Mittwoch, 21. November 2012

"Der Grenzraum als Erinnerungsort"


Über den Wandel zu einer postnationalen Erinnerungskultur in Europa

 

„Der Grenzraum als Erinnerungsort“ / Patrick Ostermann, Claudia Müller, Karl-Siegbert Rehberg (Hg.)

               

Buchtipp von Harry Popow

 

Geburtsort, Wohnort, Arbeitsort, Urlaubsort, Lieblingsort – der Mensch hat viele Orte, an die er denken mag, wenn er sich erinnert. Je nachdem, welchen Einfluß sie auf das Denken und Fühlen haben oder hatten. In der Regel bewegen sie sich im nationalen Rahmen. Mit allen schlechten und auch guten Erinnerungen.

 

Das hat sich in der heutigen Zeit des 21. Jahrhunderts vielfach geändert. In Europa zum Beispiel. Es will größer werden. Es läßt den Blick über die Grenzen – die eigentlich keine mehr sind – hinausschwirren in das Größere, in das Mächtigere. Und da stößt der einzelne Mensch auf den Nachbarn, auf andere Gewohnheiten, Mentalitäten, auf andere persönliche Erinnerungen – das vor allem. Mit ihnen kann er sich anfreunden oder es auch sein lassen. Auf jeden Fall ist Toleranz angebracht. Das Nachdenken über noch Trennendes und über das Gemeinsame. Man spricht davon, dass eine „postnationale Erinnerungskultur“ notwendig wäre – im Interesse eines geeinten Europa.

 

Was ergibt sich daraus für die Menschen in den einzelnen Ländern, vor allem jenen, die naturgemäß einen sehr engen Kontakt zum Nachbarland haben? Patrick Ostermann, Claudia Müller und Karl-Siegbert Rehberg haben dazu ein Buch mit dem vielsagenden Titel „Der Grenzraum als Erinnerungsort. Über den Wandel zu einer postnationalen Erinnerungskultur in Europa“  herausgegeben.

In vier Kapiteln werden Aspekte „zur Konjunktur nationaler Geschichtskonstruktionen“ gekennzeichnet, es geht um „neue Formen und Funktionen der Lern- und Geschichtsorte im Grenzraum von Trentino – Südtirol“; sodann wird „der schwierige Wandlungsprozess der Erinnerungskultur von einer nationalistischen zu einer pluralen Perspektive im italienisch-slowenischen Grenzraum“ beleuchtet. Nicht zuletzt wird mit „Agenturen der Vergegenwärtigung“ die Funktion der Geschichtsmuseen und Gedenkorte als Stätten historischen Lernens beschrieben.

In der Einleitung wird darauf verwiesen, dass das Ende des Kalten Krieges nicht etwa für die Aufhebung der Grenzen schlechthin, „sondern vielmehr für deren Neufestlegung“ sorgte. Umso dringlicher sei es, sie näher zu untersuchen. Auf Seite 14 heißt es dazu: „In einem zusammenwachsenden Europa verlieren Staatsgrenzen an ihrer sicherheitspolitischen Relevanz. Heute werden ihre Linien und Demarkationspunkte vielmehr zu Orten der Erinnerung vergangener Kriege und nationaler Selbstbehauptungsbestrebungen.“ Jedoch gelte für alle Grenzräume, „dass sie Kontakt- und Transferräume sind, in denen die aufeinandertreffenden Kulturen und Nationen mit ihren jeweiligen Geschichtserzählungen nach wie vor um die Deutungshoheit kämpfen.“ (S. 17)

 

Als Orte der grenznahen Erinnerungen werden u.a. Bozen, Trient, Triest, Orte im Elsass und andere angeführt. Um nur ein Beispiel einer konfliktbeladenen Auseinandersetzung zu benennen: Die „Autonome Provinz Bozen-Südtirol“, die nördlichste Provinz Italiens, sei ein kleines, widersprüchliches, „zugleich exzelentes Zentrum europäischer Gedächtnis-Stadien“, so Hans Heiss. (S. 67) Der Stadt und ihren Bürgern sei es bis heute nicht gelungen, sowohl den Nationalismus als auch den faschistischen Imperialismus als Erfahrungsräume sichtbar und nutzbar zu machen. Angeführt wird der Streit um die Umbenennung des Siegesplatzes in „Friedensplatz“, was letztendlich nicht gelungen war. Interessant in diesem Zusammenhang: „Es gab keine professionale Werbekampagne, keinerlei Informationsmaterial, (…), auch keine (…) historische Aufklärung über die Hintergründe von Platz und Denkmal“, so der Autor. Er bezeichnen dies als einen „beeindruckenden Dilettantismus der ´Wohlgesinnten´, die das gute Argument allein schon für ausreichend hielten…“ (S. 69)

 

Ein Kapitel wird der Erinnerungskultur im italienisch-slowenischen Grenzraum gewidmet. Italien maß den ethnischen Minderheiten im Staat wenig Bedeutung zu. In Bezug auf das Kriegsgedenken wurde die Erinnerung an die Gefallenen lediglich mit „Unbekannter Soldat“ bezeichnet. In einem anderen Beitrag dieses Buches schreibt die Autorin Christiane Liermann: „Schaut man auf die (…) politische Kultur in Italien und allgemein auf die italienische Gesellschaft scheint es, als besitze Geschichte keine dominante Bedeutung als Motor einer (…) ´kollektiven Identität´ mehr.“ (S. 43)

 

In zahlreichen Fallbeispielen, die hier nicht alle benannt werden können, analysieren die Autoren die Bedeutung von Geschichtsmuseen und Gedenkorten – besonders in Grenzregionen - , indem sie konträre nationale Ansprüche und ihre geschichtliche Deutung darstellen und dabei Völkerverbindendes in den Mittelpunkt rücken. Es geht dabei um Denkmäler, Plätze, Straßennamen, Friedhöfe, Städte und vor allem Museen.  Hervorzuheben sind dabei die Probleme, die die Autoren bei der weiteren Bildungs- und Erinnerungsarbeit sehen.

 

So nimmt Patrick Ostermann die Doppelfunktin des Rassenbegriffs für die italienische Außenpolitik unter die Lupe. Er legitimierte einerseits den Führungsanspruch der beiden ´arischen´ Nationen Italien und Deutschland sowie andererseits den italienischen Führungsanspruch innerhalb der ´Neuen Ordnung Europas´ gegenüber Deutschland. Luigi Cajani kritisiert, dass bis Ende der 1990er Jahre Kriegsverbrechen der Italiener nicht in den Schulbüchern erwähnt und Eingriffe der Politik in die Geschichtsschreibung vorgenommen wurden. Francesco Fait schreibt in Bezug auf Triest von einer starken Präsenz von Gedenktafeln, Feierlichkeiten, Ausstellungen, Führungen und Publikationen, gibt allerdings zu bedenken: Das führe jedoch dazu, sich „dem Dialog mit der Zeit zu entziehen und ihn dauerhaft gleichsam in Bernstein einzuschließen.“ (S. 175) Kurz: Die Geschichtsmanifestationen sollten einen Bezug zur Gegenwart und zur Zukunft herstellen. Zur Arbeit an Gedenkstätten und in Museen meint Alfons Kenkmann, sie sollten vor allem Orientierungsangebote für die Zukunft anbieten. An anderer Stelle mahnt Bert Pampel, Gedenkstätten mögen „Raum für Gespräch und Austausch“ bieten.

 

Augenfällig in nahezu allen Beiträgen: Die Kritik der Autoren an Erscheinungen in der Politik und in maniepulierten Medien: Die Terminologie der Verharmlosung faschistischer Verbrechen, die Technik der Verschleierung, der Personalisierung, der Ausblendungen, der „Vermenschlichung“ (z.B. Mussolinis), der Entzeitlichung historischer Vorgänge, des Verschweigens, der Reduzierung auf Details, der Verengung, zum Beispiel auf nur eigene Opfer, der Beschönigungen, der Oberflächlichkeit usw. Nicht zu vergessen die absurde und dumme Einteilung von Geschichte und Nationen in Gut und Böse.

 

Dies alles verurteilen die Autoren. Nicht ohne Grund. Denn die Taktik der Massenverdummung ist noch nicht aus der Welt. Sind wir doch alle – auch die Autoren dieses Buches – im System der antagonistischen Widersprüche verstrickt. Nach wie vor. Wer denkt da u.a. nicht an verfälschte Aussagen über die Geschichte der DDR, an Reduzierungen auf die Opfer der Stasi u.a.m. In diesem Zusammenhang ein Zitat von Seite 194/195. Da berichtet der Autor von einer Umfrage unter Schülern, die die Gedenkstätte Bautzen (Haftanstalt) besucht hatten. „Dabei stellte sich heraus, dass die konkreten Einsichten über das Unrecht in Bautzen zwar nicht zum vollständigen Bereinigen des DDR-Gesamtbildes von verklärenden Aspekten (weniger Kriminalität, keine Arbeitslosigkeit, niedrigere Mieten, stärkerer gesellschaftlicher Zusammenhalt) führten.“ Bautzen wird höher bewertet als das gesamte Leben in der DDR? Das Leben als verklärende Aspekte? Da muß man sich doch fragen: Wer oder was hat hier die Hand im Spiel zu dieser unwissenschaftlichen, unhistorischen und nur aufs Einzelne reduzierten Falschaussage?

 

Der Mensch und seine Orte. Es ist sehr dringlich, die Erinnerungskultur zur Kultur des  Umgangs miteinander machen zu wollen. Befinden sich die Menschen doch nach wie vor im Taumel zwischen Wahrheitsstreben und vernebelnder Politik. Insofern sind die Beiträge zu Grenzräumen als Erinnerungsorte für Denkanstöße für die Regierenden eine Aufforderung, aus dem Dilemma eines strauchelnden Europa herauszufinden, ja, neue Wege zu finden, um vor allem die menschlichen, die sozialen Aspekte für eine friedvolle Zukunft abzustecken.

 

Die aber werden im Interesse der Machterhaltung des Kapitals in den Wind geschlagen, ja, bekämpft. Postnationale Erinnerungskultur im Interesse eines geeinten Europa? Es erübrigt sich die Frage, wessen Europa das wohl sein soll. Patrick Ostermann schreibt in seiner Schlussbetrachtung auf Seite 248: „Die Europäische Union, so der spanische Schriftsteller und Überlebende des KZs Buchenwald, könne nur gelingen, wenn die Erinnerungen miteinander geteilt und vereinigt würden.“ (PK)

 

Die Autoren: Prof. Dr. Arand, Tobias; M.A. Bunnenberg, Christian; Prof. Cajani, Luigi; dott. Fait, Francesco; Dr. phil. habil. Heiss, Hans; Prof. Dr. Kenkmann, Alfons; Dozent. Dr. Klabjan, Borut; Dr. Liepach, Martin; Dr. Liermann, Christiane; Dipl.-Soz. Müller, Claudia; Dr. Obermair, Hannes; Dr. M.A. Ostermann, Patrick; Dr. Pampel, Bert; Prof. Pirjevec, Joze; dott.ssa. Pisetti, Anna; Prof. Dr. Rehberg, Karl-Siegbert; Prof. Zadra, Camillo;

Patrick Ostermann (Hrsg.): Der Grenzraum als Erinnerungsort. über den Wandel zu einer postnationalen Erinnerungskultur in Europa. transcript (Bielefeld) 2012. 253 Seiten. ISBN 978-3-8376-2066-5. D: 29,80 EUR, A: 30,70 EUR.

Erstveröffentlichung in der Neuen Rheinischen Zeitung

                                             

 

 

Samstag, 10. November 2012

Wer den Milchstrom bestimmt…


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Mein Leben mit Rindviechern … / Dr. Rolf Funda

Meine Meinung zu einem Buch der privaten Erinnerungen / Harry Popow

Hellwach ist der Mann. Aktiv ist der Mann. Will als über Siebzigjähriger eine feste Bleibe für Erinnerungsliteratur einstiger DDR-Bürger aus dem Boden stampfen. Kommt in die Zeitung. Wird interviewt. Dr. Rolf Funda heißt unser Mann. Ziemlich bekannt als Tierarzt im Norden der damaligen Republik. Nach der sogenannten Wende im Landtag von Sachsen-Anhalt tätig. Und als Bürgermeister in Löderburg. Und, und, und… Ein Tausensassa!

Und nun hat er sein Fühlen, Denken und Handeln zu Papier gebracht. Mit einem schwerwiegenden Buch, das immerhin  410 Seiten umfasst. Titel: „Mein Leben mit Rindviechern, Politikern und Menschen“. Das erste Schmunzeln beim Leser ist ihm damit schon sicher. Da steht er nun, blättert all seine Erlebnisse, Träume, Abenteuer, Erfahrungen und auch Missgeschicke hin, nimmt zur Genugtuung der Leser manche Ungerechtigkeiten und Borniertheiten aufs Korn. Das alles allerdings zu lesen nur für seine Kinder, Enkelkinder, nahe Verwandte und gute Bekannte.

Ein starker Charakter, der sein sinnerfülltes Leben, sein Wirken, seine erlebten Werte nicht unter Verschluss hält. Ich jedenfalls habe sein Buch mit zunehmender Atemlosigkeit verschlungen. Was für ein kraftvolles Menschenleben! Was für eine selbstlose Hingabe – nicht für sich selbst, für mehr, für die anderen, für die große Gemeinschaft!

Was für hörige BILD-Leser und andere leicht geistig vernebelte Kleingeister nahezu unmöglich erscheinen mag: Ein kleiner Junge im Osten Deutschlands, nach 1945 in der einstigen DDR als Kuhjunge in der bäuerlichen Landwirtschaft aufgewachsen, hatte alle Chancen, sich bis zum Tierarzt ohne Kostenbeteiligung hochzuarbeiten. Was besonders ins Auge sticht: Er hat ein gutes, ein nutzbringendes Leben hinter sich gebracht. Darauf kann er stolz sein, sehr sogar.

Ich, der gleichen Generation wie der Autor angehörend, habe selten eine so interessante und spannende Autobiographie gelesen wie diese. Allein der große Abschnitt seiner Kindheitserinnerungen spiegeln ein nicht leichtes aber vielseitiges und in sozialer Sicherheit vollbrachtes Dasein wider. Dies mag nicht einmalig sein, dafür aber hat der Autor aus dem Gedächtnis, wie er schreibt, so eine Menge an Details ans Licht befördert, dass allein schon deswegen Bewunderung angebracht ist.

Unser Mann hat etwas zu erzählen und er kann es auch - angefangen von der Kindheit, über Schule, Soldatsein, Universität, Kreistierarzttätigkeit, Landtagsabgeordneter (nach der Wende) bis zu den Mühen eines Bürgermeisters. Was zunächst aussehen mag nach einer etwas langweiligen Chronologie – sie ist es aber nicht. Im Gegenteil. Der Autor versteht es, in kurzweiligen - nahezu literarisch gestalteten – Episoden, sein Leben wie ein schönes Mosaik zusammenzusetzen. Es trägt dazu bei, den Text sehr anschaulich und bewegend zu gestalten. Auch läßt er die Leser nicht im Regen stehen,  wenn er mal gedanklich vorauseilt, mal zurückblickt und mal kurze Kommentare einfügt. Man weiß halt, wo man bei ihm dran ist.

Manch einer mag sich zunächst auch nicht so recht mit zahlreichen Fakten auf dem Gebiet z. B. der Veterinärmedizin anfreunden, sollte jedoch bedenken, daß gerade berufsspezifische Details dazu beitragen, die Anstrengungen und Erfolge der handelnden Personen richtig einzuschätzen.

Auf entscheidende Werte möchte der Rezensent aufmerksam machen: Das ist die Liebe des Dr. Funda zu den Menschen, zur Arbeit, zu einem ausgeprägten Verantwortungsbewußtsein für das, was er tut. Er formuliert das so: „Wenn ich irgendwo mitmache, mache ich das auch auch immer gründlich…“ Das ist sein hohes Engagement, ob im Kuhstall oder später als Tierarzt. Das ist nicht zuletzt seine Fähigkeit, sich bei Widrigkeiten durchzuboxen, dem Mittelmäßgen die Stirn zu bieten. Der Mann hat eben Charakter. Punkt.

Es ist eine Freude zu lesen, wie er seinen Vater beschreibt, der als Melker, als Rindernarr und Rinderfachmann in seinem Kuhstall beste, im ganzen Kreis bekannte, Ergebnisse erzielte. Dessen Leitspruch: „Der Mensch bestimmt den Milchstrom.“ Er hatte „während seines gesamten beruflichen Lebens Pünktlichkeit, Gewissenhaftigkeit und Sauberkeit zu seinen höchsten Maximen gemacht“, so sein Sohn Rolf und Autor dieses Buches. Die Arbeiter-und Bauern-Macht hätte ihn, der seit 1923 Mitglied der KPD war, gerne als Funktionär eingesetzt, doch er blieb bis zu seinem Tode seinem Kuhstall treu.

Was Wunder, wenn bereits der fünfjährige Sohn Rolf seine Liebe für den Kuhstall und für Rinder entdeckte. Er notiert: „Sehr frühzeitug habe ich das Melken erlernt. Manchmal habe ich unter einer Kuh gesessen und an den Zitzen genuckelt (…)“ Den Wert der Arbeit auf dem Bauernhof, die körperlichen Plagen und den notwendigen Fleiß besingt der Autor förmlich mit charakterisierenden Schilderungen:  Halb vier ging Vater in den Kuhstall. Er mußte die Einstreu erneuern, die Kuhfladen der Nacht nach hinten befördern, den Kühen Schrot und andere Konzentrate geben, melken, füttern, misten, Kühe putzen, Da auch noch die größeren Kälber, Jungrinder und Schweine zu versorgen waren, kam der Vater selten vor halb zehn Uhr nach Hause. Nach dem Frühstück Garten graben, Brennholz hacken, Ziegenstall ausmisten. Und er, der Autor? Er mußte als Fünfjähriger `Scheiße wegräumen´, das heißt mit der Mistgabel die Haufen der Kühe wegräumen, damit diese sich ins trockene Stroh legen konnten.

In späteren Jahren, da war er bereits Wachsoldat und im Personenschutz tätig, berichtet er von seiner beginnenden Liebe zu Anne, das ist so schön zu lesen und macht den Autor sympathisch, zumal er noch heute mit seiner Angebeteten zusammen und sehr glücklich ist. Schmunzelnd nimmt man auch seinen Witz, seinen draufgängerischen Humor zur Kenntnis. So, als er von einem Propusk (Ausweis) der Sowjetarmee berichtet, den er einst für Hilfeleistungen in einem Objekt der Waffenbrüder, das er sehr oft wegen kranker Tiere betreten musste, erhalten hat. Diesen Ausweis DDR-Behörden vorlegend, bekam er umgehend Zutritt. So hatte er seinen Spass…

Charakteristisch für den Bauernjungen und späteren Tierarzt: Seine Ungeduld gegenüber allzu gleichgültigen Leuten, Feiglingen, Angsthasen, Philistern, Schmarotzern, Wendehälsen… Er beschreibt seine Haltung so: Er sei immer ans Limit gegangen. Ohne Schonung, was er auch von anderen verlangte. „Ob es sich um Leute über mir, Partner neben mir oder mir Unterstellte handelte, war mir völlig egal. Wenn sie nur halbherzig, ohne Lust und Engagement an die Lösung einer Aufgabe gegangen sind, habe ich sie heftig und nachhaltig kritisiert“, schreibt der Autor. Sein Vater sei ja auch so unduldsam gewesen.

Die Arbeitsweise des Bürgermeisters Funda zum Beispiel: In einer wichtigen kommunalen Angelegenheit schrieb er nicht ellenlange Briefe, sondern klingelte bei den Bürgern und suchte das persönliche Gespräch. (S. 359) So handelt einer, dem die Menschen wichtig sind. Mit innerem Groll denkt er dabei auch an DDR-Zeiten zurück, da es mit einer der größten Fehler war, „den Bauern alles, aber auch alles vorzuschreiben und es dann mit aller Macht durchzusetzen“. (S. 260)

Beeindruckend, wie der Tierarzt die Tierseuchenbekämpfung in der DDR beschreibt. Da mußte unter der Zeitangabe „X plus zwei Stunden“ nach Feststellung einer Seuche oder eines begründeten Verdachts das Seuchenobjekt hermetisch abgeriegelt sein. Der betroffene Landkreis erhielt dann mit Unterstützung des Bezirkstierarztes und seinen Leuten sehr schnelle Hilfe. „Wenn ich mir heute die Tierseuchenbekämpfung in diesem Land anschaue, kriege ich das kalte Gruseln“, so Rolf Funda. Schließlich hatte er zu DDR-Zeiten als Kreistierarzt und damit im Kreis als oberster Tierseuchenbekämpfer eine zwanzigjährige Erfahrung. So schreibt er weiter: „Und deshalb kann ich den Dilletantismus der Gegenwart gut beurteilen. Tritt eine Seuche auf, hüpfen –zig Journalisten zwischen Bauern, Feuerwehr und THW-Leuten , Beamten und anderen angeblich wichtigen Personen herum.“

Ob zu DDR-Zeiten oder dann im Landrat oder als Bürgermeister – Rolf Funda hält nicht still, wenn er auf Borniertheit und Arroganz trifft, wenn klug durchdachte Vorschläge im Interesse der Menschen in den Wind geschlagen werden. Da kann er mitunter mit der Faust auf den Tisch hauen, auch in Form von Protestbriefen wegen des Sputnikverbotes vor der Wende. Auf Seite 302 schreibt Dr. Funda: „Erst angesichts des drohenden Zusammenbruchs gab ich mein Schweigen auf und wurde aktiv.“ Am 9. Oktober 1989 schrieb er einen Brief an den 1. Sekretär der Bezirksleitung Magdeburg, Politbüromitglied Werner Eberlein. Er forderte dringende Veränderungen, kritisierte scharf die Stagnation in der SED. Doch „Antwort bekam ich nicht.“ Ein weiterer Brief folgte. An die Kreisleitung der SED. Auch hier Sendepause! Nach der Wende protestierte er gegen Berufsverbote (kletterte sogar über eine Absperrung) und gegen Diskriminierungen gegenüber DDR-Bürgern. Mit Widerwillen registrierte er vor allem diejenigen ehemaligen SED-Leute, die schnell ihre Fahnen nach dem neuen Wind drehten, den Schleimern, wie er schreibt.

Er macht keinen Hehl daraus, als Wachsoldat dem MfS gedient zu haben. Gleichermaßen ehrlich gesteht er die Fehler ein, die u.a. auch durch die „flächendeckende Überwachungstätigkeit“ durch das MfS als einen wesentlichen Grund für den Zusammenbruch der DDR sieht. Nicht ohne Wehmut stellt auch er – wie zahlreiche ehrlich gebliebene einstige DDR-Bürger -  fest, dass mit „dem traurigen Ende dieser versuchten Alternative (…) der Kapitalismus seine Tarnmaske vom Gesicht genommen (hat), zeigt er sich so unersättlich, wie ihn Marx schon beschrieben hat.“

Bleibt nur hinzuzufügen: Der lebendige Lebensbericht des Dr. Rolf Funda erhält sein besonderes Gewicht durch die kostbaren Erfahrungen, die der Autor auch nach der Wende in den verschiedensten Funktionen ausgeübt hat, da er so Vergleiche anstellen konnte und immer öfter bestätigt bekam – wie kann es anders sein - , dass dieses kapitalistische System keine Perspektive hat, keine, die für die Menschen vor allem in sozialer Hinsicht bitter notwendig wäre. Das Buch des Dr. Funda - es ist der aufrechte Gang einer starken Persönlichkeit, die den Sinn des Lebens in einer zukünftigen Zivilgesellschaft, frei von Ausbeutung und Krieg, sieht. Wie lautete der Spruch seines Vaters? Der Mensch ist es, der den „Milchstrom bestimmt“. Eben…

Deshalb der uneingeschränkte Dank an den Trutz-Bauer mit Doktorhut mit guten Wünschen für seine Bemühungen um eine Erinnerungsbibliothek zur DDR-Geschichte.
(„Mein Leben mit Rindviechern, Politikern und Menschen, Dr. Rolf Funda, Selbstverlag, 410 Seiten)

 
(„Wer sich ins Privatleben zurückzieht, ist deshalb kein Feigling, aber wer kämpft, ist kein Narr.“ Das schrieb Michael Benjamin in seinem Buch „Das Vermächtnis“ auf  Seite 67, edition ost)

PS.: Wer sich mit der Erinnerungsbibliothek näher vertraut machen möchte, der wähle folgende E-Mail-Adresse: http://www.erinnerungsbibliothek-ddr.de/
 

 

 

Donnerstag, 1. November 2012

"Staatsnahe" Feldhasen


Eine Dokumentation zu Staatsjagden in der DDR / Autor Peter Schreiber

Buchtipp von Harry Popow

Der sehr verständliche Strom von Erinnerungslektüre ehemaliger DDR-Bürger reißt nicht ab. Gott sei Dank, möchte man da sagen. Es wird noch eine lange Zeit dauern, ehe Rot- und DDR-Hasser akzeptieren, was war: Die DDR als bitter notwendigen Versuch einer Alternative zu einem kapitalistisch geprägten Deutschland, um jegliche Gefahr eines neuen Völkermordens von vornherein in die Schranken zu weisen – ein für allemal. Nun ist es anders gekommen, und gerade deshalb ist es so sehr wichtig, die Erinnerung an die Startversuche zu einem echten Friedensstaat wie die DDR einer war, aufrecht zu erhalten. Um der Zukunft willen.

 Deshalb sei all denen, die mit ihren Lebenserinnerungen im Grunde genommen zur Geschichtsschreibung beitragen, um so jeglichen Wahrheitsverschleierungen und Fälschern Paroli zu bieten, zu danken. Nun stehen private Lebenserinnerungen nicht unbedingt als pars pro toto für die Komplexität der DDR-Geschichte und ihrem Wirken im Bund der sozialistischen Länder, aber sie fügen sich letztendlich wie ein Mosaik zu einem Gesamtgemälde zusammen. Das trifft besonders auf jene Texte zu, die hinter die Kulissen staatlicher und parteilicher Macht schauen und so die Vielfalt der kollektiven Anstrengungen beleuchten, die den im Kalten Krieg so störanfälligen Arbeiter-und Bauern-Staat zu schützen suchten.

Einer der DDR-Bürger, die mutig zur Feder griffen, ist Peter Schreiber aus Erfurt. Der 1940 in Arnstadt Geborene erlernte den Beruf eines Fleischers, was sich später in den Reihen der Nationalen Voksarmee als sehr nützlich erwies: Er wurde im Stab der 4. Mot.-Schützendivision in Erfurt Oberoffizier für Planung und Beschaffung und Leiter der Unterabteilung Verpflegung. Mehr noch – ihn befahl man zum Aufbau der Jagdlager für die Staatsjagden im Bezirk Erfurt. Wie im Klappentext zu lesen, war der Oberstleutnant a. D. mit dafür verantwortlich, sowohl die jeweilige Jagd als auch die Betreuung und Versorgung der Jagdgäste, also vor allem der Staatsführung und deren Gäste, die Vertreter des Diplomatischen Corps, sicherzustellen.

 Man kann sich vorstellen, welche hohe Verantwortung den Organisatoren solcher Staatsjagden oblagen: Besonders auch für die Sicherheit der Gäste. Ging es doch darum, zu Beginn der sechziger Jahre, wie der Autor schreibt, alles zu unternehmen, um die internationale Anerkennung der DDR weiter auszubauen. Selbstverständlich wurden dazu auch Staatsjagden genutzt.

 In einem 82 Seiten umfassenden Büchlein mit 79 Abbildungen, der Autor nennt den Text „dokumentierte Erinnerungen“, berichtet er von insgesamt zwölf Jagden, die von 1965 bis 1989 im Bezirk Erfurt stattfanden. Was unvermeidbar bei dieser Aufeinanderfolge von immer wiederkehrenden Abläufen ist: Wiederholungen von Eindrücken, Erlebnissen, Schwierigkeiten.

 Nichtsdestotrotz ist man beim Lesen stets gespannt, welche Episoden und Begegnungen Peter Schreiber in seinen Erinnerungen besonders lebendig hervorhebt. Sind schon die Jagd und die Vorbereitung für manche Leser interessant genug, so erst Episoden, die die große Fürsorge für die hohen Staatsgäste, deren Sicherheit und auch die vertrauensvolle Zusammenarbeit aller Organisatoren betreffen.

 Wer weiß schon, dass zum Beispiel darauf verzichtet wurde, auf Hochwild zu schießen. Der Grund: Dazu wären Kugelwaffen nötig gewesen, in deren Gebrauch allerdings nicht alle Vertreter des Diplomatischen Corps geübt waren. Wer hatte nun das Glück, ins Schußfeld der Jäger zu kommen? Die Feldhasen!

Der Autor versteht es, die Staatsjagden in den Kontext der zunehmenden weltweiten Anerkennung der DDR zu stellen. So entwickelten diese sich nach der Aufnahme der DDR und der BRD in die Vereinten Nationen im Jahre 1973, und nachdem Erich Honecker das Amt des Vorsitzenden des Staatsrates übernahm „zu einer Tradition in der DDR, (…) zu einem gesellschaftlich bedeutenden, medienwirksamen Ereignis.“ (S. 14) Vor allem nach der Konferenz in Helsinki 1975 seien immer mehr Diplomaten akkreditiert worden.

 Bisher legten die Jagdgäste darauf Wert, von keiner Partei eingeladen zu werden, sondern vom Staatsoberhaupt. Nun gab es eine Änderung: Seit 1976 lud nun auch der Generalsekretär des Zentralkomitees der SED zur Jagd ein. Nichts wurde dem Zufall überlassen, so besonders dann nicht, als erstmalig der Ständige Vertreter der BRD in der DDR, Günter Gaus, am organisierten Sonderprogramm teilnahm sowie ein Kamerateam des ARD-Studios unter Leitung des Korrespondenten Fritz Pleitgen eine Sendung über die Arbeit des Ständigen Vertreters vorbereitete.

 Nicht dem Zufall überlassen wurde auch die Sitzordnung im Speisezelt, denn hier sollten „bestimmte Verhandlungen“ angebahnt werden. Streng überprüft wurden auch alle Teilnehmer der Jagdgesellschaften wie Jagdhelfer, Jagdhornbläser, Hundeführer und Ordonanzen, ob sie auch eine „reine Weste“ hatten, also vorwiegend um Westverwandtschaft usw. „Besonderer Wert wurde darauf gelegt, dass die Begleiter der Diplomaten einen guten Leumund“ hatten und „in allen Fragen gute Staatsbürger waren.“ (S. 70)

 Was die Verpflegung anbetraf, so wurden u.a. Erbseneintopf mit Bockwurst, Tee mit und ohne Rum, Erfurter Braugold Bier sowie alkoholfreie Getränke gereicht. Dabei wurden nur Produkte aus dem Bezirk Erfurt verwendet.

Verständlich, dass die Organisatoren auch auf die verschiedenen Bedürfnisse und Gewohnheiten der hohen Gäste zu achten hatten. So wurden für jene Gäste, die aus religiösen Gründen kein Schweinefleisch essen durften, aus dem Geflügelschlachthof Nohra Suppenhühner besorgt, die übrigens, so der Autor, stets eine hervorragende Qualität hatten. Einmal baute man auch ein Gebetszelt auf, dass, mit Teppich ausgelegt und nach Osten ausgerichtet, allerdings nicht genutzt wurde. Und für die Hasen wurden im Gelände extra Zuckerrübenschwänze und –blätter ausgelegt, denn sie sollten sich „wohlfühlen“.

Vonnöten war eine umfangreiche materielle Sicherstellung: Das betraf die Speisezelte, die Telefonverbindungen für die Gäste und für die Regierungsmitglieder, z. B. spezielle abhörsichere SAS-Telefonapparate und auch selbstverständlich eine größere Wachsamkeit und Sicherheit in Vorbereitung und während der Jagden.

 Mitunter gerieten die Gastgeber auch in Bedrängnis. So, als der französische Botschafter sich zum Erbseneintopf ein Glas Weißwein aus der Region wünschte, der jedoch vor Ort nicht vorrätig war. Starkes Klopfen an der aus „Sicherheitsgründen“ geschlossenen Konsumverkaufsstelle bewirkte, dass doch noch ein regionaler Wein „erbeutet“ werden konnte, der den Namen „Natalie“ trug. (Er war, so der Autor, nur Kennern geläufig und zählte mit seiner lieblichen Süße zu den „Trockenen Weinen“.) So wurde der Botschafter zufriedengestellt.

Wer das Büchlein liest, das ist in wenigen Stunden zu schaffen, der kommt nicht um ein vergnügliches Schmunzeln herum, und das ziemlich oft. Beispielsweise durften die von Militärattaches erlegten Feldhasen (es waren zeitlich getrennte Jagden) nicht die Anzahl der von den Diplomaten erlegten Tiere übersteigen. Andererseits sollte die Trefferquote von Jagd zu Jagd übertroffen werden. Man verfiel auf die Idee, etliche Hasen bereits vor der eigentlichen Jagd zu erlegen, um sie dann auf die „Strecke“ zu legen. Doch ohne Erfolg, denn die zuvor geschossenen hartgefrorenen Tiere verschwanden unter dem Schnee oder, falls aufgewärmt, nahmen eine „stramme Haltung“ ein und „fielen wie ein steifes Brett auf den Streckenplatz.“ (S. 57)

 Was die sprachliche Gestaltung dieser Dokumentation betrifft, so möge man Nachsicht haben und eher den Mut und die Energie bewundern, die der Autor Peter Schreiber aufbringt, ordentlich aus der Schule seines sinnerfüllten Lebens zu plaudern.

 Der Oberstleutnant a. D. freut besonders, dass Erich Honecker bei keiner Jagd vergass, die Leistungen der NVA-Angehörigen bei der Sicherstellung der Jagd extra hervorzuheben. Ob er sich auch bei den sich für den Staat aufopfernden Feldhasen bedankte, dürfte ein Gerücht sein. Allerdings gerieten sie auf der anderen Seite der Staatsgrenze zur BRD möglicherweise auf die schwarzen Listen des Verfassungsschutzes, denn sie waren ja immerhin „staatsnahe“ Tiere. Nach Aussagen von schwatzhaften Gernegrößen, die es ja wie Sand am Meer gibt, seien sie auf den Listen noch nicht gestrichen worden…
 
(„Staatsjagden im Bezirk Erfurt 1971 – 1989“ / Autor Peter Schreiber. Verlag Rockstuhl, Bad Langensalza/Thüringen, ISBN 978-3-86777-460-4, 1. Auflage, 82 Seiten mit 79 Abbildungen, Preis: 12.95 Euro)