Freitag, 17. Mai 2013

Tränen des Vaterlandes / Anno 1636

"Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina“ – Von Petra Wild

Tränen des Vaterlandes

Buchtipp von Harry Popow

"Tränen des Vaterlandes"…so der Titel eines Antikriegsgedichtes, geschrieben von Andreas Gryphius unter dem einschneidenden Eindruck des Dreißigjährigen Krieges von 1618 bis 1648. Darin heisst es:
 
Die Türme stehn in Glut, die Kirch ist umgekehret.
Das Rathaus liegt im Graus, die Starken sind zerhaun,
Die Jungfraun sind geschändt, und wo wir hin nur schaun
Ist Feuer, Pest und Tod, der Herz und Geist durchfähret.

"Tränen des Vaterlandes"… so die Überschrift dieser Rezension zu einer Anklageschrift, die sich dem Völkermorden gegenüber den Palästinensern widmet. Über 300 Jahre nach dem Dreißigjährigen Krieg, nach den Greueln der Weltkriege nun dies: Es geht nicht ab mit nur dreißig Jahren – seit 65 Jahren (seit dem 08. Mai 1948) währt der Würgegriff israelischer Politik gegenüber den Palästinensern innerhalb der Grenzen Israels und in den 1967 besetzten Gebieten. Jenen, die unter dem Deckmantel des Zionismus und der Bibel aus ihren angestammten Landstrichen gewaltsam aus ihren Häusern, Dörfern und ihrem Land vertrieben, gelyncht, ausgehungert und ermordet, die enteignet und ihrer wirtschaftlichen und natürlichen Ressourcen beraubt wurden, deren Geschichte ausgelöscht werden soll, die systematisch diskriminiert werden.

„Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina. Der zionistische Siedlerkolonialismus in Wort und Tat“, so der Titel eines politischen Sachbuches von Petra Wild. Geboren 1963 in Aarbergen/Hessen, studierte sie arabische Sprache und Islamwissenschaften in Jerusalem, Leipzig, Damaskus und Berlin. Sie arbeitet als freiberufliche Publizistin vor allem zur Palästina-Frage und zur Arabischen Revolution.

Wie bereits Evelyn Hecht-Galinski in ihrem Buch „Das Elfte Gebot: Israel darf alles“ sowie antizionistische und fortschrittliche kritische Juden Israels, Publizisten und Palästina-Unterstützer aller Herren Länder, so beschreibt auch Petra Wild die unter unmenschlichen Bedingungen hausenden Palästinenser in der Grünen Linie, in der Westbank, im Gaza-Streifen und in Ost-Jerusalem. So heißt es zum Beispiel auf Seite 47: „Während die jüdisch-israelische Bevölkerung insgesamt denselben Lebensstandard hat wie jene der westlichen kapitalistischen Länder, leben die palästinensischen Staatsbürger Israels unter Dritte-Welt-Verhältnissen.“ Angeführt werden u.a. eine schlechtere Gesundheitsversorgung, eine höhere Säuglingssterblichkeit, eine schlechtere Bezahlung, eine Benachteiligung bei Serviceleistungen, ein Leben unter der Armutsgrenze, ein Ausgeschlossensein aus dem öffentlichen Nahverkehrsnetz. Die Palästinenser werden „als nicht zum Lande gehörend, als unzivilisiert, rückständig, primitiv, faul, dreckig, dumm, gewalttätig und fanatisch dargestellt“. (S. 74) Sie seien gesichtslose Feinde, Terroristen. (S.78) Alle Maßnahmen, so die Autorin, zielen darauf ab, den Willen der Palästinenser zu brechen und ihnen die Hoffnung zu rauben. Dazu zählen Erschwernisse des täglichen Lebens, Schikanen, Kollektivstrafen, gewaltsames Niederschlagen von Demonstrationen, hohe Haftstrafen, die Zerstörung von Häusern und ganzen Stadtvierteln, Wasserentzug, Zerstörung der Olivenbäume, Psychoterror, gezieltes Morden an Widerstandskämpfern sowie Kriege und Massaker gegen die Zivilbevölkerung. „Die Projektion des Hasses auf die Palästinenser ermöglicht die Bewahrung des selbstgerechten israelischen zionistischen Selbstbildes als moralisch rein und dient als zusammenhaltende Kraft in der jüdisch-israelischen Gesellschaft.“ (S. 78) Bei allem  offensichtlichen Landraub – es gäbe keine Massenvertreibungen, keine großen militärischen Aufgebote, es ist vielmehr ein schleichender Prozess, so Petra Wild. (S. 137)

Auf den 240 Seiten und in zwölf Kapiteln spiegelt sich anhand von konkreten Beispielen und bewegenden persönlichen Schicksalen, Zitaten und Kommentaren das Leben eines Volkes wider, das seit der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 um seine Rechte kämpft. Es geht um die Ghettoisierungspolitik in der Westbank, die ethnische Säuberung des Jordantals, die Gewalt der kolonialen Siedler sowie die Vertreibung der einheimischen Bevölkerung und die Zerstörung der historischen Stadt Jerusalem. Petra Wild kommt es insbesondere darauf an, neue Aspekte der Willkürakte des Staates Israel hervorzuheben. Es geht nicht nur um eine Neuauflage der in Afrika einst berüchtigten Apartheid, nicht nur um die ethnische Säuberung, nicht nur um schleichenden Genozid, sondern zusammenfassend um den zionistischen Siedlerkolonialismus. Er strebt danach, so Petra Wild in der Einleitung, „die einheimische Bevölkerung durch eine eingewanderte Siedlerbevölkerung vollständig zu ersetzen“. (S. 9)

Anfangs geht die Autorin gründlich auf den Ursprungs des Konfliktes ein. Sie definiert den Siedlerkolonialismus als eine spezifische Form des Kolonialismus, der auf dem Raub des Landes und der Ressourcen durch Siedler besteht. Zur Legitimation bediene man sich eines ausgeprägten Rassismus, motiviert durch „die Einteilung der Menschen in höhere, zum Herrschen bestimmte und niedere, ihnen unterworfene Rassen“. (S. 12) Der Zionismus, der als Aushängeschild für die Alleinherrschaft der Juden benutzt wird, schreibt Wild, entstand Ende des 19. Jahrhunderts im europäischen jüdischen Kleinbürgertum. Er definierte Judentum nicht mehr nur als Religionsgemeinschaft, sondern als Volk bzw. Nation. „Da die Zionisten die Prämisse der Antisemiten übernahmen, dass Juden und Nicht-Juden nicht zusammenleben könnten, sahen sie die Lösung (…) in der Gründung eines eigenen Nationalstaates außerhalb Europas.“ (S. 12) Ihren Anspruch auf das Land Palästina, das damals zum Osmanischen Reich gehörte, begründeten die zionistischen Siedler damit, „dass sie nicht in ein neues Land kämen (…), sondern nach einem verlängerten Auslandsaufenthalt einfach nach Hause zurückkehrten; die Einheimischen wären die eigentlichen Fremden“. (S. 13) Man greife in der israelischen Geschichtsschreibung auf eine sich ergebende fundamentalistische Bibelauslegung zurück, „der zufolge Palästina das Land der Juden und nur der Juden war und nun – 3.000 Jahre später – wieder ist“. (S. 34) Welche sind die Hauptursachen für die Zuspitzung der Konflikte, der Auseindersetzungen zwischen Kolonialisten und Kolonisierten? Darauf gibt die Autorin folgende Antwort: Es seien „immer der Kampf um Land und Ressourcen“. (S.205)

Obwohl unterschiedliche Bevölkerungsteile in Israel leben, definiert sich der Staat als Staat der Juden, also als Staat einer übernationalen Religionsgemeinschaft. Allerdings schließe die „religiös-ethnische Definition des Staates anstelle einer territorialen (…) die Integration und Gleichberechtigung nicht-jüdischer Bevölkerungsteile strukturell aus“, schreibt die Autorin. (S. 22)  Sie verweist auf zahlreiche Tricks und Verschleierungen des Staates Israel, die es ihm ermöglichen, sich aus Gesetzen mit eindeutigem Apartheidcharakter herauszuhalten. Man lagere beispielsweise staatliche Funktionen an internationale zionistische Organisationen aus. So würde eine Arbeitsteilung bestehen und das demokratische Image in der westlichen Welt gewahrt bleiben. (S. 40) Der Kern der zionistischen Politik in Palästina sei die fortgesetzte „Judaisierung“, die als Hauptideologie Vorrang vor den formalen Bekenntnissen zur Demokratie habe. (S.55) Der koloniale Blick auf die einheimische Bevölkerung werde von oben her durch die ideologischen Staatsapparate, Politiker, Militärs und Rabbiner verbreitet. Zudem bediene sich das religiöse Recht einer Herrenmenschen-Rhetorik, die sie mit den Heiligen Schriften begründet. (S.76) Außer Acht dürfe nicht gelassen werden, dass die eigene Leidensgeschichte der Juden zu einer stark ausgeprägten Selbstgerechtigkeit der Siedlerbevölkerung führe. (S.77) Verwiesen wird auf Seite 82 auf einen seit dem Krieg gegen den Gazastreifen verschärften Rassismus, sodass kritische Israelis vor einem heraufziehenden Faschismus warnen, (S. 82) wobei der Kolonialismus seinem Wesen nach zum Faschismus neigt. (S. 88)

Welche Lichtblicke öffnet uns die Anklageschrift? Im Gespräch ist eine Ein-Staat-Lösung. Im Vordergrund stünden die Erlangung der Rechte der einheimischen Bevölkerung. Das Konzept ziele darauf ab, „den kolonialen Charakter des gegenwärtigen Staates Israel aufzuheben“ und den Nationalismus zurückzudrängen, um so die Möglichkeit für ein gleichberechtigtes Zusammenleben zu eröffnen. (S. 215) Das setze die Überwindung des Zionismus voraus. (S. 217) Von „Innen“, das wird klar, ist durch Verhandlungen keine Lösung zu erwarten. Daran hat die zionistische Seite kein Interesse. Da der Staat Israel in der schlimmsten Krise seiner Geschichte stecke, sei die arabische antiimperialistische Einheit sowie u.a. die Schwächung der USA in der Region und die Entwicklung einer starken internationalen Solidaritätsbewegung vonnöten, so die Autorin auf Seite 222. Von entscheidender Bedeutung sei der revolutionäre Prozess in der arabischen Welt. Interessant ist in diesem Zusammenhang folgende Bemerkung des israelischen Historikers Moshe Zuckermann (junge welt vom 26./27. Januar 2013): Der Zionismus rechtfertige „die Abneigung des jüdischen Kleinbürgers gegen seinen nichtjüdischen Konkurrenten und erlaubt es ihm zugleich, (…) gegen die Verfolgung Stellung zu nehmen, ohne sich gegen das kapitalistische System zu wenden, das ihm gewisse Vorteile sichert“. Damit wäre auch dies ausgesprochen: Nichts geht, ohne den Machtanspruch der herrschenden Elite in den Fokus zu nehmen.

Das Buch der Petra Wild ist eine sehr faktenreiche und lesenswerte Analyse. Vor allem Studenten, deutsche Politiker und politisch Interessierte mögen die zahlreichen Belege für die menschenverachtende Vertreibungspolitik Israels genau sichten und zu eigenen Schlußfolgerungen gelangen lassen. Zu fragen ist auch, wie die Machtverhältnisse im imperialistischen Israel beschaffen sind, die auf die Geschichte und vor allem auf die Lösung der Konflikte einwirken könnten. Man denke dabei an jüdisch-israelische Aktivisten, an mehrere Tausend von antizionistischen oder zionismuskritischen Israelis (S. 213), von denen Petra Wild schreibt. Sie wollen „den Boden für das Zusammenleben in einem gemeinsamen demokratischen Staat bereiten". Ohne Siedlungskolonialismus, ohne Aggressionsbereitschaft gegenüber anderen Ländern, ohne dass „Tränen des Vaterlandes“ vergossen werden müssen, ohne Verstöße gegen die Menschlichkeit, die auch Andreas Gryphius im letzten Vers beklagt: 

Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod,
Was grimmer denn die Pest und Glut und Hungersnot,
Daß auch der Seelenschatz so vielen abgezwungen.

Petra Wild: „Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina. Der zionistische Siedlerkolonialismus in Wort und Tat“, 2013 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien, ISBN 978-3-85371-355-6, br., 240 Seiten, 15,90 Euro, mit Landkarten

Erstveröffentlichung der Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19007

 


Freitag, 3. Mai 2013

Einsame Rebellen


„Die Rote Armee Fraktion. Eine kurze Einführung in die Geschichte der RAF“

Buchtipp von Harry Popow

Angenommen, du sitzt in einem Theater und es hagelt von der Bühne Gewalt, Nacktheit, Sex, Geschrei – ohne Inhalt. Nur Leere, Flachheit, Dekadenz pur. Empörtes Publikum. Hilflose Wut. Einer pfeift. Dann ein Schuss. Der Hauptdarsteller fällt. Doch superschnell wird er ausgewechselt. Das Stück geht weiter. Zutiefst erschrocken die Zuschauer. Sie schweigen. Sie haben sich angepasst…Ein Albtraum!

Das Leben ist konfliktreicher als ein Albtraum, wie ein neuerliches „heißes Eisen“ auf dem Büchermarkt beweist. Es geht um berechtigte Wunschträume von einer intakteren Welt und gleichzeitig um Tod und Leben. Es geht um Schüsse, Bombenanschläge, Attentate. Es geht um den längst fälligen Bruch mit dem Kapitalismus und den Methoden, dies zu erreichen. Und genau das ist der Knackpunkt: Heiligt ein noch so hehres Ziel alle Mittel? Ist diese Frage so leicht zu beantworten? Die Herausgeber einer Broschüre wollen dem nachgehen. Es geht um das im Selbstverlag erschienene Buch „Die Rote Armee Fraktion. Eine kurze Einführung in die Geschichte der RAF“.

Was war die RAF, was wollten deren Mitglieder? Warum wurden sie verteufelt? Waren sie wirklich nur Abenteurer und Kriminelle, wie die Behörden und bürgerlichen Medien die RAF-Aktivisten entpolitisierenderweise darzustellen versuchen? Kurz: Die Erinnerung an sie soll ausradiert werden. Um dem aufklärerisch entgegenzuwirken hat das „Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen“ dieses Buch neu aufgelegt. Im Vorwort wird festgestellt, dass es leider keine zusammenfassende Broschüre über die 28 Jahre währenden RAF-Aktionen gibt. Aber es will „ein kleines Stück dazu beitragen, der bürgerlichen, diffamierenden Geschichtsschreibung die Vermittlung von authentischer Geschichte entgegenzusetzen“. Die Herausgeber erklären einschränkend, die Dokumentation könne auf den wenigen 72 Seiten nicht alle Aspekte der Geschichte der RAF verarbeiten.

Berichtet wird über den Anfang der RAF, über die Chronik der Bombenanschläge und Morde an Politikern und Wirtschaftsleuten, über die Absichten der Stadtguerilla, über die Haftbedingungen für festgenommene RAF-Mitglieder, die Isolationshaft, die Hungerstreiks und über die angeblichen Selbstmorde einiger Gefangener. Eingefügt in das Zeitdokument sind Mosaike (Paolo Neris) von Gefangenen aus der RAF, die die Gefängnishaft nicht überlebten.

Den Herausgebern ist es gelungen, besonders die politischen Motive der Mitglieder dieser Gruppe von Protestbürgern und aktiven Widerständlern herausgearbeitet zu haben. Wenn zum Beispiel festgestellt wird, dass nach der Befreiung vom Faschismus keine grundlegende gesellschaftliche Veränderung eingetreten ist und die BRD als Bollwerk gegen den Bolschewismus mit Unterstützung der Westmächte sowie mit alten Nazikadern hochgepäppelt wurde, dann war der Widerstand hellsichtiger Leute, zunächst in der Studentenbewegung, vorprogrammiert. Im Aufbruch befanden sich nicht nur junge Men­schen. Es gab starke Streik­wel­len in den Be­trie­ben. Das Wort führten auch die DKP und die 1968 neu ge­grün­de­te SDAJ sowie der seit 1971 agierende Mar­xis­ti­sche Stu­den­ten­bund Spar­ta­kus. Wie sollte das der BRD-Elite passen? Natürlich bot sie der "roten Kampfansage" die politische und juristische Stirn. Da kamen ihnen die militanten Aktionen der RAF gerade zupass, um zurückzuschlagen.

Auf Seite 8 schreiben die Autoren: „Große Teile der Jugenlichen wollten sich in den 60er Jahren nicht in dieser muffigen, verlogenen BRD-Gesellschaft einrichten. Sie suchten nach Alternativen (…)“ Die berechtigte Empörung fand ihren Höhepunkt, als die USA den Vietnam-Krieg vom Zaune brachen. Und was taten die Medien? BILD, so die Herausgeber, „entfachte eine massive Hetze gegen die Protestbewegung“. Der Berliner Bürgermeister Klaus Schütz (SPD) schürte das Feuer, indem er folgenden Satz vom Stapel liess: „Ihr müsst diese Typen sehen. Ihr müsst ihnen genau ins Gesicht sehen. Dann wisst ihr, denen geht es darum, unsere freiheitliche Grundordnung zu zerstören.“ (S. 9) So kam es, wie es kommen musste: Am 2. Juni 1967 wurde der Student Benno Ohnesorg von der Polizei erschossen und im darauffolgenden Jahr, am 10. April 1968, schoss ein von der Springer-Presse Aufgehetzter auf Rudi Dutschke und verletzte ihn lebensgefährlich.

Vor diesem Hintergrund verschärfter Klassenauseinandersetzungen gründeten sich verschiedene kommunistische Gruppen sowie „undogmatische“ Basisgruppen, so 1970 die „Rote Armee Fraktion (RAF)“. Man entschied sich für den bewaffneten Kampf, begründet u.a. durch die Erfahrungen mit der „postfaschistischen BRD-Gesellschaft“, dem US-Krieg in Vietnam und durch den Willen, die 68er Revolte weiterzuentwickeln. (S. 13) Auch führte sie folgendes Argument ins Feld: „Es ist klar und gerade aus der Geschichte bis zum 3. Reich deutlich, dass Verarmung und Verelendung und Massenarbeitslosigkeit nicht von allein zu einer Mobilisierung für menschliche Ziele und gegen die Herrschenden führen.“ (S. 45) Sie betonte in einer Schrift des Jahres 1971: „Wir sagen nicht, dass die Organisierung illegaler bewaffneter Widerstandsgruppen legale proletarische Organisationen (…) und nicht, dass der bewaffnete  Kampf die politische Arbeit im Betrieb und dem Stadtteil ersetzen könnte“. (S. 14)

Auf Seite 35 konstatieren die Autoren wachsenden militanten Widerstand „gegen die NATO-Kriegspolitik“ Ende der 70er bis Mitte der 80er Jahre. Es gab eine Welle von radikaler Rebellion gegen die Atomkraftwerke sowie „bewaffnete, revolutionäre Organisationen in der BRD, Italien, Frankreich, Spanien, Griechenland und Portugal…“ International, so die Buchverfasser, waren die 80er Jahre „die Zeit eines koordinierten Rollback-Versuchs: Die Sowjetunion sollte mit Mittelstreckenraketen totgerüstet werden, der Libanon wurde von Israel bombardiert, Großbritannien präsentierte sich im Malvinenkrieg als Kolonialmacht, (…)“ (S.37)

Sah sich die RAF als Elite, als alleinwissend im Kampf um grundlegend veränderte gesellschaftliche Verhältnisse? Offensichtlich war das ihr Fehler. Sie agierte im Alleingang, ohne die Unterstützung in der Arbeiterklasse und im Volk zu suchen. Es war keine revolutionäre Situation entstanden, auf die man hätte bauen können. Da täuscht auch nicht darüber hinweg, dass laut Aussagen der Herausgeber 1972 „jeder fünfte Bundesbürger den Schutz der RAF vor Verfolgung und Verhaftung“ tolerierte. Sechs Prozent würden sich als „potentielle Helfer“ bezeichnen. (S. 18)

Nach zweiundzwanzig Jahren erklärte die RAF im April 1992 die tödlichen Aktionen für beendet. 1998 löste sich die RAF auf, da nach der Konterrevolution und dem Niedergang der DDR und des Ostblocks keine Erfolgsaussichten mehr für eine grundlegende Veränderung des kapitalistischen Gesellschaftssystems zu erwarten war. „Wir stehen zu unserer Geschichte“, heisst es in deren Auflösungserklärung, „die RAF war der revolutionäre Versuch einer Minderheit, (…) zur Umwälzung der kapitalistischen Verhältnisse beizutragen.“ (S. 55) Nach Faschismus und Krieg habe „die RAF etwas Neues in die Gesellschaft gebracht: das Moment des Bruchs mit dem System und das historische Aufblitzen von entschiedener Feindschaft gegen Verhältnisse, in denen Menschen strukturell unterworfen und ausgebeutet werden (…) (S. 55)

Etwas Neues? Das war wohl zweifelsfrei die DDR. Und dennoch: Die RAF-Mitglieder hatten eine Vision. Wie hunderttausende andere weitblickende Menschen. Sie pusteten frischen Wind in die politische Landschaft. Trotz Wirtschaftswunder fragten sich immer mehr kluge Leute, wohin die Reise im Kapitalismus gehen soll. Doch die RAF bot mit ihrem individuellen Terror keine Alternative. Im Gegenteil, sie landete mit ihrer zwar kritischen Sicht aber Selbstisolierung im Land Utopia.

So aufschlussreich das „heiße Eisen“ über die RAF auch als neuen Auftakt zur Zurückdrängung von Legenden und Diffamierungen ist, es wirft viele Fragen auf: Weshalb hatten sie nur ein DAGEGEN zu bieten und kein DAFÜR? Da findet man kein Wort darüber im Buch, wie sich die RAF eine andere Gesellschaft vorstellte. In einer Erklärung von 1992 heißt es lediglich, es gehe um soziale Aneignungsprozesse, „in denen die Solidarität lebendig ist und aus denen heraus viele die Verantwortung für gesellschaftliche Entwicklungen in die Hand nehmen…“ Weiter: Warum hoben sie sich vom Bewußtsein der Massen ab, von der realen Situation in der damaligen BRD, die mit ihrer Wohlstands- und Konsumideologie den Leuten Denkschablonen auferlegte, die auch heute noch ihr böses Manipulationsspiel treiben? Warum verbanden sie sich nicht mit den neuen Linksbündnissen, vor allem mit der DKP, die nach dem Verbot der KPD gegründet wurde? Warum  sahen sie im Ostblock und vor allem in der DDR nicht die eigentliche Alternative zum Kapitalismus, nach der die RAF ja strebte? Weshalb orientierte sich die RAF, zwar nicht ausschließlich, aber sehr tödlich, auf den bewaffneten Kampf und berücksichtigte in keiner Weise die Dialektik zwischen Ziel und Mitteln?

Zum Klassenkampf, will er erfolgreich sein, gehört die kritische Analyse der Lage, gehört die Frage, ob es eine revolutionäre Situation gibt oder nicht? Was denken und sagen die Massen? Diese und andere Fragen mögen in einer weiteren Aufarbeitung der Geschichte der RAF berücksichtigt und beantwortet werden. Natürlich nicht aus bürgerlicher Sicht, sondern aus der Sicht einer klaren gesellschaftswissenschaftlichen Orientierung. Erst dann kann der interessierte jüngere Leser Schlußfolgerungen für heutige politische Auseinandersetzungen ziehen, ohne auf die Lügen und Geschichtsverfälschungen der Herrschenden angewiesen zu sein. Somit ist das Buch ein Teil der Aufarbeitung der Geschichte nach 1945 und dem Versuch, mit einer gesellschaftlichen Alternative zum schuldbeladenen Kapitalismus endlich Lehren aus dem zweiten Weltkrieg zu ziehen. Insofern haben die einsamen Rebellen Zeichen gesetzt – nicht mehr und nicht weniger.

Ro­bert Stei­ger­wald, Philosoph und Politiker, seit Jahrzehnten einer der theoretischen Vordenker der DKP und Mitglied des Parteivorstandes, meinte zur da­ma­li­gen Hal­tung der Partei zur RAF: „Wir haben da­mals zur RAF und ähn­li­chen Kräf­ten eine völ­lig ab­leh­nen­de Po­si­ti­on be­zo­gen. Als einer ihrer ju­ris­ti­schen Ver­tre­ter mich bat, wir soll­ten So­li­da­ri­tät mit die­sen Leu­ten üben, habe ich ihm ge­sagt: Vor Ge­richt der Bour­geoi­sie ge­hö­ren sie nicht, wohl aber vor ein sol­ches der Ar­bei­ter­be­we­gung, denn sie lie­fern mit ihren Taten der Re­ak­ti­on alle Vor­wän­de, den Re­pres­si­ons­ap­pa­rat aus­zu­bau­en. Die RAF ist der Sack, den sie schla­gen, wir aber sind – um im Bild zu blei­ben – der Esel, der ge­meint ist.“ (Quelle: http://rote-predigt.over-blog.com/article-robert-steigerwald-uber-revolutionare-ungeduld-und-anarchismus-8-46104777.html)

 
Herausgeber: Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen,  Die Rote Armee Fraktion – Eine kurze Einführung in die Geschichte der RAF“, Selbstdruck im Eigenverlag, 2012, 72 Seiten, ISBN: 978-3-00-039885-8, Bezug: c/o Stadtteil- und Infoladen Lunte, Weisestraße 53, 12049 Berlin.

 
Erstveröffentlichung der Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19007