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Angriffe auf
den gesellschaftlichen Zusammenhalt
28. Dezember 2021 Webredaktion
Entsolidarisierung, Gemeinschaft, Genderismus, Gerechtigkeit,
Identität, Solidarität, Staat, Volk
Aus: „FREIDENKER“ Nr.
4-21, Dezember 2021, S. 9-15, 80. Jahrgang
von Matthias
Burchardt
Die von links wie rechts geschürten
„Identitätsillusionen“ zerstören das, was Gesellschaft
ausmacht.
Auf den ersten Blick scheinen Welten zwischen
dem völkischen Konzept der Identitären Rechten und der
Wertschätzung von Vielfalt in der linken Identitätspolitik zu
liegen. Dennoch gibt es bedenkliche Gemeinsamkeiten: Beide
Identitätsmodelle beuten legitime Bedürfnisse von Menschen aus, um
demokratische Gesellschaft zu untergraben. Französische
Modephilosophen wirken hier (un-)freiwillig als Helfershelfer der
globalen Machteliten und auch die Genderprogramme tragen zur Spaltung
der Gesellschaft bei. Unter der Illusion der Freiheit werden
Bindungen zerstört und vereinzelte Menschen schutzlos der
Kontrolle und Ausbeutung ausgeliefert.
Gerechtigkeit
erwächst aus solidarischen Gemeinschaften
Gerechtigkeit ist ein wesentlicher ethischer
Anspruch, den wir an ein politisches Gemeinwesen stellen. Dieser
Anspruch betrifft in einer modernen Demokratie die gesetzgebende,
die rechtsprechende und die ausführende Gewalt
gleichermaßen.
Doch über das geschriebene Recht und seine
Manifestation in den Organen und Abläufen des Staates hinaus, lebt
eine politische Gemeinschaft auch von dem tieferen Bedürfnis
der Menschen nach gerechten Verhältnissen und von ihrer
Fähigkeit und Bereitschaft, nicht nur egoistische
Eigeninteressen durchzusetzen, sondern auch das Wohl der Anderen und
das Gemeinwohl zu verfolgen.
Es ist eine interessengeleitete
Unterstellung der Eliten, dass erst die mäßigende und züchtigende
Macht eines Staates das Motiv der Gerechtigkeit ins Spiel bringt,
ohne welches die Einzelnen sich im Krieg aller gegen alle befänden,
da die Menschen in ihrem Wesen dumm und böse seien. (Vgl. Rainer
Mausfeld: Die Angst der Machteliten vor dem Volk.)
Der
Staat als Zuchtmeister?
Diese staatsphilosophische Annahme steht in der
Tradition von Hobbes, der in seinem Werk ›Leviathan‹ die Gründung
des Staates als Vergesellschaftung von egoistischen Einzelkämpfern
unter der wohltuenden Repression einer allmächtigen Regierung
erzählt. So plausibel sich dieser Übergang von einem wilden
Naturzustand, wo der Mensch des Menschen Wolf war, zu einer
friedlichen, zivilisierten Zeit auch anhört, so problematisch
sind doch die Grundannahmen: Der Mensch sei in seinem Wesen Egoist
und soziale Beziehungen hätten implizit oder explizit immer den
Charakter des Kriegerischen, da jeder ausschließlich auf den
eigenen Vorteil aus sei.
Staatliche Gemeinschaft wäre demnach
eine notwendige Zwangsform, welche die solitären Egoisten
miteinander versöhnt. Dieser Ansatz verkennt aber die
anthropologische Einsicht, dass der Mensch nicht nur Einzelner,
sondern immer auch ein Sozialwesen ist, dass er immer schon
Gemeinschaften entstammt und in diesen existiert. Das heißt,
die Frage nach gerechten Verhältnissen für alle wird nicht erst
durch staatliche Verfassungen hervorgebracht, sondern diese
Verfassungen antworten auf das vorausliegende elementare
Gerechtigkeitsbedürfnis der sozialen Gemeinschaften.
Mehr
noch: Sollten sich die Eliten oder Institutionen anmaßen, ihre
Macht bloß für die eigenen Interessen und nicht dem Allgemeinwohl
gemäß zu nutzen, kann das tiefere Gerechtigkeitsgefühl der
Menschen zu einer politischen Empörung führen und entsprechenden
Druck auf die Regierenden aufbauen. Hannah Arendt weist in ihrem
Essay über ›Macht und Gewalt‹ darauf hin, dass es nicht die
Verletzung der Egoismen ist, die politisches Engagement hervorbringt,
sondern die Verletzung des Gerechtigkeitsgefühls von
Betroffenen wie Nicht-Betroffenen.
Aus gutem Grund verbindet
das Motto der Französischen Revolution ›Liberté, Egalité,
Fraternité‹ deshalb die Freiheit und die Gleichheit mit dem Moment
der Brüderlichkeit, also einer vorpolitischen Gemeinsamkeit,
aus der Mitempfinden, Gerechtigkeit und Solidarität folgen. Würde
die Demokratie nur aus Freien und Gleichen bestehen, könnte eine
Mehrheit mit gleichen Interessen gnadenlos auf Kosten einer
Minderheit regieren. Es ist das Moment der Brüderlichkeit, das dem
Einzelnen den Gerechtigkeitssinn und den demokratischen Prozessen die
Verpflichtung auf das Allgemeinwohl und den Schutz der
Minderheit einschreibt.
Ohne die Rückbindung an elementare
Brüderlichkeit und den Gerechtigkeitsauftrag verkommt der
demokratische Staat zu einer kalten Mehrheitsmaschine, wo die
Zufriedenstellung einer Mehrheit zu Lasten der Minderheit als
Gerechtigkeit ausgegeben wird.
Die gegenwärtige politische
Lage trägt Momente dieser politischen Verfallsform: Eine als
›Modernisierungsverlierer‹ diffamierte Gruppe von Menschen
ohne Perspektive und ohne eigene Stimme im politischen Diskurs macht
zumindest auf dem Weg der Wahlurnen auf sich aufmerksam und spült
zur Bestürzung und Überraschung der propagandistisch eingelullten
Mehrheit (vgl.: Rainer Mausfeld, Warum schweigen die Lämmer?)
Figuren mit unklarer Agenda in Parlamente und höchste
Regierungsämter.
Entsolidarisierung und die Stunde der
Rattenfänger
Fatal ist in diesem Zusammenhang, dass der
öffentliche Diskurs dies nicht zum Anlass nimmt, ernsthaft nach den
Nöten dieser Gruppen und den ursächlichen sozialen Verwerfungen
zu fragen, sondern in einer perfiden Verdrehung dient genau das
Kreuz in der Wahlkabine dazu, die Sorgen und Bedürfnisse dieser
Menschen als illegitim und sie selbst als unerwünschte Figuren im
politischen Raum darzustellen, eben weil sie bspw. AfD-Wähler
sind, womit sie sich ja scheinbar selbst disqualifizieren.
Diese
Gerechtigkeitsproblematik, die aus einem blinden Fleck der
demokratischen Parteien herrührt, ist aber nun gerade der Nährboden
für populistische Angebote von rechts, die durch gezielte
sprachliche Provokationen davon profitieren, dass brennende
sozialpolitische Fragen im politischen Raum tabuisiert oder mit einem
propagandistischen Spin versehen werden.
Neben den
konkreten prekären Lebenslagen wird den
›Modernisierungsverlierern‹ vor allem ihr Bedürfnis nach
ökonomischer Sicherheit, sozialer Geborgenheit, regionaler und
kultureller Beheimatung zum Verhängnis: Die postmoderne offene
Gesellschaft fordert den entwurzelten und kreativen
Selbstunternehmer, der die Unverbindlichkeit als Ungebundenheit
genießt und beruflich flexibel zwischen Standorten nomadisiert. Oder
er arbeitet via Internet – dank interkultureller Kompetenz –
mehrsprachig in multinationalen Projektteams, zusammengespannt
durch den global harmonisierten Workflow in der universellen
Grammatik des neoliberalen Projektmanagements. Sein politisches
Engagement vollzieht sich intellektuell und symbolisch kanalisiert
und in seinem Konsumverhalten weiß er Hedonismus mit politischer
Korrektheit zu verbinden.
Der Modernisierungsverlierer dagegen
raucht, isst Fleisch, spricht politisch inkorrekt und versteht nicht,
warum nach vielen Jahren der Austeritätspolitik, Verfall der
öffentlichen Infrastruktur, dem Verkümmern des Sozialstaates
und Entsolidarisierung ausgerechnet Banken gerettet oder Kriege
geführt werden müssen und warum plötzlich Willkommenskultur
herrscht und Milliarden für die Integration für Flüchtlingen da
sein sollen.
Ideologische Lockangebote von rechts
Ein Orientierungsangebot in den Zeiten radikaler
Unsicherheit bietet das rechte Konzept des Völkischen. Dieses setzt
bei dem zutiefst menschlichen Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu
einer sinnstiftenden Gemeinschaft an, aber wendet es ins
Ideologische und Instrumentelle. Das heißt, das Moment der
Brüderlichkeit, welches Gemeinsinn, Solidarität und
Gerechtigkeit gewährleisten könnte, dient bloß dazu, Menschen
zu ködern, um sie für den eigenen Willen zur Macht zu missbrauchen.
AfD verfolgt hinter der Fassade der Rückbesinnung auf nationale
Gemeinschaften letztlich eine zutiefst neoliberale Agenda, deren
sozialpolitische Folgen zulasten der eigenen Klientel gehen
würden. Dies ist nicht zuletzt im Gespräch von Sahra Wagenknecht
mit Frauke Petry sehr deutlich geworden.[1]
Terror der
Identität
Der ideologische Begriff des Volkes, wie ihn etwa
auch die sogenannte Identitäre Bewegung verwendet, ist politisch wie
theoretisch in mehrfacher Hinsicht problematisch. Das Problem
liegt weniger in der typisierenden Verwendung des Konzepts, wie
man es ja – durchaus humorvoll – auch auf landsmannschaftliche
Herkünfte bezieht: Rheinländern, Schwaben, Bayern und anderen
werden oft Klischees zugesprochen, die dann als Ausgangspunkt von
Gesprächen herhalten können und schließlich durch die jeweilige
Person bestätigt oder widerlegt werden.
Philosophisch
gesprochen handelt es sich hierbei um einen hermeneutischen Prozess,
also um ein Verstehen, das von einem bewusst unscharfen
Vorverständnis ausgeht und sich auf Vertiefungen und
Differenzierungen freut. Problematisch ist die Behauptung einer
völkischen Identität, etwa eines Wesens des Deutschen, insbesondere
dann, wenn es mit Abwertungen gegenüber anderen Nationen und deren
Vertretern verbunden wird. Die Vorstellung eines unveränderlichen
und eindeutigen Nationalcharakters, der in allen Bürgern
am Werke sei, ignoriert die Geschichtlichkeit und
Vielgestaltigkeit politischer Gemeinschaften. Nationen sind
nicht vom Himmel gefallen, sondern sind eine historische Folge
kriegerischer Konflikte oder politischer Gründungsakte, denen stets
etwas Zufälliges innewohnt.
Dabei kann es sein, dass
kulturelle Gemeinsamkeiten, religiöse Überzeugungen oder eine
geteilte Sprache ein Bindeglied bilden, muss es aber nicht. Wer also
eine völkische Identität behauptet, homogenisiert das
Vielgestaltige und Unähnliche. Ich möchte dies den Terror der
Identität nennen, die Gleichmacherei durch Zerstörung oder
Aussonderung des Abweichenden. Verbrecherisch am deutschen
Nationalsozialismus ist insofern weniger die Bezugnahme auf das Volk
als einer Gemeinschaft als vielmehr die ideologische Aufladung
dieser vorpolitischen Sphäre mit Konzepten von Nationalcharakter und
Rassenlehre im Sinne eines Terrors der Identität.
Während
das Grundgesetz der Bundesrepublik das Volk als Souverän und
Subjekt postuliert: ›Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.‹, sah
es bei den Nationalsozialisten genau umgekehrt aus: Das Volk ist
Objekt, Projekt und Produkt gewalttätiger Formungen durch eine
Machtclique in einem autoritären Staatsapparat: Holocaust,
Eugenik, Euthanasie, Vertreibung, Verfemung, Zensur,
Bücherverbrennungen, Propaganda, Gleichschaltung von
Wissenschaft, Medien und Kultur, waren biopolitische und
sozialtechnologische Instrumente zur Herstellung von Homogenität
durch Tilgung von Vielheit.
Dabei lag die Definitionshoheit
dessen, was diese Identität ausmachte, gerade nicht beim Volk,
sondern in den Händen der Ideologen. Identität, im Sinne von
Einheitlichkeit, wurde nicht in der bestehenden politischen
Gemeinschaft aufgesucht, sondern gnadenlos interessengeleitet
konstruiert. Damit ist ein weiteres Problem verbunden: Die
Erschleichung einer Legitimation durch die Behauptung, ein Sprachrohr
des Volkswillens zu sein.
Populisten erheben sich mit markigen
Worten zu Anwälten der Ausgegrenzten und sprechen dann als
Auguren vermeintlich ›im Namen des Volkes‹. Anders aber als ein
Richter tun sie dies nicht aus einer demokratisch kontrollierten
und legitimierten Amtsrolle heraus, sondern in einer übergriffigen
Vereinnahmung, welche gar nicht mehr an einem vielstimmigen
demokratischen Aushandlungsprozess interessiert ist.
Gegen
Kritik immunisiert man sich dann dadurch, dass man demokratischen
Gegenrednern unterstellt, sie seien ›Volksverräter‹. Damit
aber erweist sich das völkische Konzept als gewaltsam
homogenisierte Identität, als ein Machtmittel der Wenigen gegen die
Vielen.
Identitätspolitik und der Terror der Differenz
Eine andere Strategie zur Brechung der Macht der
Vielen besteht im Terror der Differenz. Divide et impera! Teile –
oder besser: spalte! – und herrsche! Da die Macht der Vielen aus
ihrer Brüderlichkeit erwächst und zu einem einvernehmlichen Handeln
führen kann, hätten die Machteliten dem wenig
entgegenzusetzen. Deshalb säen sie Zwietracht und schüren
Konflikte zwischen den Unterworfenen, damit diese nicht zueinander
finden, um gemeinsam ihre demokratischen Ansprüche durchzusetzen.
Geheimdienste, Stiftungen und Think Tanks setzen systematisch auf die
Kraft der Zersetzung.
Im geostrategischen Interesse etwa
werden regionale Konflikt zwischen ethnischen und religiösen Gruppen
forciert, um in widerspenstigen Staaten einen ›Regime Change‹
herbeizuführen, damit der Zugriff auf Rohstoffe und die Errichtung
von Militärbasen möglich wird. Die militärischen Eingriffe
lassen sich der heimischen Öffentlichkeit sogar moralisierend
als ›humanitäre Kriege‹ verkaufen. Nicht selten hinterlassen
solche Interventionen dann statt der versprochenen Demokratien
›failed states‹, gescheiterte Staaten, in denen trotz
etablierter Institutionen kein Gemeinwesen zustande kommt, das diese
Strukturen trägt und mit Sinn erfüllen kann.
Als Variante
des Soft-Terrors erscheint die Fragmentierung von Gesellschaften in
identitätspolitisch bewirtschaftete Gruppen. Dies ist insofern
perfide, weil sich der spaltende Machtwille hinter
Wissenschaftlichkeit und Moralismus verbergen kann, und damit
das Gerechtigkeitsbedürfnis der Menschen ebenso ausbeutet, wie
die völkische Ideologie den Gemeinschaftssinn.
Unter den
strategischen Vokabeln von „Vielfalt“, „Heterogenität“ oder
„Diversity“ wird im sozial-kulturellen Bereich das Trennende und
die Trennung kultiviert. Den meist wohlmeinenden Akteuren wird damit
ein sezierender Blick eingepflanzt und ein Sprachkorsett auferlegt,
dem sie sich einerseits unterwerfen müssen, das ihnen
andererseits aber die Möglichkeit gibt, selbst andere zu
unterwerfen.
Der programmatische Hintergrund dieser
Machtpraxis wurde insbesondere von französischen
Modephilosophen des Poststrukturalismus geliefert. Im Namen von
„Diskurstheorie“ und „Dekonstruktion“ wurde von diesen
nicht nur die Philosophiegeschichte abgearbeitet (und gewissermaßen
entsorgt), sondern auch jegliche Voraussetzungen für linke
Widerstandspolitik und einen humanistischen Gegenentwurf zum
Bestehenden zerlegt. Modelle von Wahrheit, Aufklärung,
Gerechtigkeit, Vernunft, Emanzipation, Kritik, Ethik,
Menschenrechte und sogar die Fähigkeit des Menschen als Person oder
Gemeinschaft Urheber von politischen Veränderungen sein zu
können, werden radikal bestritten. Für Michel Foucault etwa sind
dies keine unumstößlichen Konzepte, sondern bloß zufälliger
Ausdruck von anonymen Machtdiskursen, die den Menschen steuerten,
ohne vom Menschen gesteuert zu sein.
So hilfreich diese
Analysen sein mögen, um die verborgenen Interessen hinter
wohlklingenden Begriffsfassaden auszumachen, so vernichtend sind
die Kernthesen: Es gibt keine Wahrheit. Es gibt keine Vernunft. Es
gibt kein Subjekt. Es gibt keinen Menschen. Es gibt keine Aufklärung.
Es gibt keine Dialektik. Es gibt keine Geschichte, die wir zum Guten
wenden können. Wir alle sind bloß Marionetten, die von der
unsichtbaren Hand des Diskurses gespielt werden.
So abstrus
diese Thesen für Außenstehende klingen mögen, für die
Wissenschaftlergeneration, die momentan die geistes- und
sozialwissenschaftlichen Lehrstühle besetzt, haben sie – trotz der
Behauptung, es gäbe keine Wahrheit – unumstößliche Geltung.
Inwieweit die breite und tiefe Wirkung dieser Programme auch eine
Folge von interessierter Wissenschaftspropaganda durch Geheimdienste
und Konzerne ist, wäre eigens zu untersuchen. In Summe
jedenfalls ist damit der Boden für den Siegeszug des Neoliberalismus
bereitet worden. Bernd Stegemann bringt es im ›Gespenst des
Populismus‹ auf den Punkt:
„Die Linken sitzen
offensichtlich in einem Kerker, den das postmoderne Denken für sie
gebaut hat. Ob die Dekonstruktion linken Denkens in der Realität
tatsächlich so planvoll ablief, wie der französische Soziologe
Didier Eribon in seinem Buch „D’une révolution conservatrice“
beschrieben hat oder nicht, seine Zuspitzung bringt die Dimension des
Problems auf den Punkt: ‘In den Achtzigern haben linke
Neokonservative mit Investorengeld Konferenzen organisiert,
Seminare gegeben und mediale Debatten angezettelt mit dem Ziel, die
Grenze zwischen rechts und links zu verwischen. Das war eine
konzertierte Kampagne. Sie wollten all das abschaffen, worauf sich
linkes Denken gründet: den Begriff der Klasse, die soziale
Determination, die Ausbeutung der Arbeitskraft etc. Heute sehen
wir, dass sie zum größten Teil erfolgreich waren.‘“
Genderismus
Exemplarisch soll im Folgenden der Soft-Terror der
Differenz am Beispiel des Gender-Programms verdeutlicht werden.
Ausgangspunkt ist eine durchaus zutreffende Feststellung,
jene nämlich, dass Geschlecht im sozialen Raum nicht allein durch
biologische Befunde erklärt werden kann. So gibt es gesellschaftlich
formulierte und historisch wandelbare Geschlechterrollen, die –
wenn auch nicht ausschließlich – Ausdruck von Macht sein
können.
Im Sinne des oben dargelegten Terrors der Identität
können sie auf den Einzelnen repressiv wirken. Der
Prä-Gender-Feminismus formulierte daraus ein Emanzipationsprogramm,
das soziale Zuschreibungen und Vorschriften zurückwies und den
Frauen damit die Deutungs- und Gestaltungshoheit über ihre
Weiblichkeit zurückgab.
Der Genderismus aber radikalisiert
diesen Ansatz im Dunstkreis der Postmoderne, indem das Geschlecht
komplett als Produkt gesellschaftlicher Konstruktionen betrachtet
wird. Damit verlässt er den Bereich der Theorie, also der
Erkenntnis, dessen was der Fall ist, und wird zu einem
gesellschaftspolitischen Programm, das etwa die Erkenntnisse der
Biologie und anderer Wissenschaften insgesamt für ungültig
erklärt, wenn es um Geschlechterfragen geht. Dabei wäre eine
Integration der Ansätze, also die Realität und Sozialität des
Geschlechtes, relativ schnell zu leisten, wenn man von
gesellschaftlichen Interpretation anhand natürlicher Grundlagen
spräche. Diese Leugnung einer geschlechtlichen Existenz, die
man zwar deuten, aber nicht selbst erschaffen kann, hat
weitreichende Konsequenzen.
Wenn Geschlecht keinen
Anhaltspunkt mehr im Sein der Menschen hat, sondern nur
gesellschaftlich produziert wird, kann es beliebig ausgestaltet
und pluralisiert werden. Die einschlägigen Geschlechter des
Genderismus gehen in die Tausende und sind letztlich nur
begrenzt durch die Anzahl der Menschen auf der Erde.
Die
Überführung der Geschlechtlichkeit in die virtuelle Welt sozialer
Zeichen führt zu einer Entfremdung von der leiblichen Realität des
eigenen Geschlechts, das ja nicht nur biologischer Befund ist,
sondern auch eine Weise, wie wir dem anderen und uns selbst
begegnen.
Die biologische Dualität von Mann und Frau, die
selbst im Tierreich Zwischenformen und homosexuelle Beziehungen
kennt, trägt anthropologisch gewendet immer eine Beziehungsqualität
in sich. Als einzelne Person bin ich geschlechtlich auf den
erotischen Anderen und die generationale Gemeinschaft verwiesen. Die
›Brüderlichkeit‹ der Aufklärung spielt metaphorisch mit
der Verwandtschaft der Menschen einer Generation, die ihre
Existenz allesamt nicht einer sozialen Konstruktion, sondern dem
realen Geschlechtsverkehr ihrer Eltern verdanken. Durch den
Genderismus werden im Namen einer vermeintlichen Freiheit die
sozialen Bindungen zerschlagen und wird den Menschen der
Rückhalt gegen den Zugriff von Macht und Ausbeutung
entzogen.
Erneut Stegemann:
„Auch
die Linken fallen noch immer auf den Zirkelschluss der postmodernen
Freiheit herein: Das Kapital arbeitet an der Verflüssigung aller
Verhältnisse, um möglichst ungehinderten Zugang zu Märkten
und Ressourcen zu haben, und zugleich entsteht die Globalisierung als
ein Projekt des grenzenlosen Kapitals. Nun kommt eine Theorie
aus den Geisteswissenschaften dazu und beschreibt die Globalisierung
nicht als ökonomisches Projekt, sondern als willkommene
Dekonstruktion aller Bindungen – wie Identität, Nation,
Geschlecht oder Ethnie – und verleiht damit der Deregulierung des
Kapitals die höheren Weihen einer globalen
Freiheitsbewegung.“
Zum einen wird das stärkende
Moment einer menschheitlichen Verwandtschaft getilgt, zum
anderen werden im Gegenzug unzählige Mikrokonflikte als
Ersatzschauplätze zur Erringung von „Gerechtigkeit“ geschaffen.
Welche politische Bedeutung hat zum Beispiel die folgende Meldung:
Lesbische Frauen verdienen nach einer australischen Studie
um 13 Prozent mehr als heterosexuelle Frauen?[2]
Statt die
Prozentzahlen des Einkommens der Gendertypen zu registrieren, zu
vergleichen und ggf. zu korrigieren, stünde doch eigentlich die
Frage auf der Tagesordnung, welche verheerenden Folgen der
Neoliberalismus global und lokal anrichtet, und wie ungerecht
sich Macht und Wohlstand auf einen geringen Prozentsatz der
Weltbevölkerung konzentrieren.
Je stärker die wenigen
Mächtigen die Vielen aber in Mikrokonflikte verstricken und
gegeneinander ausspielen, durch Sprachpolitik in der
Artikulation steuern und in jeder nur denkbaren Hinsicht
„Unterschiede“ zwischen den Unterworfenen hervorbringen, umso
mehr verschwindet das Solidaritäts- und Gerechtigkeitsmotiv des
Gemeinsamen.
Der Genderismus bewirkt eine nachhaltige
Irritation der politischen Gemeinschaft in Denken, Handeln und
Sprechen. Die beziehungsstiftende und stärkende Kraft der
geschlechtlichen Existenz wird durch Verunsicherung und
Misstrauen vergiftet, die Bindung an Gemeinsames aufgelöst und die
Menschen werden zu orientierungslosen Genderpartikeln
isolisiert.
Fazit
Welche Folgerungen sind aus diesen Abwägungen zu
ziehen? Es ist deutlich, dass an beiden Seiten der Achse von
Identität und Differenz politische Gefährdungen lauern. Das
demokratische Gemeinwesen und seine Bürger leben von der produktiven
Dialektik zwischen Gemeinschaft und Individuum, von Identität und
Differenz. Der Frankfurter Politikwissenschaftler Andreas Nölke hat
seiner Analyse ›Grundlinien einer linkspopulären Position‹
eine ›Repräsentationslücke‹ im deutschen Parteiensystem
ausgemacht und sieht die ›Notwendigkeit einer linkspopulären
Gruppierung‹. Der mehrfach zitierte Bernd Stegemann möchte diesen
blinden Fleck der Linken durch eine Wiedergewinnung des
Klassenkonzeptes füllen.
In welcher Form auch immer: Es
sollte dringend nach einer vertretbaren Form des altbekannten
Brüderlichkeitsmotivs als Horizont und Bedingung von Gerechtigkeit
gesucht werden, damit weder der Terror der Identität noch derjenige
der Differenz die Herrschaft der Wenigen über die Vielen
zementiert.
Wir brauchen keinen Kampf der tausend
Partikularinteressen gegeneinander. Wir brauchen eine
Auseinandersetzung um das Oben und Unten in der Gesellschaft, um Arm
und Reich und die Herrschaft der Wenigen über die Vielen, die
dringend auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt gehört.
Dr.
Matthias Burchardt, Köln, ist Philosoph und Publizist
Quellen
[1]
https://www.sahra-wagenknecht.de/de/article/2432.streitgespräch-zwischen-sahra-wagenknecht-und-frauke-petry.html
[2]
https://www.smh.com.au/business/the-economy/the-gay-pay-gap-men-earn-less-but-women-earn-more-20150227-13qmxk.html
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Matthias Burchardt: Angriffe auf den
gesellschaftlichen Zusammenhalt (Auszug aus FREIDENKER 4-21, ca. 308
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