Die Bewegung „Aufstehen“ will sammeln ohne zu spalten.
von Daniela Dahn
Sie könnte den pflichtvergessenen Parteien Dampf machen und so neue Mehrheiten schaffen.
Angesichts der postdemokratischen Auflösungserscheinungen im Lande, in Europa und in der Welt wollen sich viele Menschen mit den mangelnden Möglichkeiten zu Einmischung und Selbstermächtigung nicht mehr abfinden. Gerade im weitesten Sinne Linksorientierte wollen nicht in Ratlosigkeit und Resignation verharren. Das zeigt der große Widerhall, den die Idee einer Sammlungsbewegung schon in den ersten Tagen des Registrieren-Könnens erfährt. Bislang war für Hunderttausende die einzige Möglichkeit, ihre Veränderungswünsche durch Resolutionen und Appelle an die Politiker zu erbitten. Das war mitunter nicht ohne Wirkung, befriedigt aber das Bedürfnis aktiv mitzugestalten nicht.
Dazu sind die noch aus dem vorigen Jahrhundert mitgeschleppten und aufgestauten Probleme zu grundsätzlich. Ob eine vernünftige Politik die Bürger vor dem globalen Finanzkapitalismus schützen kann, ist bisher nicht bewiesen. Denn die Macht der Wirtschaft ist größer als die der Politik. Die zersplitterte nationale und internationale Linke stellt derzeit keine konzept- und handlungsfähige Opposition dagegen dar. Opposition aber ist die Seele der Demokratie.
Der Auftrag der Sammlungsbewegung wäre, das Primat der Politik zurück zu erobern. Kann man dafür sammeln ohne zu spalten? Den drei quasi -linken Parteien im Bundestag war bisher die Kultivierung ihrer Unverträglichkeiten wichtiger als das Ergreifen einer gemeinsamen Veränderungsoption. Dabei sind die programmatischen Schnittstellen nicht gering. Es bleiben dennoch markante Unterschiede, innerhalb und zwischen den Parteien. Insbesondere in der Friedens- oder Interventionspolitik, in der angeblichen Notwendigkeit von Rüstung und deren Export. Hier ist auch die Kluft zwischen dem Willen der Wähler und deren Repräsentanten besonders groß.
In solches Vakuum könnten Bewegungen vordringen und damit Abgeordnete ermutigen, ihr vermeintlich freies Mandat mehr am Wählerauftrag zu orientieren als an den Partei-Hierarchien. Außerparlamentarischer und außerpropagandistischer Druck muss klarstellen: Parteien, Parlament und Regierung sind dem Gemeinwohl verpflichtet. Und zwar nur diesem – im Gegensatz zur Wirtschaft, die pflichtschuldig nur der Rendite ist. Diese dient nur dann dem Gemeinwohl, wenn sie gerecht verteilt wird. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist ein sicheres Maß dafür, wie ungezügelt die vermögende Elite schaltet und waltet.
Das Kapital hat seine internationale Sammlungsbewegung schon vor etwa Zweihundert Jahren begonnen. Und die Internationale der Rechtspopulisten ist dabei, diesem Vorsprung nachzueifern. Sie vereinnahmt Gramscis Theorie vom Kampf um die kulturelle Hegemonie und beansprucht die Interpretationshoheit. Wenn ein jegliches seine Zeit hat, dann ist sie gekommen für ein linkes öffentliches Think tank. Es geht um Emanzipation, um Gegenhalten, um Aufstehen. Dem sich ein aufrechter Gang anschließt. Über dessen Richtung eine allen Sympathisanten offen stehende Denkwerkstatt ohne hierarchische Strukturen und Tabus beraten sollte.
Dabei muss nicht am Nullpunkt angefangen werden, es gibt kompetente Bürgerbewegungen, Forschungs- und Gesprächskreise, die seit Jahren alternative Entwürfe vorlegen, auch zur Öffnung der Demokratie für mehr Bürgerbeteiligung. So diskutierten wir im Willy-Brandt-Kreis die Anregung des damaligen Direktors des Hamburger Friedensforschungsinstitutes, Dieter S. Lutz, nach der Parteien nicht der einzige Repräsentant des Gemeinwesens sein sollten. Zusätzlich zum Generallistenparlament schlug er ein dem Druck der Interessen entzogenes Expertenparlament vor, einen Zukunftsrat. Über dessen Wahlmodus und Zuständigkeit wäre gemeinsam nachzudenken. Auch darüber, ob es seine Unabhängigkeit durch Verzicht auf Diäten bewahren könnte. Aufwandsentschädigung sollte genügen. Diese Kammer könnte sowohl das Initiativrecht für Gesetze haben als auch ein Veto-Recht, um Politik und Kapital in den Arm zu fallen. Ein solches Gremium wäre der Ort, etwa Klima- und Friedensforschern regelmäßig das Wort zu erteilen.
Ergänzend sollte auch Gregor Gysis Jahre zurückliegender Vorschlag von der, nicht zufällig von LINKEN initiierten, Sammlungsbewegung diskutiert werden: neben dem Bundestag eine Kammer der sozialen Bewegungen zu wählen. Solche Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie bedürfte einer Grundgesetzänderung. Aber wenn der Druck dafür groß genug ist, wird es sich jede Partei überlegen müssen, ob sie sich dem Anspruch auf mehr Bürgerbeteiligung entgegenstellt. Und damit den Eindruck vertieft, die Vertretung des Volkes gegenüber den Eliten habe vermeintlich die AfD übernommen.
Eine solche Kammer wäre mit der Hoffnung verbunden, dass dort die Debatten geführt werden, die man im Parlament vermisst. Hier würde etwa die Friedensbewegung nach dem Sinn von all den Regime Changes fragen, die oft ins Chaos, aber nie in eine Demokratie geführt haben. Stärker hinterfragt würde wohl die US-dominierte NATO, die ohne konkrete Bedrohungs- und Bedarfsanalysen Rüstungsforderungen stellt, die auch als Bestandteil des Wirtschaftskrieges gegen Europa gedeutet werden können. Für diese Bürgerkammer könnten sich all die bewerben, die das Gefühl haben, nicht gehört zu werden: Arbeitslose und Gewerkschaftler, Mieter und Bürgerrechtsanwälte, Klein- und Mittelstandsunternehmer, Künstler, Seenotretter und Migranten.
Denn schließlich dürfte die Sammlungsbewegung, in welcher Kammer auch immer, keinen Zweifel daran lassen, dass die Folgen westlicher Lebensweise und postkolonialer Politik Hauptursache für viele Flüchtende sind, ihre Heimat zu verlassen. Schon deswegen haben wir die moralische Verpflichtung, gegenüber denjenigen, die sich unter Lebensgefahr bis zu uns durchgeschlagen haben, mitfühlend und entgegenkommend zu sein. Die praktischen Schwierigkeiten der Aufnahme verlangen genauso viel Beachtung. Ohne Solidarität keine Heimat. Die Geflüchteten erteilen uns eine Lektion, die zu ignorieren sich niemand, und schon gar nicht versammelte Erneuerer, leisten können.
Um mitzumachen, muss und kann man gar nicht einer Meinung sein. Der gemeinsame Wille zur Veränderung mag vorerst genügen. Da werden sich auch einige ungebetene Gäste einfinden, was zu verkraften ist, wenn die Stichhaltigkeit des Argumentes ausschlaggebend ist. Es soll an vereinter linker Kraft nicht interessierten Kreisen kein weiteres Mal gelingen, ein Zusammengehen zu verhindern, wie unlängst bei der alten und jungen Friedensbewegung. Einem Neuaufguss der unseligen Querfrontdebatte durch das Hochspielen einiger weniger Trittbrettfahrer, sollte von Anfang an eine Absage erteilt werden.
Keine Experimente mehr, schallte es 1989 von konservativer Seite, um das neoliberale Experiment ungestört durchziehen zu können. Verändert wird in Umbruchsphasen allemal, fragt sich nur, wer in wessen Interesse agiert. In einem solchen historischen Moment plötzlich ohne Konzept dazustehen, ist eine traumatische Erfahrung der DDR-Bürgerrechtsbewegung. Sie bedarf keiner Wiederholung.
„Aufstehen“ wäre auch die Suche nach der zu gewinnenden Zeit. Bleibt zu hoffen, dass sie gelingt. Ein Experiment. Kein Spiel. Denn Vorsicht, allzu viele Versuchsanordnungen hält die diesseitige Geschichte womöglich nicht mehr bereit. Wird die Chance verspielt, rette sich wer kann: Der Wald steht schwarz und schweiget.
Redaktionelle Anmerkung: Der Artikel erschien zuerst am 18./19.8. im Neuen Deutschland.
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