Semiya Simseks verlorene Illusionen
Buchtipp von Harry Popow
Migranten in
Deutschland. Ist für sie dieser Staat so anziehend, wie es den Anschein hat?
Reicht man ihnen hilfreich die Hand? Oder sind Ungewissheiten vorprogrammiert?
Zwischen Hoffnung und einer schmerzlichen Enttäuschung? Zwischen einem ehrlich
erarbeiteten Auskommen und dem körperlichen und moralischen Absturz? Zwischen
Illusionen und der Erkenntnis einer furchtbaren Wahrheit: Dass Ausländerhass
allgegenwärtig ist? Dass die Vergangenheit längst nicht bewältigt ist? Dass der
Ungeist des Neonazismus noch immer auf fruchtbaren Boden fällt? Dass er Köpfe
vernebelt - nicht nur die der Mordtäter, sondern auch der oft einäugigen
Justiz? Und sie so nahezu handlungsunfähig macht?
Es ist über
ein äußerst wichtiges Buch zu berichten. Über ein Protokoll zur Aufdeckung
einer zehnfachen Mordserie. Da werden die Täter nicht schon nach wenigen
Monaten überführt, sondern erst nach elf Jahren. Elf Jahre Aufschub für
Neonazis, für ein äußerst brutales Killerkommando, wie sich herausstellte. Elf
Jahre Leidensweg von Opfern, von Türken und Griechen. Die Rede ist von dem
soeben veröffentlichten Dokument von Semiya Simsek, geboren 1986 im hessischen
Friedberg. Sie hat es gemeinsam mit dem Journalisten Peter Schwarz, Redakteur
der „Waiblinger Kreiszeitung“, geschrieben: „Schmerzliche Heimat. Deutschland
und der Mord an meinem Vater.“
Oktober
1985: Die Entscheidung nach Deutschland zu übersiedeln, fiel dem Vater der
Autorin, dem vierundzwanzigjährigen Enver Simsek, nicht leicht. Warum verließ
er seine Heimat, die Türkei? Die Tochter des Ermordeten beschreibt das Motiv
so: „Nach Deutschland zu gehen bedeutete für einen Mann wie meinen Vater, der
in kargen Verhältnissen aufgewachsen war, neue Chancen und Perspektiven, eine
Aussicht auf Wohlstand, die er zu Hause nie gehabt hätte.“
Es folgten
fünfzehn Jahre harter Arbeit. Als Bandarbeiter und später als Geschäftsmann.
Als guter Mensch, wie die Tochter schreibt, sorgte er sehr für seine Frau und
die Kinder. Die Marktwirtschaft hatte ihn aufgenommen und ihm und seiner
Familie Wohlstand gebracht. Bei kräftezehrender Akkordarbeit. Doch dann wollte
Vater Enver kürzer treten, sein Geschäft aufgeben, nur noch für Adile, seine
Frau, die ihn in seinen Blumengeschäften unterstützte, und für seine Kinder da
sein. Doch eines Tages wollte man zurückkehren in die Heimat.
Am 10. September 2000, fünfzehn Jahre nach dem Start in Deutschland, die Autorin war gerade erst vierzehn Jahre alt, passierte die Katastrophe. Der Tod des Vaters durch eine unerhörte Bluttat: Drei Projektile im Kopf, zwei im rechten Schulterbereich, zwei Durchschüsse im linken Unterarm und in der Unterlippe sowie in der linken Augenhöhle, ein Streifschuss im linken Ellenbogen und ein Fehlschuss. Neun Schüsse auf einen unschuldigen Bürger, auf einen Ausländer.
Am 10. September 2000, fünfzehn Jahre nach dem Start in Deutschland, die Autorin war gerade erst vierzehn Jahre alt, passierte die Katastrophe. Der Tod des Vaters durch eine unerhörte Bluttat: Drei Projektile im Kopf, zwei im rechten Schulterbereich, zwei Durchschüsse im linken Unterarm und in der Unterlippe sowie in der linken Augenhöhle, ein Streifschuss im linken Ellenbogen und ein Fehlschuss. Neun Schüsse auf einen unschuldigen Bürger, auf einen Ausländer.
Aus mit den
Träumen einer baldigen Rückkehr in die Heimat. Aus mit einem intakten
Familienleben. Aus mit der Zuversicht für eine weitere glückliche Zukunft. Aus
mit der Harmonie und der Ruhe. Fortan attakierten die Ermittler der Polizei und
der Kripo die Familie Simsek und deren Verwandte und Bekannte. Hauten mitunter
auf den Tisch, schrien nach den vermeintlichen Mördern. Deren Arsenal an
Verdächtigungen reichte vom Kneipen- und Alkoholvorwurf bis zum angeblichen
Drogenhandel, von vermuteter Geldgier bis zu schmutzigen Geschäften, vom
unterstellten Fremdgehen des Ermordeten bis zum möglichen Konkurrenzverhalten
einiger Geschäftsfreunde. Die Abläufe der Befragungen durch die Ermittler
waren, so die Autorin, stets dieselben: Stereotyp, variantenlos, auf dem einen
Auge blind und unsensibel. Die Frage nach einer möglichen Fremdenfeindlichkeit
wiesen die Behörden energisch zurück: Es sei ja kein Bekennerschreiben
aufgetaucht. Eine ergebnislose Spurensuche?
Bis zum 13.
Juni 2001, da passierte der zweite kaltblütige Mord. Mit derselben Waffe wie
bei den Schüssen auf Enver. Kurz darauf und in den folgenden Jahren die gleiche
Barbarei: Insgesamt zehn Tote, brutal und hasserfüllt niedergeschossen. Der
bisherigen Handlungsunfähigkeit der Justiz wurde nunmehr eine Grenze gesetzt.
Mit Entsetzen mussten die Angehörigen der Opfer das ganze Dilemma, die falschen
Beschuldigungen, die Hilflosigkeit, das Vorgaukeln von falschen Verdächtigungen
hinnehmen, bestürzt und betroffen. Dreizehn Jahre (von der Durchsuchung eines
Garagenkomplexes des Mordtrios am 26.01.1998 bis zum Untertauchen der Täter
2011) offensichtlich bewußt fehlgeleitete Untersuchungen. Eine lange Zeit, in
der die Neonazis ihre Todesmaschinerie voll in Gang halten konnten. Dreizehn
Jahre Irrtümer, bewusst in Szene gesetzt?
Den
Ermittlern hätte nach etlichen schwerwiegenden Delikten des Trios aus Jena -
Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe -, u.a. auch nach deren Teilnahme an einer
Demonstration der NPD gegen die Wehrmachtsausstellung in Dresden klar sein
können, so die Autorin, „dass diese drei jungen Leute nicht einfach Anhänger
einer rechtsradikalen Ideologie waren, sondern brutale Neonazis auf einem
gewaltsamen Weg, der immer tiefer in den Terrorismus hineinführte“. (S. 193)
Von
rechtsextremen Parteien wusste Semiya Simsek. Aber jetzt erst wurde ihr klar,
„dass Organisationen wie die NPD nur die Oberfläche sind und darunter eine zweite,
versteckte und viel gefährlichere Schicht des Rassismus existiert…“ (S.196)
Fragen über Fragen: Wieso ist die Polizei bisher blind gewesen? Weshalb hat sie
Ausländerhass grundsätzlich ausgeschlossen? Selbst nach Bekanntwerden weiterer
Folgen der Mordserie tippte zum Beispiel BILD lediglich auf organisierte
Kriminalität, auf Geldwäsche. Die Autorin hingegen hegt „das Misstrauen, ob
einzelne Beamte die Ermittlungen nicht vielleicht sogar bewusst in verkehrte
Bahnen lenkten“. Und nun, nach der unumstößlichen Wahrheit, die den Medien
angeborene Heuchelei: Plötzlich war die Familie Simsek das „gute Opfer“ und von
höchstem Interesse. „Wir wissen nicht genau, was wir von diesem Deutschland
halten sollen“, notiert Frau Semiya auf Seite 203. Sie fragt sich, ob sie hier,
wo sie geboren wurde, überhaupt zu Hause, ob Deutschland ihre Heimat ist. Und
sie gibt sich gleich selbst die Antwort: Ja, ihre Heimat ist Deutschland,
„daran können auch die Enthüllungen nach dem November 2011 nichts ändern“.
Semiya
Simsek will nicht tatenlos zusehen. Sie wird als Nebenklägerin im Prozess gegen
den NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) mitwirken, wird, so schreibt sie,
der Beate Zschäpe gegenübertreten. Ihr Vorwurf: Niemand entzifferte rechtzeitig
die Botschaft der Neonazis, deren Weltbild, deren Perversität und krankhaften
Hass. Wer sind deren Hintermänner, fragt sie auf Seite 227? Sind es die Spitzel
des Verfassungsschutzes? Sind die V-Leute „keine Staatsschützer, sondern eher
staatlich bezahlte Neonazis“. Wird die versprochene Aufklärung wirklich
stattfinden, bohrt sie weiter. Und wörtlich auf Seite 242: „Können wir
überhaupt davon ausgehen, dass wenigstens im Gerichtsprozess gegen Beate
Zschäpe und ihre Helfershelfer alle wichtigen Fakten auf den Tisch kommen und
nichts unterschlagen wird?“
Semiya
Simseks „Entlarvungsprotokoll“ ist keine der Ablenkung vom Alltag dienende
Unterhaltungsliteratur, sondern ein brisantes Zeitdokument, eine Aufforderung,
mitzuhelfen, den braunen Sumpf endgültig trockenzulegen, den Ursachen der Mordbereitschaft
von faschistoiden Killerkommandos gegenüber Ausländern und jeglichem
Rechtsextremismus und Rassismus den Nährboden zu entziehen.
Diese
Lektüre wirkt auf den Leser nicht nur auf einer spannungsgeladenen sachlichen
Ebene, sondern vor allem in emotionaler Hinsicht. Die Autorin verleiht ihrem
Buch einen unglaublich warmherzigen menschlichen Ton. Da schildert sie die
Liebe zu ihren Eltern, deren liebevolle Zweisamkeit, den Zusammenhalt zwischen
den Verwandten und Bekannten, auch zwischen Türken und Deutschen. Sie erzählt
von ihrer sorglosen und unbeschwerten Kinder- und Jugendzeit, lobt die bei der
Mutter so hochgeschätzte Toleranz, berichtet von ihren immer wiederkehrenden
Träumen von ihrem ermordeten Vater, beschreibt die Schönheit türkischer Landschaften.
Und sie verbindet dies mit einem Seitenhieb auf deutsche Medien, die den Alltag
der Türken mitunter schildern, als wären diese mit ihren Traditionen und
Ritualen in den 60er Jahren stehengeblieben. Die Autorin steht für eine
moderne, zielstrebige, selbstbewusste und kritische deutsch-türkische Frau, die
zuversichtlich in der Türkei mit ihrem Mann einen neuen Anfang finden will.
Eine Frau ohne Illusionen.
Anmerkung
zum Verfassungsschutz
Nicht die
Unfähigkeit selbst ist die Ursache der zahlreichen Pannen in der Aufdeckung der
Gewalttaten, sondern die „ideologischen Scheuklappen innerhalb der
Sicherheitsorgane“, so der Jurist, Autor und Kölner Karls-Preis-Träger Rolf
Gössner in seinem in der NRhZ 352 vorgestellten Buch „Geheime Informanten.
V-Leute des Verfassungsschutzes: Neonazis im Dienst des Staates“. Man folge
alten Feindbildern, wie dem Linksextremismus, dem Ausländerextremismus und dem
Islamismus. Man ignoriere die Tatsache, „dass Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit weit hinein in die Mitte der Gesellschaft reichen“, meint
Gössner. (S. 33) Zum Kern der Ursachen des Versagens der Geheimdienste trifft
er auf Seite 46 seines Buches aus dem Jahr 2003 folgende Feststellung: Der VS
sei ein Kind des Kalten Krieges zur Absicherung des westdeutschen „Bollwerkes
gegen den Kommunismus“. So erhielt der VS seine streng antisozialistische
Ausrichtung bereits mit ehemaligen Nazis an der Führungsspitze. (S. 48) Im
Kampf gegen „Linksextremismus“ sei die neonazistische Gefahr jahrzehntelang
vernachlässigt worden. Nach dem Kalten Krieg – keine Gedanken daran, die
Geheimorganisationen in Frage zu stellen. (PK)
Semiya
Simsek: „Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater“, 272
Seiten, Verlag: Rowohlt Berlin (8. März 2013), Sprache: Deutsch, ISBN-10: 387134480X
, ISBN-13: 978-3871344800, Größe: 22 x 14,8 x 2,4 cm, Preis: 18,95 Euro
Erstveröffentlichung
der Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung
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