Entnommen: https://linkezeitung.de/2022/11/10/blind-durch-westliche-werte/
Blind durch westliche Werte
VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 10. NOVEMBER 2022
von Rüdiger Rauls
Wahlen dienen in modernen Gesellschaften als Legitimation von
Herrschaft. Nicht immer aber bringen sie die Ergebnisse, die der
sogenannte Wertewesten sich wünscht. Anders als seinerzeit im Kosovo war
in den Beitrittsgebieten der Ukraine der Volkswille für den Westen
bedeutungslos. Wann aber sind Abstimmungen in seinen Augen legitim, wann
nicht? Es immer schwieriger, die eigenen Regeln mit der Realität in
Einklang zu bringen.
Westliche Begriffsproduktion
Russland hat in den von der Ukraine eroberten Gebieten Abstimmungen
abhalten lassen über deren Beitritt zur Russischen Föderation. Schnell
hatten die Meinungsmacher in den westlichen Medien einen handlichen
Begriff für diese Abstimmung geschaffen. Fortan war nur mehr von
Scheinwahlen die Rede. Diese Bezeichnung hatte sich umgehend als
allgemeinverbindlich im medialen Sprachgebrauch durchgesetzt, ohne dass
es eine offizielle Anweisung dazu hätte geben müssen. Es bedurfte nicht
einmal einer Erklärung, was es mit dem Begriff auf sich hat, wie er
verstanden werden soll und – vor allem – wie er gerechtfertigt wird. Er
gilt als gesetzt und wird nicht in Frage stellt, will man nicht der
Unterstützung Russlands beschuldigt werden.
Aber wie soll man sich eine Scheinwahl vorstellen? Was ist das
Scheinbare oder die Täuschung an einer solchen Abstimmung? Wurden Wahlen
nur zum Schein angekündigt, dann aber gar nicht abgehalten? Oder fanden
sie etwa doch statt, aber in Wirklichkeit gab es keine Wahlmöglichkeit
aufgrund fehlender Wahllokale, Wahlzettel, Urnen oder ähnlicher Mängel,
die die praktische Durchführung unmöglich machten? Gab es keine
Wahlalternativen, also nicht einmal die Wahl zwischen „Ja“ und „Nein“,
oder wurde gar den Wählern von vorneherein gesagt, wie sie abzustimmen
haben? All dies würde die Bezeichnung Scheinwahl im Sinne des Wortes
rechtfertigen, also die Vortäuschung einer Wahl, die in Wirklichkeit
aber nicht stattfand.
In Bezug auf die vormals ukrainischen Gebiete ist nun die Frage, ob
solche Vorkommnisse dokumentiert wurden, die Zweifel am ordnungsgemäßen
Ablauf der Abstimmungen aufkommen lassen könnten. Wäre es zu solchen
Ereignissen wirklich gekommen, so müsste man nicht von Scheinwahlen
sprechen, sondern könnte ganz konkret den Vorwurf der Wahlfälschung
erheben. Aber das machen die westlichen Meinungsmacher gerade nicht. Sie
wissen auch warum. Sie haben keine Nachweise für solche
Unregelmäßigkeiten. Bleibt nur eines noch als Begründung für den Vorwurf
der Scheinwahlen: Das zu erwartende Ergebnis war nicht im Sinne des
Westens.
Fake-Wahlbeobachter
Nachweise für Unregelmäßigkeiten werden in der Regel durch
internationale Wahlbeobachter erbracht. Diese waren in den
Abstimmungsgebieten keinesfalls ausgeschlossen, sondern ausdrücklich
erwünscht. Da man aber den Abstimmungen in den Beitrittsregionen von
westlicher Seite die Rechtmäßigkeit absprach, hatte die Organisation für
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OECD) keine Wahlbeobachter
abgestellt.
Trotzdem gab es welche aus westlichen Staaten, die aber von ihren
eigenen Länder nicht anerkannt waren. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung
(FAZ) bezeichnet diese dann auch als „vermeintliche Wahlbeobachter“
oder spricht von „Fake-Wahlbeobachtungen“ im Gegensatz zu den „echten
Wahlbeobachtungsmissionen“(1) zum Beispiel im Rahmen der OECD. Worin der
Unterschied zwischen beiden besteht, erklärt die Zeitung auch: Die
sogenannten Fake-Beobachter sind politisch beeinflusst.
In der Datenbank der European Platform for Democratic Elections (EPDE)
sind etwa 500 Personen registriert, unter anderem 39 aus Deutschland,
die an solchen „Fake-Wahlbeobachtungen“ teilgenommen haben. Darunter
sind auch Parlaments-Abgeordnete. Weil sie an solchen
Beobachtungsmissionen teilgenommen haben, werden sie sanktioniert, indem
sie „für die Dauer ihres Mandats an keinen offiziellen
Wahlbeobachtungen des Europäischen Parlaments mehr teilnehmen“(2)
dürfen. Die Teilnahme an einer solchen Veranstaltung genügt also in der
Hochburg der Meinungsfreiheit, um gebannt zu werden. Wovor hat man
Angst?
Dass aber auch die als zuverlässig angesehenen Kontrolleure nicht frei
sind von Beeinflussung, scheint den intellektuellen Horizont von Autor
und FAZ zu übersteigen. Sie scheinen sich nicht einmal des Umstandes
bewusst zu sein, dass ihre eigenen Sichtweisen geprägt sind durch ihr
westliches Gedankengut und dessen Weltbild. Kritiklosigkeit, schon gar
nicht der selbstkritische Blick, scheinen mittlerweile wesentliche
Bestandteile ihrer DNA geworden zu sein. Offensichtlich haben westliche
Meinungsmacher genügend Abwehrkräfte gegen das Virus anderer Sichtweisen
entwickelt.
Putins Einfluss
Worin aber besteht nun die politische Beeinflussung der sogenannten
Fake-Wahlbeobachter inhaltlich? An welchen Äußerungen wird sie
festgemacht und vor allem, wie soll diese Einflussnahme denn überhaupt
vor sich gegangen sein? Soll man es sich so vorstellen, dass Putin die
Wahlbeobachter zu Hause aufgesucht und sie einer Gehirnwäsche unterzogen
hat?
Selbst wenn diese naive Vorstellung zutreffen sollte, so drängt sich
doch die Frage auf, wieso diese Einflussnahme durch Herrn Putin so
erfolgreich sein soll bei Menschen, die sich Zeit ihres Lebens innerhalb
der Grenzen des westlichen Weltbildes aufgehalten haben, also außerhalb
von Putins Einflussbereich.
Und noch viel interessanter im Anschluss daran ist die Überlegung, wieso
dieser Erfolg nicht den Argumenten und Ansichten der FAZ beschieden
ist, wo doch diese Zeitung seit Jahrzehnten das politische Denken in
Deutschland maßgeblich bestimmt. Der Frage, wieso die Sichtweisen Putins
einen stärkeren Einfluss haben sollen als das westliche Weltbild,
stellt sich die FAZ aber nicht.
Denn selbst der Versuch des Westens, seine Bürger von russischen
Informationsquellen wie RT oder Sputnik durch Sendeverbot abzuschneiden,
hat nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Trotz der Behinderung
russischer Medien ist die Ansicht bei den Bürgern in Deutschland
gewachsen, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine „eine unausweichliche
Konsequenz aus einer Provokation der NATO“(3) gewesen sei.
Nach einer Umfrage des Centers für Monitoring, Analyse und Strategie
(CeMAS) hatten im April dieses Jahres zwölf Prozent der Befragten dieser
Aussage vollkommen zugestimmt und 17 Prozent hatten sie teilweise
bejaht. Nach einer neuen Erhebung musste das Institut am 2. November
feststellen, dass diese Werte auf 19 und 21 Prozent angestiegen waren,
ohne dass der russische Einfluss auf die deutsche Medienlandschaft
gewachsen wäre. Damit haben 40 Prozent der Deutschen Zweifel an der
offiziellen deutschen Version.
Wie ist zu erklären, dass unter diesen Umständen und dem
propagandistischen Dauerfeuer der westlichen Meinungsmacher trotzdem
eine andere Sichtweise um sich greift? Ist das alleine Putin
zuzuschreiben oder nicht vielleicht auch in zunehmendem Maße den
Widersprüchen zwischen den Darstellungen der Realität durch die
westlichen Medien und der Realität selbst?
Intellektuelle Beschränktheit
Der Beitrag der FAZ ist ein Lehrbeispiel für das Denken der westlichen
Meinungsmacher. Er belegt eine unvorstellbare Inhaltsleere und
intellektuelle Schwäche. Das hält aber die Zeitung, ihre Autoren so wie
die meisten westlichen Meinungsmacher nicht davon abhält, sich
selbstgefällig zum Lehrmeister gegenüber anderen aufzuschwingen. Zwar
ist man nicht in der Lage, echte Wahlen von sogenannten Scheinwahlen in
ihren inhaltlich-politischen Unterschieden darzustellen, ist aber der
festen Überzeugung, das besser zu wissen als alle anderen, besonders als
die Russen.
So gibt denn der Verfasser auch vor genau zu wissen, weshalb diese
„Fake“-Wahlbeobachter eingeladen wurden. Bei der russischen Bevölkerung
soll „der Eindruck erweckt werden, internationale Beobachter würden
keine Unstimmigkeiten feststellen“(4). Stellt sich zuerst die Frage,
woher der Autor die wirklichen Absichten der Verantwortlichen kennen
will. Weder ist er vor Ort, noch dürfte er über solche Hintergedanken
von den Zuständigen eingeweiht worden sein. Aber die eigene Vermutung
genügt.
Zudem scheint in westlicher Überheblichkeit ein Bild von den Russen als
einfältige Trottel vorzuherrschen, die die hinterhältigen Absichten
ihrer Oberen nicht durchschauen. Diese täuschen das eigene Volk mit
plumpen Mitteln. „Die Gäste treten meist in Anzug und Krawatte vor die
Kamera und fungieren dort als vermeintlich seriöse Vertreter ihres
Landes“(5). Das scheinen einfache Russen nach Sicht des westlichen
Beobachters nicht zu durchschauen in der Lage zu sein.
Um ihnen die Augen zu öffnen, bedarf es westlicher Hilfestellung. Denn
laut der EPDE-Vorsitzenden Stefanie Schiffer werden mit „den Auftritten
der vermeintlich unabhängigen Beobachter die örtliche Bevölkerung
getäuscht“(6). Offenbar sind die westlichen Verfasser so verfangen in
ihrer Weltsicht, dass sie sich nicht vorstellen können, dass die
„örtliche Bevölkerung“ sich vielleicht gar nicht getäuscht fühlt.
Vermutlich sieht diese, was die westlichen Intellektuellen nicht
erkennen: den anderen Sinn dieser Einladungen.
Die große Angst
Wären sie nicht so verblendet, die FAZ und ihr Kommentator, hätten sie
die Bedeutung der alternativen Wahlbeobachter für die Russische
Föderation leicht erkennen können. So wird einer von ihnen in dem
FAZ-Beitrag mit der Aussage zitiert, „nach der Rückkehr nach Deutschland
Kontakt zur Presse aufzunehmen, um von seinen Beobachtungen zu
berichten“(7).
Das kommt dem westlichen Meinungsmacher vermutlich wie eine Täuschung
des Publikums vor, aber nur weil er weiß, dass die westliche Presse wohl
kaum darüber berichten wird. Und schon gar nicht in dem Sinne, wie der
Wahlbeobachter sich das vorstellt. Aber das ist ihm nicht vorzuhalten,
hatte er doch vermutlich beste Absichten.
Es macht den Verfasser des Artikels auch nicht stutzig, dass zu den
russischen Duma-Wahlen von 2018 neben den 598 offiziellen
Wahlbeobachtern der OSZE eine von der Duma organisierte
Beobachter-Gruppe eingeladen worden war. Diese war mit 482 Teilnehmern
fast ebenso groß wie die OSZE-Gruppe. Was der Sinn einer solchen
Parallel-Gruppe sein soll, wenn doch ohnehin schon eine offizielle vor
Ort ist, fragen sich die FAZ und ihr Schreiber nicht.
Der Autor drückt es negativ aus: Neben der oben bereits erwähnten
Täuschung der lokalen Bevölkerung geht es nach Meinung der
EPDE-Vorsitzenden Schiffer darum, den Ruf westlicher Institutionen zu
schädigen. Das sieht sie gegeben, wenn zum Beispiel Mitglieder des
Europäischen Parlaments sich an solchen „Fake“-Wahlbeobachtungen
beteiligen.
Stellt sich nur die Frage, wessen Gedankenwelt in solchen Äußerungen
offengelegt wird: die russische oder die einer europäischen
Parlamentarierin, die von Misstrauen und Konkurrenzdenken beherrscht zu
sein scheint. Welchen Ruf sollte das Europäische Parlament denn noch zu
verlieren haben?
Ein drittes Motiv in der Organisation solcher „Fake“-Wahlbeobachtungen
sieht Schiffer in dem Versuch sogenannter autokratischer Staaten,
„Einfluss auf europäische Parlamente und demokratische Institutionen
auszuüben“(8). Wie ist das zu verstehen, was wird befürchtet? Dass mehr
oder weniger unbedeutende Abgeordnete des Europäischen Parlaments die
europäische Politik in eine andere Richtung lenken oder gar die
europäische Verfassung umkrempeln? Oder hat man vielmehr die
Befürchtung, dass Wahrheiten ans Licht kommen, die man gerne einer
größeren Öffentlichkeit vorenthalten hätte?
Nun könnte man naiv anmerken, dass an der Wahrheit nichts zu befürchten
ist, wenn es denn die Wahrheit ist, die die Teilnehmer der
„Fake“-Wahlbeobachtungen wiedergeben. Und wenn nicht, was ist leichter,
als die Berichte als Unwahrheiten zu entlarven und damit Putins
Machenschaften. Aber vielleicht hat man auch einfach Angst davor, dass
die Wahrheiten sich als Wahrheit herausstellen und damit das eigene
Weltbild als Trugbild, schlimmstenfalls als Lügengebilde.
Letzteres scheint wohl zuzutreffen. Stefan Schaller, er war der
Wahlbeobachter, über den die FAZ berichtet, wurde gefragt, ob er „keine
Sorge vor Sanktionen nach seiner Rückkehr nach Deutschland habe“(9). Da
er nicht irgendwer ist, sondern Geschäftsführer eines hessischen
Energieunternehmens, also jemand, der mitten im Leben steht und sich in
seiner Position keine Blauäugigkeit leisten kann, sagte darauf hin: „Ich
bin ein alter Mann, und alte Männer haben keine Angst“(10).
Dennoch wurde er von seiner Position abberufen. Denn er hatte erreicht,
was er beabsichtigt hatte und was die westlichen Meinungsmacher fürchten
wie der Teufel das Weihwasser. Er hatte mediale Aufmerksamkeit erlangt
über die Wahlen im Donbass. Das hat nicht allen gefallen in der Zentrale
der Meinungsfreiheit. Aber einigen hat es wohlmöglich die Augen
geöffnet. Da sahen die großen Kämpfer für die westlichen Werte
anscheindend keine andere Möglichkeit mehr, statt der Wahrheit ans Licht
zu verhelfen, ihren Verkünder auf dem Scheiterhaufen der Verunglimpfung
zu grillen.
Vielleicht erklären sich aus solchen Widersprüchen die sinkenden
Zustimmungswerte für Waffenlieferungen an die Ukraine und die Sanktionen
gegen Russland. Es braucht nicht einmal die Einflussnahme durch
russische Medien. In Abwandlung einer alten Parole könnte man sagen: Das
machen die großen Herrn schon selber, dass ihnen der kleine Mann immer
weniger glaubt.
1 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26.10.2022: Nichts gehört, nichts gesehen
2 ebenda
3 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3.11.2022: Die Lügen des Kreml
4 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26.10.2022: Nichts gehört, nichts gesehen
5 ebenda
6 ebenda
7 ebenda
8 ebenda
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen