Putins
Warnung an den Westen: Moskau sieht die Ukraine als Teil der
„russischen Welt“ & das sollte von Außenstehenden ernst
genommen werden
VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 16. JULI 2021 ⋅
HINTERLASSE EINEN KOMMENTAR
von Paul Robinson –
http://www.rt.com
Übersetzung
LZ
Paul Robinson ist Professor an der Universität von
Ottawa. Er schreibt über russische und sowjetische Geschichte,
Militärgeschichte und Militärethik und ist Autor des Blogs
Irrussianality http://t.me/irrussian
Der russische Präsident Wladimir Putin hat diese Woche den
Startschuss zu einem neuen Streit mit Kiew gegeben. Die fraglichen
Ereignisse sind jedoch nicht neu – sondern sehr, sehr alt, wobei
Putin die Grundlage der ukrainischen Nationalität in Frage
stellt.
„Ich betrachte die Mauer, die in den letzten Jahren
zwischen Russland und der Ukraine entstanden ist, zwischen zwei
Teilen eines einzigen historischen und geistigen Raums, als ein
großes gemeinsames Unglück, eine Tragödie.“ Mit diesen Worten
legte Putin seine Version der russisch-ukrainischen Geschichte in
einem langen Artikel dar, der Anfang dieser Woche auf der
Kreml-Website veröffentlicht wurde.
Für Putin sind die
Bewohner beider Nationen „ein Volk“, dessen „geistige,
menschliche und zivilisatorische Verbindungen über Jahrhunderte
hinweg entstanden sind.“ Der Präsident fuhr fort, dass „unsere
Verwandtschaft von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Sie
ist in unseren Herzen… in den Blutbanden, die Millionen unserer
Familien vereinen.“
Die Vorstellung, dass die Ukrainer Teil
dieser einen Familie sind, ist für die Nationalisten im Land ein
gefundenes Fressen. In einer wütenden Reaktion, die in der Kyiv Post
veröffentlicht wurde, hieß es: „Putins Behauptung ist mehr
Propaganda als Geschichte. Russen und Ukrainer haben sich historisch
voneinander unterschieden. Russland hat jahrhundertelang den Mythos
gefördert, dass die Russen, Ukrainer und Weißrussen eine Nation
sind, mit Moskau in ihrem Herzen.“ Laut dem Artikel „wurde diese
Theorie benutzt, um den russischen Imperialismus zu festigen und die
ukrainische und weißrussische nationale Identität zu
untergraben.“
Offensichtlich denkt Putin anders und
bekräftigt frühere Aussagen, die er angesichts dieser Art von
Kritik gemacht hat. In seiner langen Darstellung der russischen und
ukrainischen Geschichte legt er dar, dass Kiew und Moskau durch
Jahrhunderte gemeinsamer politischer und kultureller Prägung
verbunden sind. Nebenbei tadelt Putin die aktuellen Behörden des
Nachbarlandes für ihre Politik und macht westliche Mächte für die
Spaltung zwischen Russland und der Ukraine verantwortlich, sowohl in
der Vergangenheit als auch heute.
Dies ist nicht die erste
historische Abhandlung Putins. Letztes Jahr veröffentlichte er zum
Beispiel einen Artikel über die Ursprünge des Zweiten Weltkriegs.
Man muss sich fragen, warum er sich die Mühe macht. Es ist ja nicht
so, als ob sich viele Leute wirklich für alle Einzelheiten der
Beziehung zwischen Bogdan Chmelnizki und dem alten Moskau
interessieren. Warum sollte man sich auf die Geschichte konzentrieren
und nicht auf die Probleme von heute?
Eine Erklärung ist,
dass Putin im Vorfeld der Parlamentswahlen im September auf die
einheimischen Wähler abzielt. Das erklärt jedoch nicht, warum Putin
sein neuestes Werk nicht nur in russischer, sondern auch in
ukrainischer Sprache veröffentlicht hat. Es ist klar, dass der
russische Staatschef ein Publikum außerhalb der russischen Grenzen
ebenso im Blick hat wie das innerhalb der Grenzen.
So betont
Putin in seinem Artikel seine Überzeugung, dass „das
‚Anti-Russland‘-Projekt für viele in der Ukraine einfach
inakzeptabel ist – und es gibt Millionen solcher Menschen.“ Das
Problem, so Putin, sei, dass diese Gruppe „eingeschüchtert und in
den Untergrund getrieben wird.“ Der Artikel stellt daher vielleicht
einen Versuch dar, über die Köpfe der ukrainischen Regierung
hinwegzugehen, um direkt an diese Millionen gewöhnlicher Ukrainer zu
appellieren, von denen Putin denkt, dass sie seiner Erzählung
wohlwollend gegenüberstehen werden.
Darüber hinaus steht er
für die wachsende Bedeutung des historischen Schlachtfelds in der
osteuropäischen Politik.
Sei es die sowjetische Hungersnot
von 1932-33, die von den Ukrainern als „Holodomor“ bezeichnet
wird, die Umstände, die zum Zweiten Weltkrieg führten, oder –
wenn man noch weiter in die Vergangenheit zurückgeht – die
tiefsten Ursprünge des russischen und des ukrainischen Volkes, die
Interpretationen der Geschichte haben eine entschieden politische
Färbung. Politiker auf allen Seiten glauben, dass derjenige, der das
historische Narrativ kontrolliert, einen entscheidenden Vorteil
gegenüber seinen Gegnern erlangt. Putins Artikel zeigt, dass er
nicht die Absicht hat, dieses Schlachtfeld anderen zu überlassen.
Ob
Putins detaillierte Darstellung der Anthropologie und der
Völkerwanderung korrekt ist, überlässt man am besten
professionellen Historikern. Zweifelsohne werden ihre Meinungen
variieren. Geschichte ist selten eindeutig. Wichtiger ist, was Putins
Erzählung von einem gemeinsamen russisch-ukrainischen Erbe für die
heutige Politik bedeutet. In dieser Hinsicht ergeben sich aus seinem
Artikel ein paar wichtige Punkte.
Der erste bezieht sich auf
den Westen. Der russische Führer beschuldigt äußere Mächte für
die Teilung Russlands und der Ukraine. Historisch gesehen, waren die
Schuldigen Polen und Österreich. Heute ist es der Westen im
Allgemeinen. Die Ukraine sei „ein Protektorat geworden, das unter
der Kontrolle westlicher Mächte steht“, schreibt Putin. Auch hier
gilt: Ob Putin Recht hat oder nicht, ist nebensächlich. Was zählt,
ist, dass er den Westen als bösartig handelnd sieht. Das deutet
nicht darauf hin, dass er sich von westlichem Druck beeindrucken
lassen wird.
Der zweite Punkt bezieht sich auf den anhaltenden
Krieg im Donbass, in der Ostukraine. Putin gibt der Regierung, die
nach dem Maidan 2014 an die Macht kam, und ihrer Politik der
„gewaltsamen Assimilation, der Bildung eines ethnisch reinen
ukrainischen Staates“ die Schuld an dem Konflikt. Kiew weigert
sich, den Krieg zu beenden, behauptet Putin, weil dies notwendig ist,
um ein nationalistisches Projekt zu rechtfertigen, das die Ukraine
als „Anti-Russland“ definieren will. Extreme Nationalisten
warteten „auf ihre Chance“, den Donbass zu säubern, dessen
Bevölkerung berechtigt sei, zu kämpfen, um „ihre Heimat zu
verteidigen.“
Der dritte Punkt betrifft die territoriale
Integrität der Ukraine. Bis zu einem gewissen Grad könnte man dies
als Rechtfertigung für Beschwerden sehen, dass Putins
„Ein-Volk“-Rhetorik den russischen Imperialismus ermöglicht. Die
sowjetische Nationalitätenpolitik, die Territorien von einer
nationalen Republik auf eine andere übertrug, bedeutete, dass
„Russland beraubt wurde“, so Putin. „Wir werden niemals
zulassen, dass unsere historischen Territorien … gegen unser Land
verwendet werden“, fügt er hinzu.
Die Verwendung des Wortes
„unsere“ ist aufschlussreich, da es darauf hindeutet, dass Putin
bestimmte Teile der Ukraine als rechtmäßig russisch betrachtet. Er
vermeidet es, einen direkten territorialen Anspruch zu erheben, und
bekräftigt in der Tat seine Unterstützung für das
Minsk-II-Abkommen von 2015, dessen Erfüllung die Wiedereingliederung
des Donbass in die Ukraine zur Folge hätte. Doch neben seiner
rhetorischen Unterstützung für den Separatismus in der Region gibt
es hier eine klare Botschaft. Putin sieht die Ostukraine als Teil der
russischen Welt und glaubt, dass, wenn Moskau den Donbass aufgibt,
dieser einem völkermörderischen Angriff ausgesetzt sein wird.
Wer
also glaubt, dass Putin jemals dem Druck des Westens nachgeben und
den Donbass der Kiewer Regierung und ihren Streitkräften überlassen
wird, der irrt mit ziemlicher Sicherheit.
Darüber hinaus gibt
es aber noch eine tiefere Botschaft. Wenn die Ukraine versucht, das
Problem des Donbass mit Gewalt zu lösen, wird sich Russland nicht
durch Fragen der selbst erklärten territorialen Souveränität Kiews
gegängelt fühlen. Denn tief im Inneren glaubt der Kreml nicht, dass
die fraglichen Gebiete wirklich ukrainisch sind.
Putin hat
diesen Artikel nicht geschrieben, weil er es für eine triviale
Angelegenheit hält. Es ist ganz klar eine Herzensangelegenheit für
ihn.
Daraus muss man schließen, dass er in Fragen, die die
Ukraine betreffen, wahrscheinlich nicht zurückstecken wird. Der
Artikel enthält auch eine versteckte Warnung. Es ist keine, die den
Führern in Kiew oder im Westen gefallen wird. Es ist jedoch eine,
die sie gut daran tun würden, zu
beherzigen.
https://www.rt.com/russia/529177-putin-warning-west-ukraine/
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