweg ohne einen halt“
„Drei Generationen“:
Herausgeber: Arnd Kolb und Guenay Ulutuncok, Redaktion: Nadja Gawrisewicz,
Copyright, alle Fotos (ohne Vermerk) Guenay Ulutuncok, Mediaproduktion-Köln,
DOMiD, Druck: book factory-Berlin, 1. Auflage Dezember 2012, ISBN
978-3-9811827-0-5
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen