Sonntag, 21. April 2013

"Schmerzliche Heimat - Deutschland und der Mord an meinem Vater“


 
Semiya Simseks verlorene Illusionen


Buchtipp von Harry Popow

 

Migranten in Deutschland. Ist für sie dieser Staat so anziehend, wie es den Anschein hat? Reicht man ihnen hilfreich die Hand? Oder sind Ungewissheiten vorprogrammiert? Zwischen Hoffnung und einer schmerzlichen Enttäuschung? Zwischen einem ehrlich erarbeiteten Auskommen und dem körperlichen und moralischen Absturz? Zwischen Illusionen und der Erkenntnis einer furchtbaren Wahrheit: Dass Ausländerhass allgegenwärtig ist? Dass die Vergangenheit längst nicht bewältigt ist? Dass der Ungeist des Neonazismus noch immer auf fruchtbaren Boden fällt? Dass er Köpfe vernebelt - nicht nur die der Mordtäter, sondern auch der oft einäugigen Justiz? Und sie so nahezu handlungsunfähig macht?
 
Es ist über ein äußerst wichtiges Buch zu berichten. Über ein Protokoll zur Aufdeckung einer zehnfachen Mordserie. Da werden die Täter nicht schon nach wenigen Monaten überführt, sondern erst nach elf Jahren. Elf Jahre Aufschub für Neonazis, für ein äußerst brutales Killerkommando, wie sich herausstellte. Elf Jahre Leidensweg von Opfern, von Türken und Griechen. Die Rede ist von dem soeben veröffentlichten Dokument von Semiya Simsek, geboren 1986 im hessischen Friedberg. Sie hat es gemeinsam mit dem Journalisten Peter Schwarz, Redakteur der „Waiblinger Kreiszeitung“, geschrieben: „Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater.“
 

Oktober 1985: Die Entscheidung nach Deutschland zu übersiedeln, fiel dem Vater der Autorin, dem vierundzwanzigjährigen Enver Simsek, nicht leicht. Warum verließ er seine Heimat, die Türkei? Die Tochter des Ermordeten beschreibt das Motiv so: „Nach Deutschland zu gehen bedeutete für einen Mann wie meinen Vater, der in kargen Verhältnissen aufgewachsen war, neue Chancen und Perspektiven, eine Aussicht auf Wohlstand, die er zu Hause nie gehabt hätte.“
 
Es folgten fünfzehn Jahre harter Arbeit. Als Bandarbeiter und später als Geschäftsmann. Als guter Mensch, wie die Tochter schreibt, sorgte er sehr für seine Frau und die Kinder. Die Marktwirtschaft hatte ihn aufgenommen und ihm und seiner Familie Wohlstand gebracht. Bei kräftezehrender Akkordarbeit. Doch dann wollte Vater Enver kürzer treten, sein Geschäft aufgeben, nur noch für Adile, seine Frau, die ihn in seinen Blumengeschäften unterstützte, und für seine Kinder da sein. Doch eines Tages wollte man zurückkehren in die Heimat.

Am 10. September 2000, fünfzehn Jahre nach dem Start in Deutschland, die Autorin war gerade erst vierzehn Jahre alt, passierte die Katastrophe. Der Tod des Vaters durch eine unerhörte Bluttat: Drei Projektile im Kopf, zwei im rechten Schulterbereich, zwei Durchschüsse im linken Unterarm und in der Unterlippe sowie in der linken Augenhöhle, ein Streifschuss im linken Ellenbogen und ein Fehlschuss. Neun Schüsse auf einen unschuldigen Bürger, auf einen Ausländer.
 
Aus mit den Träumen einer baldigen Rückkehr in die Heimat. Aus mit einem intakten Familienleben. Aus mit der Zuversicht für eine weitere glückliche Zukunft. Aus mit der Harmonie und der Ruhe. Fortan attakierten die Ermittler der Polizei und der Kripo die Familie Simsek und deren Verwandte und Bekannte. Hauten mitunter auf den Tisch, schrien nach den vermeintlichen Mördern. Deren Arsenal an Verdächtigungen reichte vom Kneipen- und Alkoholvorwurf bis zum angeblichen Drogenhandel, von vermuteter Geldgier bis zu schmutzigen Geschäften, vom unterstellten Fremdgehen des Ermordeten bis zum möglichen Konkurrenzverhalten einiger Geschäftsfreunde. Die Abläufe der Befragungen durch die Ermittler waren, so die Autorin, stets dieselben: Stereotyp, variantenlos, auf dem einen Auge blind und unsensibel. Die Frage nach einer möglichen Fremdenfeindlichkeit wiesen die Behörden energisch zurück: Es sei ja kein Bekennerschreiben aufgetaucht. Eine ergebnislose Spurensuche?
 
Bis zum 13. Juni 2001, da passierte der zweite kaltblütige Mord. Mit derselben Waffe wie bei den Schüssen auf Enver. Kurz darauf und in den folgenden Jahren die gleiche Barbarei: Insgesamt zehn Tote, brutal und hasserfüllt niedergeschossen. Der bisherigen Handlungsunfähigkeit der Justiz wurde nunmehr eine Grenze gesetzt. Mit Entsetzen mussten die Angehörigen der Opfer das ganze Dilemma, die falschen Beschuldigungen, die Hilflosigkeit, das Vorgaukeln von falschen Verdächtigungen hinnehmen, bestürzt und betroffen. Dreizehn Jahre (von der Durchsuchung eines Garagenkomplexes des Mordtrios am 26.01.1998 bis zum Untertauchen der Täter 2011) offensichtlich bewußt fehlgeleitete Untersuchungen. Eine lange Zeit, in der die Neonazis ihre Todesmaschinerie voll in Gang halten konnten. Dreizehn Jahre Irrtümer, bewusst in Szene gesetzt?
 
Den Ermittlern hätte nach etlichen schwerwiegenden Delikten des Trios aus Jena - Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe -, u.a. auch nach deren Teilnahme an einer Demonstration der NPD gegen die Wehrmachtsausstellung in Dresden klar sein können, so die Autorin, „dass diese drei jungen Leute nicht einfach Anhänger einer rechtsradikalen Ideologie waren, sondern brutale Neonazis auf einem gewaltsamen Weg, der immer tiefer in den Terrorismus hineinführte“. (S. 193)
 
Von rechtsextremen Parteien wusste Semiya Simsek. Aber jetzt erst wurde ihr klar, „dass Organisationen wie die NPD nur die Oberfläche sind und darunter eine zweite, versteckte und viel gefährlichere Schicht des Rassismus existiert…“ (S.196) Fragen über Fragen: Wieso ist die Polizei bisher blind gewesen? Weshalb hat sie Ausländerhass grundsätzlich ausgeschlossen? Selbst nach Bekanntwerden weiterer Folgen der Mordserie tippte zum Beispiel BILD lediglich auf organisierte Kriminalität, auf Geldwäsche. Die Autorin hingegen hegt „das Misstrauen, ob einzelne Beamte die Ermittlungen nicht vielleicht sogar bewusst in verkehrte Bahnen lenkten“. Und nun, nach der unumstößlichen Wahrheit, die den Medien angeborene Heuchelei: Plötzlich war die Familie Simsek das „gute Opfer“ und von höchstem Interesse. „Wir wissen nicht genau, was wir von diesem Deutschland halten sollen“, notiert Frau Semiya auf Seite 203. Sie fragt sich, ob sie hier, wo sie geboren wurde, überhaupt zu Hause, ob Deutschland ihre Heimat ist. Und sie gibt sich gleich selbst die Antwort: Ja, ihre Heimat ist Deutschland, „daran können auch die Enthüllungen nach dem November 2011 nichts ändern“.
 
Semiya Simsek will nicht tatenlos zusehen. Sie wird als Nebenklägerin im Prozess gegen den NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) mitwirken, wird, so schreibt sie, der Beate Zschäpe gegenübertreten. Ihr Vorwurf: Niemand entzifferte rechtzeitig die Botschaft der Neonazis, deren Weltbild, deren Perversität und krankhaften Hass. Wer sind deren Hintermänner, fragt sie auf Seite 227? Sind es die Spitzel des Verfassungsschutzes? Sind die V-Leute „keine Staatsschützer, sondern eher staatlich bezahlte Neonazis“. Wird die versprochene Aufklärung wirklich stattfinden, bohrt sie weiter. Und wörtlich auf Seite 242: „Können wir überhaupt davon ausgehen, dass wenigstens im Gerichtsprozess gegen Beate Zschäpe und ihre Helfershelfer alle wichtigen Fakten auf den Tisch kommen und nichts unterschlagen wird?“
 
Semiya Simseks „Entlarvungsprotokoll“ ist keine der Ablenkung vom Alltag dienende Unterhaltungsliteratur, sondern ein brisantes Zeitdokument, eine Aufforderung, mitzuhelfen, den braunen Sumpf endgültig trockenzulegen, den Ursachen der Mordbereitschaft von faschistoiden Killerkommandos gegenüber Ausländern und jeglichem Rechtsextremismus und Rassismus den Nährboden zu entziehen.
 

Diese Lektüre wirkt auf den Leser nicht nur auf einer spannungsgeladenen sachlichen Ebene, sondern vor allem in emotionaler Hinsicht. Die Autorin verleiht ihrem Buch einen unglaublich warmherzigen menschlichen Ton. Da schildert sie die Liebe zu ihren Eltern, deren liebevolle Zweisamkeit, den Zusammenhalt zwischen den Verwandten und Bekannten, auch zwischen Türken und Deutschen. Sie erzählt von ihrer sorglosen und unbeschwerten Kinder- und Jugendzeit, lobt die bei der Mutter so hochgeschätzte Toleranz, berichtet von ihren immer wiederkehrenden Träumen von ihrem ermordeten Vater, beschreibt die Schönheit türkischer Landschaften. Und sie verbindet dies mit einem Seitenhieb auf deutsche Medien, die den Alltag der Türken mitunter schildern, als wären diese mit ihren Traditionen und Ritualen in den 60er Jahren stehengeblieben. Die Autorin steht für eine moderne, zielstrebige, selbstbewusste und kritische deutsch-türkische Frau, die zuversichtlich in der Türkei mit ihrem Mann einen neuen Anfang finden will. Eine Frau ohne Illusionen.

 

Anmerkung zum Verfassungsschutz

 

Nicht die Unfähigkeit selbst ist die Ursache der zahlreichen Pannen in der Aufdeckung der Gewalttaten, sondern die „ideologischen Scheuklappen innerhalb der Sicherheitsorgane“, so der Jurist, Autor und Kölner Karls-Preis-Träger Rolf Gössner in seinem in der NRhZ 352 vorgestellten Buch „Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Neonazis im Dienst des Staates“. Man folge alten Feindbildern, wie dem Linksextremismus, dem Ausländerextremismus und dem Islamismus. Man ignoriere die Tatsache, „dass Rassismus und Fremdenfeindlichkeit weit hinein in die Mitte der Gesellschaft reichen“, meint Gössner. (S. 33) Zum Kern der Ursachen des Versagens der Geheimdienste trifft er auf Seite 46 seines Buches aus dem Jahr 2003 folgende Feststellung: Der VS sei ein Kind des Kalten Krieges zur Absicherung des westdeutschen „Bollwerkes gegen den Kommunismus“. So erhielt der VS seine streng antisozialistische Ausrichtung bereits mit ehemaligen Nazis an der Führungsspitze. (S. 48) Im Kampf gegen „Linksextremismus“ sei die neonazistische Gefahr jahrzehntelang vernachlässigt worden. Nach dem Kalten Krieg – keine Gedanken daran, die Geheimorganisationen in Frage zu stellen. (PK)
 
Semiya Simsek: „Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater“, 272 Seiten, Verlag: Rowohlt Berlin (8. März 2013), Sprache: Deutsch, ISBN-10: 387134480X , ISBN-13: 978-3871344800, Größe: 22 x 14,8 x 2,4 cm, Preis: 18,95 Euro
 
Erstveröffentlichung der Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung
 

 


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