Samstag, 14. April 2012

"In die Stille gerettet" / 4. Leseprobe

Siebzig und kein Wodka (Seite 259)


 Wie feiern Schweden eine 70jährige Jubilarin? Jedenfalls anders als erwartet. Es ist der 28. Februar 1998. 13.00 Uhr beginnt die Zeremonie. Wir fahren mit dem Skoda durch Wind und Schneeregen nach dem über 20 Kilometer entfernt liegenden Ort Hellagarden. So richtig wohl ist uns nicht. Nur Schweden, wir die einzigen Deutschen, und besonders mein schwedisch läßt viel zu wünschen übrig. Auf dem Parkplatz nur SAAB und VOLVO. Mit Blumen und Geschenk bleiben wir zurück, um den Angehörigen und nahen Bekannten den Vortritt zu lassen. Erna steht in der Empfangshalle, nimmt die Glückwünsche entgegen, sehr gepflegt und elegant gekleidet, Familienschmuck angelegt. Sehr gefaßt und würdevoll. Ein Willkommensdrink, ein orangefarbenes Getränk, wird gereicht, auch für die Kinder? Cleo wundert sich. Alle prosten der Jubilarin zu. Doch dann des Rätsels Lösung: ohne Alkohol. Alles weitere läuft wie ein Ritual ab. Jeder Anwesende tritt an Erna heran, übergibt sein Geschenk und macht eine Verbeugung, keinerlei Umarmung. Das Geburtstagskind bedankt sich für die vielen guten Wünsche und Präsente und verbeugt sich ihrerseits. Der Gatte Gerd bittet zu Tisch. Wir zählen 36 Personen. Kerzen sind angezündet. Nun fordert er die Gäste auf, sich von den Plätzen zu erheben. Man gedenkt der vor sechs Tagen verstorbenen 92jährigen Mutter von Erna. Dann ein Klopfen an seinen Tellerrand, alle dürfen sich endlich setzen. Welch eine Achtung vor dem Alter und vor den Altvordern. Cleo und ich sind beeindruckt. Besonders bewundernswert, wie geduldig und diszipliniert die fünf Enkel, die jüngsten zwei- und dreijährig, die gesamte Zeremonie durchstehen. Eine Vorspeise wird am Tisch gereicht, ein mit Pilzen gefülltes Gebäck. Man ißt langsam. Es ist nahezu still. Links neben mir eine korpulente und lebenslustige schwarzhaarige Schwedin aus Växjö mit lebhaften dunklen Augen. Sie gesteht, daß sie nur wenig deutsch spricht, aber immerhin - wir unterhalten uns gedämpft, ich sage, daß wir hier in Schweden für immer leben, als Pensionäre usw. und so fort. Sie freut sich über jedes radebrechende schwedische Wort von mir, was sie versteht. Ich aber nicke oft, obwohl ich nicht alles begreife, wenn sie etwas sagt. Ohne jegliche Hektik trägt nur eine Serviererin die vielen Schüsseln und Fleischplatten auf das Büfett, auch Weißbrot und Butter fehlen nicht, wie bei den Russen, denke ich. Jeder stellt sich an, holt sich das seine. Wieder Schweigen. Dann und wann wird ein Schluck vom Leichtbier (2,8%) genommen. Eine Vielfalt von alkoholfreien Getränken steht bereit, keinerlei Alkohol bei dieser Feier. Nur hier und dort ein Wort im leisen Plauderton. Diejenigen, die fertig sind, gehen in die umliegenden Räume, schauen sich dort ausgestellte Gemälde an. Die anderen unterhalten sich. Ich schaue durch die Fenster nach dem naßkalten Wetter. Da kommt Gerd, trägt schwer an einem Koffer und einer Tasche. Ich helfe ihm, alles hereinzubringen. Sein rotes Akkordeon kommt zum Vorschein. Er spielt schwedische Volksweisen. Texte werden herumgereicht, jeder singt mit, das ist Ehrensache in Schweden. Auch Cleo schmettert mit. Wieder tritt die Servierkraft in Aktion. Diesmal gibt es Marzipantorte mit Schlagsahne, Eis mit Preiselbeeren, typisch schwedisch.

Auch ohne alkoholische „Spaßmacher“ wird die Stimmung immer lockerer. Wir wollen mithalten. Cleo möchte mit der äußerst gepflegt aussehenden und selbstbewußten Tochter von Erna ins Gespräch kommen. Sie ist Deutschlehrerin, würde Cleo auch in deutsch sehr gut verstehen, aber die läßt die ganz gut schwedisch plappernde Cleo erst einmal hängen. Erst als ich mich ins Gespräch mische, läßt sie sich auf ein wenig deutsch herab. Ihre siebzehnjährige Tochter kommt hinzu, nicht weniger charmant und sich ihres guten Aussehens bewußt. Sie ist als koreanisches Baby adoptiert worden. 17 Uhr steht der älteste Sohn auf, alle anderen ebenso, man läßt Erna noch einmal hochleben: Viermal Hurra! Die Feier ist beendet, das gleiche Bild wie zu Beginn: Erna hat sich an der Ausgangstüre postiert und alle defilieren vorbei. Wir können uns nicht bremsen, wir nehmen die schöne Siebzigjährige in die Arme. Wenig später zu Hause: Im Vertiko noch ein Rest Wodka „Gorbatschow“. Prost Cleo! (Warten auf den „Nachschub“ aus Deutschland, alkoholisches ist in Schweden sündhaft teuer und nur im staatlichen Handel zu bekommen.)

(Harry Popow - „In die Stille gerettet“. Persönliche Lebensbilder. Engelsdorfer Verlag, Leipzig, 2010, 308 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-86268-060-3)


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