Entnommen: https://rotfuchs.net/files/rotfuchs-ausgaben-pdf/2023/RF-302-03-23.pdf
RotFuchs, März 2023
Drei
Tage in Kiew
Ich arbeite seit über 30 Jahren in der Ukraine und in Rußland. Dabei
war ich mehr oder weniger erfolgreich. Ich wurde auch betrogen und
bedroht. Oft fragte man mich: „Warum arbeitest Du dort?“. Meine Antwort
war immer klar: „Ich liebe die dortigen Völker und ihre Kultur. Ich
schätze ihre Leistungen, die sie im Kampf gegen Hitlerdeutschland
vollbracht haben. Ich habe viele gute Freunde dort. Ich glaube, ich
kenne auch ihre Probleme.“
Nun ist Krieg. Nichts ist mehr so wie es war. Unser Büro in Kiew haben
wir geschlossen und unsere Wohnung steht leer. Wir haben Angst, daß auch
diese dem Krieg zum Opfer fallen, deshalb machte ich mich kürzlich auf
den Weg nach Kiew, um die wichtigsten Dinge zu sichern bzw. zu holen. Er
führte wie immer von Berlin über Wroclaw (heute sagt man wieder
Breslau), Kraków an die sogenannte EU-Außengrenze nach Krakowez. Kurz
vor der Grenze tankte ich mein Auto noch einmal auf. Der Liter Diesel
kostet 1,71 Euro, weniger als in Berlin. Ich hoffte, daß ich damit ohne
Probleme bis Kiew fahren kann. Von Freunden hörte ich, daß es in der
Ukraine oft keinen Diesel gibt oder man nur 20 Liter bekommt. Auf der
polnischen Seite wartete ich fast drei Stunden bis zur Abfertigung.
Neben mir reihten sich die LKWs fast sechs Kilometer weiter auf.
Tagelang stehen sie hier, bis sie die Genehmigung zur Weiterfahrt
erhalten. Auf der ukrainischen Seite stehen sie zehn Kilometer und mehr.
Die Kraftfahrer brauchen oft vier oder fünf Tage, um die Grenze zu
passieren, ohne jeglichen Service. Das war schon immer so und ist nicht
nur ein Problem des Krieges. Die ukrainischen Behörden schimpfen auf die
polnischen und umgekehrt – auf keiner Seite ein freundliches Wort. Ich
bin einer der vielen Wartenden und habe Zeit, die Situation zu
beobachten. Es fällt auf, daß auf der polnischen Seite viele
LKW-Konvois, immer zehn Fahrzeuge mit Polizeibegleitung und Blaulicht,
ohne Halt über die Grenze fahren. Ich zähle in einer Stunde vier bis
fünf Konvois. Sie bringen die tödlichen Waffen und Militärtechnik an die
Front. Oft sind es schwere Überseecontainer. Niemand darf sich ihnen in
den Weg stellen. Welche Mengen an Waffen das sind, kann ich mir kaum
vorstellen. Hier ist ein großer Grenzübergang.
Davon gibt es mindestens sechs. Dann bin ich endlich bei der polnischen
Grenzkontrolle. Alles verlief normal. Danach muß ich zur ukrainischen
Kontrolle, ca. 250 Meter entfernt und warte wieder zwei Stunden. Der
erste Beamte fragt nach meinem Reiseziel. Ich sage: „Ich fahre nach
Kiew.“ „Sprechen Sie ukrainisch?“
„Nein“, sage ich. „Sprechen Sie russisch?“ Und ich antwortete: „Nein“.
Ich wußte, russisch will hier keiner mehr hören. Dann kommt ein weiterer
Beamter, offensichtlich mit höherem Rang. Er stellt die gleichen Fragen
und spricht mich in Deutsch an. Ich beantworte seine Fragen. Er reicht
mir die Hand und sagt: „Ich heiße Mykola, früher hieß ich Nikolai!“ Das
war ein gutes Zeichen. Ich dachte sofort an meine Frau. Sie hieß früher
Elena, und die ukrainische Behörde machte ohne Zustimmung aus ihr eine
Olena. Jetzt ist man dabei, alle Namen der Städte und Straßen, die einen
Bezug zu Rußland und ihre gemeinsame sowjetische Vergangenheit haben,
umzubenennen. Endlich bin ich aus dem Grenzkontrollbereich heraus.
Sofort fahre ich an die erste Tankstelle und prüfe, ob es Diesel gibt
und zu welchem Preis. Diesel gab es für 1,31 Euro. Das war erstaunlich.
Hier ist Krieg und so ein Preis. In Berlin zahlte ich 2,29 Euro und alle
behaupten, der Krieg ist schuld. Der relativ billige Dieselpreis ist
nur damit zu erklären, daß man seitens der Regierung alles macht, damit
das ukrainische Volk ruhig bleibt. Hier gibt es auch keine Kfz-Steuer,
und man sieht viele Nobelkarossen, viel mehr als in Deutschland. Genug,
ich fahre weiter an Lwow (heute sagt man Lemberg) vorbei in Richtung
Rowno.
Es fällt auf, daß fast in jedem Ort oder an wichtigen Punkten die
rot-schwarzen Banner der Bandera-Leute wehen, selbst auf dem freien Feld
und auf den Friedhöfen. Hier ist das Zuhause der Faschisten. Dort, wo
sich noch vor einigen Jahren ein Lenin-Denkmal befand, steht jetzt
Bandera. Oft hatte ich in Lwow zu tun. Seit mindestens 15 Jahren konnte
ich beobachten, daß man Hitlers „Mein Kampf“ auf dem Markt in
ukrainischer, in russischer und auch in deutscher Sprache kaufen kann.
Meine Fahrt wird immer wieder durch Kontrollpunkte unterbrochen. Große
Stahlkreuze und Betonblöcke verhindern die normale Durchfahrt. Und immer
wieder die gleichen Fragen: „Wohin wollen Sie? Was haben Sie geladen?“
Fahrzeugkontrollen durch die freiwilligen Kämpfer, bewaffnet mit alten
Maschinengewehren. Ihr Anblick ist angsteinflößend. Alle drei bis fünf
Kilometer sind Bänder mit der Aufschrift: „Slawa Ukraine“ über die
Straße gespannt. Das ist der alte Gruß der Bandera-Leute aus der
Hitlerzeit. Ab und an sehe ich eine Flagge mit dem Foto von Putin und
der Aufschrift: „Tötet Putin“. Dieses Bild zieht sich durch die gesamte
Westukraine. Von Rowno führt mein Weg weiter nach Kiew. Die
Bandera-Symbole werden immer weniger. Im Gebiet Schitomir und Kiew ist
davon kaum noch etwas zu sehen. Es fällt auf, daß viele Felder nicht
bearbeitet sind. Die Betriebe haben kein oder zu wenig Geld dafür. Die
großen Agroholdings machen oft riesige Gewinne. Diese werden in den
Westen gebracht. Sie gehen kein Risiko ein und warten, wie sich die
Dinge in der Ukraine weiterentwickeln. Kiew macht einen ruhigen
Eindruck. Die Menschen gehen zu Arbeit, sofern es diese noch gibt. Sie
sitzen im Restaurant, trinken und essen wie
immer.
Zu meiner Verwunderung höre ich auf meine diesbezügliche Frage: „Der
Krieg ist weit.“ Andere sagen: „Das ist nicht unserer Krieg.“ Manche
erzählen, daß sie nicht an die Front wollen. Sie verstecken sich,
wechseln ständig ihren Aufenthalt oder ihre Arbeitsstelle. Die Chefs
müssen die Namen ihrer Mitarbeiter an die Behörden melden. Andere
erzählen, daß sie sich freikaufen wollen. Das heißt, sie müssen ca. 5000
bis 7 000 US-Dollar schwarz an die Behörden zahlen, um aus dem
Einberufungssystem gestrichen zu werden. Eine Garantie dafür gibt es
nicht. Das Geld fließt in private Taschen. Der Regierung bis zum
Präsidenten ist dies kein Geheimnis. Andere berichten, daß militärische
Kommandos regelrecht Jagd auf junge Menschen machen. Sie werden aus
Restaurants, dem Supermarkt oder der Arbeitsstelle geholt oder auch auf
der Straße eingefangen und ohne Ausbildung an die Front geschickt. Oft
wissen die Angehörigen nichts davon.
Mir fällt auf, daß kaum Personen offen gegen Selenskij sprechen. Sie
haben Angst und das mit Recht. Politische Gegner werden hier z.Z.
schnell liquidiert. Viele sagen, wir haben einen anderen Präsidenten
gewählt, nicht den, der er jetzt ist. Nichts von dem, was er versprochen
hat, wurde realisiert.
Es fällt auf, daß es eine hysterische nationalistische Propaganda gegen
Rußland gibt. Ich beobachte das seit vielen Jahren, aber jetzt hat diese
ganz gefährliche Ausmaße angenommen.
Es begann verstärkt unter Poroschenko. Im Wahlkampf stand auf großen
Plakaten: „Rußland ist unser Feind“, „Ukraine in die NATO“, „Für eine
eigene Kirche“. Seit Jahren verkauft man in Kiew Toilettenpapier,
Fußabtreter und anderes mit dem Bild von Putin als Souvenir. Wie oft
hörte ich hier Sätze wie: Die Russen sind Untermenschen, sie haben keine
Kultur, sie können nicht mit Messer und Gabel essen, sie haben keine
Intelligenz, das intelligente Volk in der Sowjetunion waren wir
Ukrainer, wir Ukrainer haben den 2. Weltkrieg gewonnen und viele andere
Sprüche. Diese offene, zügellose Propaganda breitet sich aus wie eine
Epidemie. Und Deutschlands Politiker schauen weg. Sie reisen hierher und
begreifen offenbar nichts. Wenn es allein Dummheit ist, ist sie nicht
zu übertreffen. Ich besuche An der Grenze EU-Ukraine warten LKW oft
mehrere Tage RotFuchs / März 2023 Seite 21 einen Supermarkt. Gleich
daneben steht ein Luftabwehrsystem. Unglaublich, denke ich.
Wenn hier eine Rakete einschlägt, fällt diese unmittelbar ins
Wohngebiet. Das ist schon oft so geschehen. Dann sagt man: „Die Russen
schießen ihre Raketen auf Wohnkomplexe.“
Natürlich leiden wie immer die einfachen Menschen unter diesen
Verhältnissen. Für sie ist es schwer, ohne Strom und Wasser zu sein,
ständig Alarm zu erleben. Manche wohnen ganz oben in den 11 bis
25-Geschossern. Der Fahrstuhl arbeitet nicht und wenn er fährt, hat man
Angst, diesen zu benutzen, denn jede Minute kann der Strom abgeschaltet
werden. Auch ich mußte vielmals in die 10. Etage steigen, um mein Auto
für die Rückfahrt zu beladen.
Die Ukraine soll mit Macht in die NATO und die EU. In meinen Augen ist
die Ukraine ein total korruptes Land. Hier kann man und muß man alles
erkaufen. Das beginnt an der Grenze. Alles ist käuflich. Die gesamte
staatliche Führung ist korrupt. Wozu dann diese Milliarden-Hilfen? Das
Geld verschwindet. Nicht wenige Soldaten an der Front bitten ihre
Angehörigen um warme Bekleidung. Die Menschen werden unruhiger und
unzufriedener. Für einen gefallenen Sohn erhalten die Angehörigen 13 000
Grivna (ca. 325,00 Euro) für die Beisetzung. Im Beschluß des
Ministerkabinetts № 168 vom 28. Februar 2022 steht, daß der Staat für
einen an der Front Gefallenen 15 Mio. Grivna (das sind ca. 375 000 Euro)
zahlt. Diese Summe hat viele junge Menschen als Freiwillige an die
Front gebracht. Aber jetzt wird oft den Hinterbliebenen mitgeteilt, daß
die betreffende Person an der Front selbstverschuldet im Kampf gefallen
oder an einer inneren Krankheit, z. B. Krebs, verstorben sei. Eine
Variante ist auch die Erklärung: „vermißt“. In diesen Fällen bekommen
die Angehörigen kein Geld. Das ist Betrug am ukrainischen Volk.
BRD-Politiker sagen, hier wird „unsere Demokratie verteidigt“. Noch vor
wenigen Jahren verteidigte Deutschland diese Demokratie am Hindukusch.
Nach drei Tagen in Kiew fahre ich zurück. Mit tiefen Eindrücken und
klarer Sicht auf die heuchlerische Politik in unserem Land. Falsche
Informationen prägen unseren politischen Alltag. Ich glaube nicht, daß
es nur Dummheit ist. Es ist vielmehr eine ganz gezielte Aktion. Ich
fahre ohne Pause bis zur Grenze. Das ist nicht mehr meine Ukraine,
dachte ich. Auf der polnischen Seite, in der EU angekommen, begrüßt mich
ein junger Zöllner unhöflich. „Öffnen sie Ihr Auto!“ Ich mache alle
Türen auf. Mein Auto war bis auf den letzten Zentimeter mit meinen
Sachen beladen. „Was ist das? Fahren Sie zurück.“ Ich antworte: „Ich
fahre nicht zurück, ist Ihnen entgangen, daß dort Krieg ist? Ich habe
notarielle Dokumente, daß diese Sachen mein Eigentum sind. Schauen sie
in meinen Reisepaß, ich bin Bürger der BRD und der EU.“ „Das
interessiert mich nicht“, sagt er. „Dann holen Sie Ihren Chef und ich
werde ihm alles erklären.“ Danach entscheidet er anderes. „Fahren Sie
dort in die Halle und laden Sie alles aus“. Mein Auto und die Ladung
wurden buchstäblich zerlegt. Nach zwei Stunden konnte ich die Fahrt nach
Hause fortsetzen.
R. Handarbeit
Mitglied im Förderverein „RotFuchs“ werden? Ein Anruf genügt: 030-241 26 73
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen