Verleger-Latein
Buchtipp von Harry Popow
Man möge sich wundern über ein solches Projekt, und doch ist es interessant: Die beiden Autoren Barbara Kalender und Jörg Schröder, beide kommen aus dem Verlagswesen, wollen den Leser mitnehmen auf eine Zugreise ohne ein bestimmtes Ziel. Eine Erlebnisreise, die erst nach gedachten neunzig Kilometern endet und alle tausend Meter hält. An Bahnstationen, sprich Episoden, die langweiliger nicht sein können, und an Bahnhöfen die nur so strotzen von Leben. Lässt du dich auf so eine Fahrt ein, dann lässt du den Alltag hinter dir, dann lässt du dich fallen in die stille Erwartung eines Nichts und du spürst, da ist noch mehr zu entdecken als im hektischen Einerlei des manchmal so grauen Alltags.
Einschläfernd und ermüdend können sie sein, solche Bahnfahrten.
Nicht aber, wenn du hellwach bleibst bei jedem Halt und Ironie zu
entdecken und zu genießen weißt. Da bleibt ein Netzstecker siebzehn
Stunden in der Dose, lässt das Bügeleisen glühen und nichts passiert.
Und schon konstatieren die Autoren, Tschechow aus den „Drei Schwestern“
zitierend, ob das Leben erst einmal im Unreinen gelebt werden müsse. Auf
Seite 37 geißeln die Autoren die „Doofheit der Medienmacher“ und
schreiben von Wasserwerken, „die ja in Wirklichkeit Atomminendepots
entlang der Zonengrenze waren...“ Banale Beobachtungen – wie etwa
Redewendungen wie „Fotzenlecker“ in der Ringbahn – werden zur Frage an
das Leben: Sich empören, verwundern oder gleichmütig bleiben. Nicht
gleichgültig bleiben die Autoren, wenn sich Schizophrenie ausbreitet
dergestalt, dass der Verfassungsrichter Voßkuhle vor der Verharmlosung
des DDR-Unrechtsstaates warnt aber gnädig meint: „Dennoch haben die
Menschen dort auch schöne Momente erlebt.“ Was Voßkuhle übersieht, die
Leute fühlen sich „durch die Abwicklung ihrer Produktionsmittel
gedemütigt. (…) Es ging nicht nur um schöne Momente!“, so Jörg Schröder.
(S. 47/49)
Oder wenn sich der Wohnort in Berlin-Mitte als Brennpunkt eines
früheren literarischen Lebens erweist. Oder wenn in einem
„Kinderkampfwagen“ plötzlich ein Ursprung des Faschismus entdeckt wird.
Oder wenn über Scharlatane geschrieben wird, die mit Tricks Doktortitel
gegen hohe Summen „verabreichen“.
Doch an welchen Bahnstationen du auch die Augen offen hältst, dir
fallen vor allem der Witz und die kritische Ironie der Autoren auf. Da
wird beispielsweise von Kumpeln aus dem Ruhrgebiet berichtet, die
während einer vielbesuchten Pressekonferenz zu einem Manuskript über den
Alltag der Bergarbeiter die Diskussion mit den sie bewegenden Problemen
ganz und gar an sich rissen und die Romanfiguren links liegen ließen.
Man merkt den Autoren deren Sympathie für die Kumpel an – ohne jegliche
Ironie.
Gespannt wartet man auf den Haltepunkt, als die Titelgeschichte
„Kriemhilds Lache“ ins Bild gerät. Das ist pure Sahne. Da gerät der
Rassenhass einiger Rechter in den Fokus, so dicht erzählt, so aufregend
stilistisch gekonnt, dass man sich diese Art der Polemik noch öfter
wünschte: Es geht um die Erinnerung an die erste Lichterkette gegen
Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit im Dezember 1992 unter dem
Motto „München – eine Stadt sagt NEIN“. Und es geht um Beobachtungen des
Autorenpaares am Lech, wo sie wohnten. Da „grölte das Glatzenpack“, da
gab es Nazikonzerte im Dorfsaal, die zum Treffpunkt der Rechten wurden.
Mit „der augenzwinkernden Zustimmung von Saalbesitzern und
Dorfbewohnern“. (S. 224) Ein Bundeswehrsoldat riss den rechten Arm hoch.
Die Autorin Barbara: „Sie wissen, dass der Hitlergruß verboten ist!
Wenn sie nicht sofort die Nazimusik ausmachen und verschwinden, sind sie
fällig!“ Der Kerl „gab Gummi“. „Barbara schickte ihm eine Verwünschung
hinterher, begleitet von einem Lachen, das einer Kriemhild würdig
gewesen wäre.“ (226)
Während der gesamten „Zugreise“ triumphiert die gelassene Neugier,
bei der man auch kleine Banalitäten in Kauf nehmen muss. Die Autoren
stellen sich und ihr Verlagsmilieu dar und sprechen besonders Insider
an, die die Szene kennen - im Verlagswesen und bei Querelen zwischen
Intellektuellen. Zugegeben, Geschichten sind die wenigsten, eher
Randbeobachtungen, Randglossen, allerdings nicht ohne Hintersinn, der
sich dem Leser erst erschließen muss. Das Verleger-Paar zeigt eine
feinsinnige Beobachtungsgabe, seinen Scharfsinn, anknüpfend an
Äußerlichkeiten, sprich Erscheinungen, Antennen in die Geschichte
ausfahrend. Mitunter mit Namen und Hintergründen, die dem Leser nicht
immer geläufig sind.
„Kriemhilds Lache“ ist ein beachtenswertes Politikum, auch wenn von
den auf der Seite 248 diskutierenden Literaten von der These der
Politisierung der Kunst niemand etwas hören will... Sei´s drum. Man wird
sich doch wohl nicht selbst auf die Schippe nehmen wollen. Dennoch:
Befriedigt wird der Leser nach 90 Stationen dieser bestaunenswerten
Literaturreise die Endstation erreicht haben. Mit positiven und weniger
erträglichen Eindrücken. So ist das Leben: Das Banale und das
Großartige, das Tiefsinnige. Sowohl als auch. Eben Verleger-Latein...
Die Autoren: Barbara Kalender, geboren 1958 in Stockhausen
(Hessen), trat 1981 in den März Verlag ein. Jörg Schröder, geboren 1938
in Berlin, gründete 1969 den März Verlag. Seit 1990 erscheinen die
Beiträge von „Schröder erzählt“, inzwischen ist die Serie auf 60 Folgen
angewachsen. (PK)
Barbara Kalender & Jörg Schröder: „Kriemhilds Lache“, Verbrecher Verlag Berlin 2013, www.verbrecherei.de, 272 Seiten, 1. Auflage, ISBN: 978-3-943167-39-9, 26 Euro, Zeichnungen von F.W. Bernstein
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19563
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