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Selenskyj von Moskau und Washington reingelegt
VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 23. NOVEMBER 2022 ⋅
von Thierry Meyssan – http://www.voltairenet.org
Die Entwicklung des Kräfteverhältnisses auf dem ukrainischen
Schlachtfeld und die tragische Episode des G20-Gipfels in Bali markieren
eine Wende. Auch wenn der Westen immer noch glaubt, Moskau bald
besiegen zu können, haben die Vereinigten Staaten bereits geheime
Verhandlungen mit Russland aufgenommen. Sie sind dabei, die Ukraine
fallen zu lassen und allein Wolodymyr Selenskyj die Schuld zuzuschieben.
Wie in Afghanistan wird das Erwachen brutal sein.
Als ich vor etwa zehn Tagen in Brüssel mit einem aufgeschlossenen und
führenden Kopf der Europaabgeordneten sprach, hörte ich ihn sagen, dass
der ukrainische Konflikt sicherlich komplex sei, aber dass das
Offensichtlichste dabei sei, dass Russland in dieses Land eingefallen
war. Ich antwortete mit der Feststellung, dass das Völkerrecht
Deutschland, Frankreich und Russland verpflichtete, die Resolution 2202
umzusetzen, was Moskau allein getan hatte. Ich fuhr fort, indem ich ihn
an die Verantwortung, die Bevölkerung im Falle eines Versagens ihrer
eigenen Regierung zu schützen, erinnerte. Er unterbrach mich und fragte:
„Wenn sich meine Regierung über das Schicksal der Bürger in Russland
beschwert und dieses Land angreift, werden Sie das normal finden?“ Ja,
antwortete ich, wenn Sie eine Resolution des Sicherheitsrats haben.
Haben Sie eine? Verblüfft wechselte er das Thema. Dreimal fragte ich
ihn, ob wir das Problem der „ukrainischen integralen Nationalisten“
ansprechen könnten. Dreimal weigerte er sich. Wir trennten uns höflich.
Die Frage der Schutzverantwortung [R2P] hätte relativiert werden müssen.
Dieses Prinzip erlaubt keinen Krieg, sondern eine Polizeioperation, die
mit militärischen Mitteln durchgeführt wird. Deshalb achtet der Kreml
darauf, diesen Konflikt nicht als „Krieg“, sondern als „militärische
Spezialoperation“ zu bezeichnen. Beide Sprechweisen beziehen sich auf
die gleichen Fakten, aber „spezielle militärische Operation“ begrenzt
den Konflikt. Sobald seine Truppen in die Ukraine einmarschierten,
machte der russische Präsident Wladimir Putin deutlich, dass er nicht
beabsichtige, dieses Gebiet zu annektieren, sondern nur die von den
ukrainischen „Nazis“ verfolgte Bevölkerung zu befreien. Ich habe in
einem langen früheren Artikel darauf hingewiesen, dass der Begriff
„Nazis“ zwar im historischen Sinne korrekt ist, aber nicht der Art und
Weise entspricht, wie diese Leute sich selbst bezeichnen. Sie verwenden
den Ausdruck „integrale Nationalisten“. Man bedenke, dass die Ukraine
der einzige Staat der Welt ist, der eine explizit rassistische
Verfassung besitzt.
Die Tatsache, dass das Völkerrecht zugunsten Russlands entscheidet,
bedeutet nicht, dass man ihm einen Blankoscheck erteilt. Jeder muss die
Art und Weise kritisieren, in der Russland das Gesetz umsetzt. Die
Menschen des Westens finden Russland immer „asiatisch“, „wild“ und
„brutal“, auch wenn sie sich selbst bei vielen Gelegenheiten viel
destruktiver gezeigt haben.
DIE WENDE
Nachdem die russischen und westlichen Standpunkte geklärt sind, ist es
klar, dass mehrere Ereignisse zu einer westlichen Entwicklung geführt
haben.
Der Winter beginnt, eine harte Jahreszeit im kontinentalen Europa. Die
russische Bevölkerung ist sich seit der napoleonischen Invasion bewusst,
dass sie ein so großes Land nicht verteidigen kann. Sie hat also
gelernt, genau die Weite ihres Territoriums und die Jahreszeiten zu
nutzen, um jene zu besiegen, die sie angreifen. Mit dem Winter wird die
Front für mehrere Monate an Ort und Stelle bleiben. Jeder kann sehen,
dass die russische Armee entgegen der Behauptung, die Russen seien
besiegt, den Donbass und einen Teil von Neurussland befreit hat.
Noch bevor der Winter hereinbrach, hat der Kreml die nördlich des Dnjepr
lebende befreite Bevölkerung von Cherson evakuiert und seine Armee den
am Nordufer des Dnjepr gelegenen Teil von Cherson geräumt. Zum ersten
Mal markiert eine natürliche Grenze, der Dnjepr, eine Grenze zwischen
den von Kiew kontrollierten Gebieten und denen, die von Moskau
kontrolliert sind. Der Mangel an natürlichen Grenzen war schon in der
Zwischenkriegszeit der Grund, der alle aufeinander folgenden Mächte in
der Ukraine zu Fall brachte. Jetzt ist Russland aber in der Lage, sich
zu halten.
Seit Beginn des Konflikts kann die Ukraine auf unbegrenzte Hilfe der
Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zählen. Die Zwischenwahlen in
den USA haben der Biden-Regierung jedoch die Mehrheit im
Repräsentantenhaus genommen. Von nun an wird Washingtons Unterstützung
begrenzt sein. Ebenso stößt auch die Europäische Union an ihre Grenzen.
Die Bevölkerung versteht weder die steigenden Energiekosten, die
Schließung einiger Fabriken noch die Unfähigkeit, normal zu heizen.
Nachdem man die Kommunikationsfähigkeiten des Schauspielers Wolodymyr
Selenskyj bewundert hat, beginnt man sich in manchen Machtkreisen über
die Gerüchte seines plötzlichen Vermögens zu wundern. In acht Monaten
Krieg wäre er Milliardär geworden. Die Unterstellung ist nicht
überprüfbar, aber der Skandal der Pandora Papers (2021) macht sie
glaubwürdig. Ist es wirklich notwendig, sich vollkommen verbluten zu
lassen, um zu sehen, dass Spenden in der Ukraine ankommen, aber in
Offshore-Firmen verschwinden?
Die Angelsachsen (d.h. London und Washington) wollten den G20-Gipfel in
Bali in einen antirussischen Gipfel verwandeln. Sie hatten zunächst
darauf gedrängt, dass Moskau wie beim G8-Gipfel aus der Gruppe
ausgeschlossen wird. Aber wenn Russland abwesend gewesen wäre, wäre
China, mit Abstand der größte Exporteur der Welt, auch nicht gekommen.
Also wurde der Franzose Emmanuel Macron beauftragt, die anderen Gäste
zur Unterzeichnung einer blutigen Erklärung gegen Russland zu bewegen.
Zwei Tage lang versicherten westliche Nachrichtenagenturen, dass der
Fall erledigt sei. Aber letztendlich schließt die Abschlusserklärung,
wenn sie auch den westlichen Standpunkt zusammenfasst, die Debatte doch
mit diesen Worten: „Es gab andere Standpunkte und unterschiedliche
Einschätzungen der Situation und der Sanktionen. In Anbetracht der
Tatsache, dass die G20 nicht das Forum zur Lösung von
Sicherheitsproblemen ist, wissen wir, dass Sicherheitsfragen erhebliche
Folgen für die Weltwirtschaft haben können.“ Mit anderen Worten ist es
den Westmächten zum ersten Mal nicht gelungen, ihre Weltanschauung dem
Rest der Welt aufzuzwingen.
DIE FALLE
Schlimmer noch: Der Westen erzwang eine Videointervention von Wolodymyr
Selenskyj, wie er es am 24. August und 27. September im Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen getan hatte. Doch während Russland im September
in New York vergeblich versucht hatte, sich dagegen zu wehren,
akzeptierte es seine Videointervention im November auf Bali. Im
Sicherheitsrat hatte Frankreich, das den Vorsitz innehatte, gegen die
UN-Vorschriften verstoßen, indem einem Staatsoberhaupt per Video das
Wort erteilt wurde. Dagegen vertrat Indonesien auf dem G20-Gipfel eine
absolut neutrale Position und hätte wahrscheinlich nicht zugestimmt, ihm
ohne russische Erlaubnis das Wort zu erteilen. Das war eindeutig eine
Falle. Präsident Selenskyj, der die Funktionsweise dieser Organe nicht
kennt, ist da hineingefallen.
Nachdem er Moskaus Aktion karikiert hatte, forderte er dessen Ausschluss
aus der… „G19“. Mit anderen Worten, der kleine Ukrainer gab im Namen
der Angelsachsen einen Befehl an die Staatsoberhäupter, Premierminister
und Außenminister der 20 größten Weltmächte und wurde nicht gehört. In
Wirklichkeit drehte sich der Streit zwischen diesen Führern nicht um die
Ukraine, sondern darum, ob sie der amerikanischen Weltordnung
unterworfen waren oder nicht. Alle Teilnehmer aus Lateinamerika, Afrika
und vier aus Asien sagten, dass diese Herrschaft vorbei sei; dass die
Welt jetzt multipolar sei.
Die westlichen Teilnehmer müssen gespürt haben, wie der Boden unter
ihren Füßen bebte. Sie waren nicht die einzigen. Wolodymyr Selenskyj sah
zum ersten Mal, dass seine Paten, bis dahin absolute Herren der Welt,
ihn ohne zu zögern im Stich ließen, um ihre Position für einige Zeit
noch beizubehalten.
Es ist wahrscheinlich, dass Washington mit Moskau unter einer Decke
steckte. Die Vereinigten Staaten stellen fest, dass sich die Dinge auf
globaler Ebene zu ihrem Nachteil wenden. Sie werden absolut nicht
zögern, dem ukrainischen Regime die Schuld zu geben. William Burns,
Direktor der CIA, hat Sergej Naryschkin, den Direktor des russischen
Geheimdienstes SVR, bereits in der Türkei getroffen. Diese Gespräche
folgen denen von „Jake“ Sullivan, dem nationalen Sicherheitsberater der
USA, mit mehreren russischen Beamten. Aber Washington hat in der Ukraine
nichts zu verhandeln. Zwei Monate vor dem Konflikt in der Ukraine habe
ich erklärt, dass die Wurzel des Problems nichts mit diesem Land zu tun
hat, genauso wenig wie mit der NATO. Es geht im Wesentlichen um das Ende
der unipolaren Welt.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass Wolodymyr Selenskyj wenige Tage
nach der G20-Ohrfeige erstmals öffentlich seinen US-Sponsoren
widersprach. Er beschuldigte Russland, eine Rakete auf Polen abgefeuert
zu haben, und blieb bei seiner Behauptung, während das Pentagon sagte,
dies sei falsch, und es eine ukrainische Abwehrrakete gewesen sei. Für
Selenskyj ging es darum, weiterhin im Einklang mit dem Warschauer
Vertrag zu handeln, der am 22. April 1920 von den „integralen
Nationalisten“ von Symon Petljura mit dem [polnischen] Piłsudski-Regime
geschlossen wurde; Polen dazu zu drängen, gegen Russland in den Krieg zu
ziehen. Dies ist das zweite Mal, dass Washington vor seinen Ohren ein
Glöckchen läutet. Er hat es nicht gehört.
Wahrscheinlich werden sich diese Widersprüche nicht mehr in der
Öffentlichkeit zeigen. Die westlichen Positionen werden geschmeidiger
werden. Die Ukraine wurde gewarnt: In den kommenden Monaten wird sie mit
Russland verhandeln müssen. Präsident Selenskyj kann seine Flucht jetzt
schon vorbereiten, weil seine geschlagenen Landsleute ihm nicht
verzeihen werden, dass er sie getäuscht hat.
Übersetzung
Horst Frohlich
Korrekturlesen : Werner Leuthäusser
https://www.voltairenet.org/article218425.html
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