von Ulrich Busch
Als ich Anfang des Jahres im Blättchen Nr. 2 vorsichtig die Frage aufwarf, ob im Jahr 2020 „Anlass zur Sorge“ bestehen würde, hatte ich die fragile Lage im Finanzsektor und die sich seit 2018 anbahnende Wirtschaftskrise im Auge. Inzwischen hat uns das Covid-19-Virus befallen und wir befinden uns im Ausnahmezustand. Es hat den Anschein, als ginge es jetzt nur noch ums nackte Überleben, von einer drohenden Finanz- und Wirtschaftskrise ist dagegen kaum mehr die Rede. Dies ist verständlich, weil die Rettung von Menschenleben vorgeht und die Erhaltung des Lebens ungleich wichtiger ist als die Sicherung von Wirtschaftswachstum und Finanzstabilität. Nach drei Monaten Corona-Krise und allgemeinem Shutdown rückt jedoch allmählich der Zeitpunkt heran, wo auch andere Aspekte des Lebens wieder Beachtung finden sollten. Dann wird man auch die Schäden erfassen, die durch die Stilllegung ganzer Volkswirtschaften entstanden sind, und deren verheerende Folgen für die Staatshaushalte, die Währungen und den globalen Wirtschaftskreislauf abschätzen.
Man wird sich fragen müssen, ob die tiefe Rezession, die eine Reihe von Volkswirtschaften 2020 hart trifft und wodurch womöglich eine große Weltwirtschaftskrise ausgelöst wird, tatsächlich nur auf die Corona-Pandemie zurückzuführen ist oder ob nicht auch einige Maßnahmen zu deren Bekämpfung dazu beigetragen haben. Vielleicht aber wäre die Rezession auch ohne Covid-19-Pandemie eingetreten und diese hat wie ein Brandbeschleuniger gewirkt. – All dies sind mögliche Antworten auf die gestellte Frage. Je nachdem, welcher Antwort man den Vorzug gibt, stellen sich aber weitere Fragen: Wenn die Rezession ohnehin nicht mehr zu vermeiden war (siehe Jürgen Leibiger im Blättchen Nr. 7/2020), wäre die Pandemie dann nicht eine hervorragende „Ausrede“ für das Systemversagen? Der Schuldige an den Verwerfungen und wirtschaftlichen Folgen ist nun das Virus und niemand sonst. Bestenfalls sind Touristen aus China, die Italien besucht hatten, als Mitschuldige zu betrachten, auf keinen Fall aber das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Damit aber stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Auch wenn der Schutz des Lebens und der Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger über alles geht, fragt man sich bei einigen Maßnahmen doch, ob sie angemessen waren oder Ausdruck bloßer Willkür übereifriger Politiker, um mit „Notstandsmaßnahmen“ und der Ausrufung des „Ausnahmezustandes“ die gegenwärtige Ordnung auf ihre Belastbarkeit zu testen, oder sie, wie in Ungarn und Polen, zu einer autoritären Gesellschaft umzubauen.
Es liegt aber auch auf der Hand, die Krise zum Anlass zu nehmen, unsere Wirtschafts- und Lebensweise im Hinblick auf ihre zerstörerischen Wirkungen für die natürliche Umwelt zu hinterfragen. Plötzlich erscheint ein Leben möglich ohne Massentourismus, ohne Flugreisen, ohne Kreuzfahrten, ohne ständige Events, ohne unablässiges Shoppen und dergleichen. Sogar die „Nachrichten“ sind wieder das, was sie eigentlich sein sollten, nämlich politische Nachrichten und keine Sportberichte mit vorgeschalteten Börseninformationen und nachgeschaltetem Wetterbericht. Wie jede Krise, so ist auch diese Krise nicht nur eine Tragödie, sondern auch eine Chance, eine Chance für ein besseres Leben, für ein Umdenken, für eine Umkehr auf einem problematischen Weg. Vielleicht ist die Pandemie, wovon ja vor allem die entwickelten Volkswirtschaften in Asien, Europa und Nordamerika betroffen sind, auch als eine „Antwort“ oder Reaktion der Natur auf unsere fortgesetzte Kriegsführung gegen die natürlichen Grundlagen unseres Lebens, gegen Natur und Umwelt, zu werten. Die Aussage, wonach wir uns seit Ausbruch der Pandemie „im Krieg“ befinden, erhielte dadurch einen tieferen Sinn.
Bevor auf diese Fragen vorschnelle Antworten gegeben werden, sollten aber die Fakten gründlich studiert und die gegenwärtige Katastrophe in ein Verhältnis zur Normalität gesetzt werden. Manchmal hilft dies, Fehlschlüsse zu vermeiden und nicht Verschwörungstheorien aufzusitzen. Die entscheidende Frage dabei ist: Handelt es sich bei der Corona-Pandemie wirklich um eine Katastrophe? Zum Vergleich einige Zahlen: Die Pestepidemie Mitte des 14. Jahrhunderts forderte in Europa mehr als 25 Millionen Tote. Das war fast ein Drittel der gesamten Bevölkerung. Ganze Landstriche waren danach verödet und verlassen. – Dies war eine Menschheitskatastrophe. Die Spanische Grippe 1918/19 forderte in mehreren Wellen rund 50 Millionen Tote. Das waren mehr als doppelt so viele wie der Erste Weltkrieg insgesamt an militärischen und zivilen Opfern gefordert hatte. – Auch das war zweifelsohne eine Katastrophe. Die SARS-Epidemie 2002/03 hatte 774 Tote zur Folge, die H1N1-Epidemie verzeichnete 18.036 Tote. Beides waren schlimme Seuchen, im historischen Vergleich aber keine Katastrophen. Die gegenwärtige Pandemie verzeichnet bis jetzt (9.4.2020) weltweit 1,5 Millionen Infizierte und 88.567 Todesfälle. Diese Zahlen übersteigen die der vorhergehenden Epidemien, stehen aber im Weltmaßstab trotzdem noch nicht für eine Menschheitskatastrophe. Was hier jedoch eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, ist die regionale und lokale Häufung der Infektionen und Todesfälle in einigen Zentren. So ist Wuhan nicht zu vergleichen mit Shanghai und New York nicht mit Berlin.
Trotz aller Ernsthaftigkeit der Lage muss die Frage erlaubt sein: Was ist (noch) normal und was weist auf eine katastrophale Entwicklung und Abweichung von der Normalität hin? In Deutschland versterben im Verlaufe eines Jahres rund 955.000 Menschen, das sind pro Monat rund 80.000, pro Woche rund 18.365 und pro Tag 2616 Männer und Frauen. Diese Zahlen stehen für einen normalen Lebenszyklus. Seit Januar dieses Jahres sind durch die Covid-19-Pandemie zusätzliche Tote zu beklagen, bisher 2349. Das entspricht 0,24 Prozent der im Jahresverlauf zu erwartenden Sterbefälle. In Berlin sind für 2020 ungefähr 36.000 Todesfälle zu erwarten. Infolge der Corona-Pandemie sind bisher 37 Patienten verstorben. Das entspricht 0,1 Prozent. Auch wenn sich diese Zahlen bis zum Ende der Pandemie noch erhöhen werden, jeder einzelne Tote zu beklagen ist und alles dafür getan werden muss, so viel Menschenleben wie irgend möglich zu retten, belegen diese Zahlen bisher keine signifikante Abweichung von der Normalität, also keine Katastrophe. Die bevorstehende Wirtschafts- und Finanzkrise aber könnte eine Katastrophe werden, was die Frage nach den Ursachen dafür und der Angemessenheit bestimmter Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie in den Fokus der Diskussion rücken wird.
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