Das Geheimrezept für den
Erfolg des chinesischen Kommunismus (Teil 2)
VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 3. JULI 2021
von
Dennis Simon – https://de.rt.com
Die Kommunistische Partei Chinas feiert am Donnerstag ihren
100. Geburtstag. Viele westliche Beobachter dachten nach dem Ende der
UdSSR, dass China einen ähnlichen Weg wie die Sowjetunion gehen
würde – ein großer Fehler. China eilt heute von einem Erfolg zum
nächsten. Wie ist der Erfolg der KP zu erklären?
Mit
Eroberung der Macht 1949 – die weitgehend ohne sowjetische
Unterstützung erfolgte – kamen auf die Kommunistische Partei
Chinas neue Herausforderungen zu. Das Land war noch rückständiger
als Russland, als die Bolschewiki dort die Macht ergriffen hatten.
Entgegen den ursprünglichen Erwartungen der Begründer des
Kommunismus, Karl Marx und Friedrich Engels, brachen die Revolutionen
nicht in hochentwickelten kapitalistischen Staaten mit einem
entwickelten Proletariat aus, sondern in rückständigen,
halbkolonialen, halbfeudalen Staaten, in denen es neben dem
Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital noch eine ganze Reihe
weiterer, „vormoderner“ Probleme gab.
Um diese
Herausforderung zu meistern, entwickelte Mao Zedong das Konzept der
„Neuen Demokratie“. Seine Grundgedanke war, dass die Demokratie
sich in den unterentwickelten Staaten anders entwickeln müsse als im
Westen, wo die parlamentarische Demokratie letztendlich zur Festigung
der Kapitalmacht geführt habe. Aufgrund der Besonderheit der
materiellen und sozialen Verhältnisse in China gebe es die
Möglichkeit, die revolutionären Klassen – für ihn waren das in
der damaligen Lage die Arbeiterklasse, die Bauernschaft, das
Kleinbürgertum sowie die nationale Bourgeoisie, also im Prinzip fast
die gesamte chinesische Bevölkerung außer einer Handvoll
Kollaborateure und Kompradoren – zum Sozialismus zu führen unter
Umgehung einer klassischen bürgerlichen Revolution. Diese von der
Arbeiterklasse geführte revolutionäre Klassenkoalition – die auf
der chinesischen Fahne durch die vier kleinen Sterne dargestellt
werden, die um den großen Stern, die Kommunistische Partei, kreisen
– könne im ersten Schritt die Reste des Feudalismus und der
kolonialen Abhängigkeit besiegen und anschließend auch den Aufbau
des Sozialismus in Angriff nehmen. Mao sprach sich dafür aus, die
Rolle der nationalen Bourgeoisie genau zu studieren, statt sie in
einen Topf mit den Kompradoren zu packen:
„Da China ein
koloniales und halbkoloniales Land ist, das unter den von anderen
Staaten verübten Aggressionen zu leiden hat, besitzt die chinesische
nationale Bourgeoisie zu bestimmten Zeiten und in einem bestimmten
Grade noch revolutionäre Eigenschaften. Hier darf das Proletariat
die revolutionären Eigenschaften der nationalen Bourgeoisie nicht
ignorieren, es hat vielmehr die Aufgabe, mit ihr eine Einheitsfront
gegen den Imperialismus und gegen die Regierungen der hohen
Bürokratie und der Militärmachthaber zu bilden.“
Mao
plädierte zudem dafür, aufgrund der enormen Rückständigkeit
Chinas dem Privatkapital gewisse Freiräume zu lassen:
„Die
staatliche Wirtschaft einer vom Proletariat geleiteten
neudemokratischen Republik trägt sozialistischen Charakter, sie ist
die führende Kraft der gesamten Volkswirtschaft, doch wird diese
Republik das übrige kapitalistische Privateigentum nicht
beschlagnahmen, und sie wird auch eine Entwicklung der
kapitalistischen Produktion nicht untersagen, soweit diese ’nicht
die Lebenshaltung der Nation kontrolliert‘, denn die Wirtschaft in
China ist noch außerordentlich rückständig.“
Mao warnte
jedoch davor, ein klassisches bürgerliches Regime zu errichten. Das
sei angesichts der innen- wie außenpolitischen Lage Wahnsinn, denn
es würde China wieder direkt zum Objekt kolonialer Ausbeutung machen
– prophetische Worte, wenn man an die Situation in Russland und den
anderen postsowjetischen Ländern in den Jahren nach 1991 denkt.
In
diesen Zeilen, die um die Jahreswende 1939/1940 geschrieben wurden,
ist eindeutig das Modell zu erkennen, an das sich Deng Xiaoping –
neben den Erfahrungen der Sowjetunion mit der Neuen Ökonomischen
Politik – orientierte, als er Ende der 1970er-Jahre einen
Reformprozess einleitete.
Die KP beschloss eine Reihe von
landwirtschaftlichen Reformen, bei der Großgrundbesitzer und reiche
Bauern enteignet wurden und ihr Land an landlose Bauern verteilt
wurde. Zugleich startete er mit sowjetischer Unterstützung eine
staatliche Industrialisierungskampagne, die den Grundstein für die
moderne chinesische Wirtschaft legte. Diese Schritte erwiesen sich
als erfolgreich, da sie dem damaligen Entwicklungsniveau des Landes
entsprachen. Die landwirtschaftliche Produktion stieg. Die
industrielle Produktion stieg sogar noch schneller. Zwischen 1953 und
1957 vervierfachte sich etwa die Stahlproduktion von jährlich 1,3
Millionen Tonnen auf 5,2 Tonnen. In dieser Zeit wurden die ersten
modernen Fabriken in China errichtet. Bereits im Jahr 1956 baute
China sein erstes eigenes Fahrzeug.
Mao war aber mit dem Tempo
der Entwicklung nicht zufrieden. Er studierte auch das sowjetische
Entwicklungsmodell, dem China bisher folgte, und kam zu dem Schluss,
das die KPdSU die Schwerindustrie überbetont, die Produktion von
Konsumgütern hingegen vernachlässigt habe. Basierend auf diesen
Analysen startete Mao im Jahr 1958 den sogenannten „Großen Sprung
nach vorn“, bei dem die Bauern, von denen viele erst vor wenigen
Jahren in den Besitz von Land gekommen waren, zu riesigen
Volkskommunen zusammengeschlossen wurden. Zudem wurde von den Bauern
erwartet, mit einfachsten Mitteln industrielle Erzeugnisse zu
produzieren.
Die Kampagne endete in einem Desaster. Die
wirtschaftliche Leistung Chinas sank dramatisch. Da die fehlgeleitete
wirtschaftliche Politik durch Missernten und den Rückzug sämtlicher
sowjetischer Berater aus dem Land im Jahr 1960 verstärkt wurde, kam
es zu einer großen Hungersnot. Eine Resolution der KP Chinas zur
Geschichte aus dem Jahr 1981 spricht daher von „bedeutenden
Verlusten“, die China in diesen Jahren erlitten habe.
Der
Partei gelang es jedoch, den falschen Kurs zu beenden. Im Jahr 1962
fand eine große Konferenz statt, an der über 7.000 Parteikader aus
dem gesamten Land teilnahmen. Ein führendes Parteimitglied gestand,
dass die Hungersnot zu 70 Prozent auf von Menschen gemachte Fehler
zurückzuführen sei. Im Laufe der Konferenz beklagten sich viele
Teilnehmer, dass die Führung die Bekämpfung von Bürokratismus und
die Stärkung der innerparteilichen Demokratie nicht genügend
beachte. Sie verlangten, sprechen zu können. Die Parteiführung
entsprach diesem Wunsch. Der linksextreme Kurs der letzten Jahre
wurde kritisiert. Es wurde betont, dass es wichtig sei, die Wahrheit
in den Fakten zu suchen und sich stets nach den Massen zu richten.
Mao trat von einigen Ämtern zurück und überließ die Führung der
täglichen Regierungsgeschäfte moderaten Kräften, die eine nach dem
Grundmuster der „Neuen Demokratie“ orientierte Wirtschaftspolitik
einleiteten.
Mao jedoch hatte die Grundfehler seiner linken
Orientierung ab Mitte der 1950er-Jahre immer noch nicht verstanden,
sodass er im Jahr 1966 mit der „Kulturrevolution“ eine erneute
linksextreme Phase einleitete. Mao rief junge Aktivisten auf, sich
gegen die etablierte Parteigremien zu positionieren. Als Losung für
diese Rebellion wählte er den Spruch „Bombardiert das
Hauptquartier“. Er warf den moderaten Kräften, etwa dem
chinesischen Präsidenten Liu Shaoqi und Deng Xiaoping, ohne sie beim
Namen zu nennen, vor, eine „bürgerliche Diktatur“ errichtet zu
haben, und sprach sogar von „weißem Terror“.
Maos
Kampagne stürzte das Land ins Chaos. Offizielle Parteigremien wurden
von Rotgardisten durch sogenannte Revolutionäre Komitees ersetzt.
Erfahrene Parteikader wurden von Mobs drangsaliert, was zu vielen
Todesopfern führte. Liu etwa wurde verhaftet und starb kurz darauf.
Deng wurde mehrmals „gesäubert“.
Es kam auch zu Kämpfen
zwischen einzelnen Fraktionen innerhalb der Roten Garden. Um das
Absinken des Landes in einen Bürgerkrieg zu verhindern, musste
vielerorts die chinesische Volksbefreiungsarmee einschreiten und die
Kontrolle übernehmen. Mao erklärte im Jahr 1969 die
Kulturrevolution für beendet, doch linke Kräfte behielten bis nach
Maos Tod im Jahr 1976 die Oberhand. Aber kurz vor seinem Tod
rehabilitierte Mao Deng und holte ihn in die Regierung. Nach Maos Tod
gelang es den moderaten Kräften, die linksradikalen Kräfte um Maos
Ehefrau, die sogenannte Viererbande, zu verhaften.
Die
„Kulturrevolution“ wurde danach als „verantwortlich für den
gravierendsten Rückfall und die schlimmsten Verluste der Partei, des
Landes und des Volkes seit der Gründung der Volksrepublik“
verurteilt. Deng leitete eine Zeit des intensiven Studiums der
Geschichte der letzten Jahrzehnte ein, um die Fehler der Partei sowie
ihre Errungenschaften richtig einschätzen zu können, mit dem Ziel,
eine richtige Praxis zu entwickeln. Die kollektive Parteiführung und
innerparteiliche Demokratie sollten gestärkt werden. Statt jedoch,
wie es in der Sowjetunion und in vielen anderen sozialistischen
Staaten üblich war, die vorherige Parteiführung komplett zu
negieren und zu verleumden, versuchte die Kommunistische Partei
Chinas, positive und negative Aspekte von Maos Führung klar
herauszuarbeiten.
Parallel zu dieser Aufarbeitung der eigenen
Geschichte leitete Deng, basierend auf der wirtschaftlichen Erfahrung
der letzten Jahrzehnte, eine Reihe von marktwirtschaftlichen Reformen
ein. Ziel der Reformen war es, die wirtschaftliche Entwicklung zu
beschleunigen und die strukturellen Probleme der Planwirtschaft
sowjetischen Stils zu überwinden. Die Planwirtschaft leistete zwar
in der Anfangsphase des wirtschaftlichen Aufbaus, in der die
Entwicklung der schwerindustriellen Grundlagen im Vordergrund stand,
gute Dienste. Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der Wirtschaft
jedoch zeigte sich, dass die Planwirtschaft hier nicht in der Lage
war, eine nachhaltige Entwicklung zu sichern.
Deng betonte
zudem, dass geteilte Armut nicht Sozialismus sei. Er sprach sich
gegen die dogmatische Sicht aus, die die Planwirtschaft zu einer Art
Fetisch machte und sie trotz der sichtbaren Mängel erhalten wollte.
Die Partei müsse dem Volk eine langfristige Entwicklungsperspektive
und eine zunehmende Verbesserung der Lebensverhältnisse bieten, um
ihre historische Mission erfüllen zu können. Es sei egal, ob eine
Katze schwarz sei oder weiß, solange sie dem Endziel diene, Mäuse
zu fangen. Im Jahr 1981 erklärte der Parteitag der KP Chinas, dass
der Hauptwiderspruch in der chinesischen Gesellschaft jener zwischen
den ständig wachsenden materiellen sowie kulturellen Bedürfnissen
der Bevölkerung und der rückständigen Wirtschaft sei.
Entgegen
des Vorurteils vieler westlicher Beobachter jedoch, wonach Deng in
China den Kapitalismus restauriert habe, betonte die Partei von
Beginn der Reformen an, dass diese dem Zweck dienen, den Sozialismus
in China zu stärken. Rein wirtschaftlich betrachtet waren die
Reformen ein voller Erfolg bei der Entwicklung der Produktivkräfte.
Zwischen 1978 und 2018 wuchs die chinesische Wirtschaftlich laut
öffentlich zugänglichen Statistiken jährlich um durchschnittlich
über neun Prozent. Im Jahr 2018 war die chinesische Wirtschaft
37-mal größer als 1978. Betrug das BIP pro Kopf im Jahr 1978
umgerechnet 156 Dollar, stieg dieser Wert bis zum Jahr 2017 auf 8.830
Dollar. Während China vor Beginn der Reformen im Wesentlichen ein
Agrarland mit einigen schwerindustriellen Anlagen gewesen war, stieg
es durch die Reformen zunächst zum Status der Werkbank der Welt auf,
um in den letzten 15 Jahren dann zunehmend auch auf dem Gebiet der
Hochtechnologie und der Dienstleistungen den Anschluss zu finden. Das
Klischee von billigem, minderwertigem Plastikspielzeug aus China ist
längst überholt. Heute werden in China die modernsten und
komplexesten technischen Erzeugnisse produziert. Dieser rasante
Aufstieg so eines großen Landes ist ein in der Geschichte einmaliger
Vorgang
Freilich entwickelten sich nicht alle Regionen und
alle sozialen Schichten gleichmäßig. Das war der Führung der KP
Chinas auch von Anfang an klar. Deng hatte schon früh die Parole
ausgegeben, dass zunächst einige Bereiche reich werden müssen,
damit der Aufschwung anschließend die Gesamtgesellschaft erfassen
kann.
Im Westen sprach man abschätzig von den chinesischen
Wanderarbeitern und von „chinesischen Löhnen“. Tatsächlich
waren die Lebensbedingungen der Wanderarbeiter nicht beneidenswert.
Jedoch muss jede Entwicklung in ihrem historischen und sozialen
Kontext erfasst werden, um zu einem richtigen Urteil zu kommen: Die
Arbeiter kamen aus extrem ärmlichen Verhältnissen und die Arbeit in
der Stadt bedeute für sie einen, wenn auch bescheidenen, sozialen
Aufstieg, den sie auch massenhaft nutzten. Das ist ein entscheidender
Unterschied zur kapitalistischen Entwicklung in westlichen Staaten
sowie zur Restaurierung des Kapitalismus in Osteuropa. Dort war die
Einführung der industriellen Produktion beziehungsweise
Wiederherstellung bürgerlicher Verhältnisse begleitet von einem
Abrutschen breiter Bevölkerungsmaßen ins absolute Elend. In China
sehen wir eine gegenteilige Entwicklung.
Es ist natürlich
einfach für westliche Kritiker, die keine Verantwortung für reale
Menschen haben, die Missstände in einem rückständigen Land, das
über 100 Jahre unter westlicher Ausbeutung und der aktiven
Behinderung seiner Entwicklung litt, oberflächlich zu kritisieren.
Die geschichtliche Entwicklung ist jedoch keine Folge von „Wünsch
Dir was“. Dass Gleichmacherei und Linksradikalismus nicht in der
Lage waren, die Lebensverhältnisse der Bevölkerung zu verbessern,
konnten die chinesischen Kommunisten aufgrund ihrer eigenen Erfahrung
sehen.
Neben der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ist
kennzeichnend für die Erfolge der Reformpolitik, dass es gelang,
Hunderte Millionen Bürger aus der Armut zu befreien. In den letzten
zehn Jahren wuchsen die Löhne durchschnittlich jährlich um zehn
Prozent. Auch inflationsbereinigt steigen die chinesischen Löhne
eindeutig. In den 2000er-Jahren waren die relativen Lohnsteigerungen
sogar noch größer. So betrugen die inflationsbereinigten jährlichen
Lohnsteigerungen in der Industrie 10,5 Prozent, im Baugewerbe fast
zehn Prozent und für Wanderarbeiter über zehn Prozent. Im
landwirtschaftlichen Sektor waren die Steigerungen teilweise noch
rasanter. Landarbeiter konnten, je nach ihrer Branche,
Lohnsteigerungen zwischen 11,7 Prozent (Baumwolle) und 21,4 Prozent
(Schweinezucht) erwarten. Während der globale Zuwachs der Löhne
zwischen 2008 und 2017 ohne China nur 13 Prozent betrug, betrug er
mit China 22 Prozent, wie die Internationale Arbeitsorganisation
(ILO) berichtete. Sogar im Pandemie-Jahr 2020 betrug die reale
Lohnsteigerung für städtische Arbeiter über fünf Prozent.
Das
jährliche Pro-Kopf-Einkommen städtischer chinesischer Haushalte
stieg von 1.510 Yuan im Jahr 1990 auf 43.000 Yuan im Jahr 2020. Im
Jahr 2019 betrug das durchschnittliche Monatsgehalt laut einem
Regierungsbericht in 37 bedeutenden chinesischen Städten knapp über
1.200 Dollar. Somit erhalten Dutzende Millionen Chinesen Löhne, die
höher sind als jene, die Arbeiter in weiten Teilen Osteuropas
erwarten können. So betrug etwa das monatliche Durchschnittsgehalt
in der Ukraine im Jahr 2019 nur knapp 390 US-Dollar, im
EU-Mitgliedsstaat Bulgarien 690 Euro. Wenn die aktuelle Entwicklung
anhält, dürften Chinas Städte in Bezug auf die Höhe der Löhne
bald südliche EU-Staaten wie Griechenland und Portugal überholen.
Westliche Kommentator sollten also demnächst lieber noch mal
überlegen, ehe sie sich abfällig über „chinesische Löhne“
äußern.
Doch der Aufschwung beschränkte sich nicht auf die
Städte. Auch in den Dörfern ist eine deutliche Verbesserung der
Einkommenssituation zu verzeichnen. Betrug das jährliche Einkommen
von Chinas Bürgern auf dem Land im Jahr 1990 nur knapp 690 Yuan,
stieg dieser Wert im Jahr 2020 auf 17.130 Yuan. Dieser Anstieg des
gesamtgesellschaftlichen Reichtums lässt sich in der Verringerung
der Anzahl der armen Landbevölkerung nachvollziehen. Lebten im Jahr
1978 noch 770 Millionen Menschen auf dem Land in absoluter Armut
(tägliches Einkommen von umgerechnet weniger als 2,3 Dollar), gelang
es der KP, diesen Wert bis zum Ende des letzten Jahrs auf null zu
senken. China hat die extreme Armut erfolgreich besiegt.
In
den letzten 20 Jahren wurde zudem ein umfassendes
Sozialversicherungssystem aufgebaut, das seit 2014 auch die schon
unter Mao aufgrund des extrem niedrigen Entwicklungsniveaus eher
benachteiligte ländliche Bevölkerung erfasst. Das
Versicherungssystem umfasst fünf Säulen: Alters-, Kranken-,
Arbeitslosen-, Arbeitsunfähigkeits- und Mutterschaftsversicherung.
Die Beschäftigten selbst müssen nur für drei Versicherungen
Beiträge leisten, nämlich für die Renten-, Arbeitslosen- und
Krankenversicherung. Die anderen Versicherungen trägt allein die
Unternehmerseite. Auch sind die Beitragssätze für die einzelnen
Versicherungen nicht paritätisch oder gar zulasten der Beschäftigten
wie in Deutschland, sondern Beschäftigte zahlen allgemein weitaus
geringere Sätze als die Unternehmerseite.
Im Vergleich zu
hochentwickelten Staaten weist Chinas Sozialversicherung noch viele
Mängel auf. Jedoch wäre das eben ein sinnloser Vergleich; man
könnte auch die Kompetenz von Erstklässlern und
Universitätsabsolventen zur Beantwortung hochkomplexer
gesellschaftlicher Fragen „vergleichen“. Im chinesischen Kontext
stellen die Meilensteine der letzten Jahre enorme Verbesserungen dar.
Zu Beginn der Volksrepublik, als China eines der ärmsten Länder der
Welt war, bestand die Hauptaufgabe der chinesischen Sozialpolitik
noch darin, sicherzustellen, dass alle Chinesen genügend
Nahrungsmittel zur Verfügung hatten.
Im Zuge des
wirtschaftlichen Aufschwungs haben sich auch die Bedürfnisse und
Wünsche der chinesischen Bevölkerung entwickelt. Im Unterschied zu
den oftmals dogmatischen Kräften, die die osteuropäischen
sozialistischen Staaten anführten, spürt die KP Chinas den Puls der
Bevölkerung und ist in der Lage, die Regierungspolitik entsprechend
anzupassen. So erklärte die Partei etwa im Jahr 2017, dass der
Hauptwiderspruch in China mittlerweile jener zwischen der
ungleichmäßigen sowie ungenügenden Entwicklung und den ständig
wachsenden Bedürfnis der Bevölkerung nach einem besseren Leben sei.
Damit wurde eine Trendwende der chinesischen Politik kodifiziert, die
bereits Mitte der 2000er-Jahre einzusetzen begonnen hatte, als die
Regierung das alleinige Ziel der wirtschaftlichen Entwicklung
zunehmend durch eine die wirtschaftliche und soziale Entwicklung
vermittelnden Entwicklungsansatz ersetzt hatte, der in den letzten
zehn Jahren sogar zunehmend ökologische Probleme adressiert. Zudem
wurde Ende der 2000er-Jahre ein neues, für Entwicklungsstaaten sehr
fortschrittliches Arbeitsrecht verfasst. Der Staat begnügte sich
jedoch nicht damit, es bei der Verkündung zu belassen, sondern
leitete Massenkampagnen ein, um die Arbeiter über ihre neuen Rechte
zu informieren und sie aufzufordern, diese bei Bedarf auch in
Anspruch zu nehmen.
Gewiss: In China gibt es auch heute noch
(relative) Armut, sowohl in den Städten als auch auf dem Land. Und
natürlich gibt es auch einige sehr reiche Menschen. Diese relative
Armut ist in China auch kein Geheimnis, sondern wird in
Regierungsberichten als im weiteren Verlauf der Entwicklung zu
lösendes Problem thematisiert und von chinesischen Forschern
wissenschaftlich untersucht. Jedoch muss man eben die
Entwicklungstendenz betrachten, und die ist für die gesamte
Bevölkerung eindeutig positiv. Armut kann nicht einfach durch
Wunschdenken und „linke“ Parolen beseitigt werden.
Es gibt
einige westliche Beobachter, die wegen der Rolle des Marktes und des
Privatkapitals anzweifeln, ob Chinas System tatsächlich noch
sozialistisch ist. Werfen wir einen Blick auf die Struktur der
chinesischen Wirtschaft. Im Jahr 2020 erwirtschafteten chinesische
Staatsbetriebe 40 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und machten 60
Prozent der Marktkapitalisierung aus. Dabei gibt es verschiedene
Formen von Staatseigentum: von riesigen Unternehmen, die direkt einer
Kommission der Zentralregierung unterstehen, über mittlere
Unternehmen, die von Provinzregierungen kontrolliert werden, bis hin
zu Kleinstunternehmen, die von Gemeinden verwaltet werden. Neben
diesem direkten staatlichen Sektor gibt es noch einen nicht zu
vernachlässigenden genossenschaftlichen Bereich. Die
Staatsunternehmen spielen insbesondere bei der Rohstoffgewinnung, in
der Schwerindustrie, in der Energiebranche sowie in bestimmten
Konsumgütersektoren (etwa bei der Autoproduktion) eine bestimmende
Rolle. Zudem ist auch der ganze Finanzsektor fest in staatlicher
Hand, der wiederum eine enorme Kontrollmöglichkeit über andere
Wirtschaftszweige bietet. Von den 119 chinesischen Unternehmen, die
von der Zeitschrift Fortune Magazine auf die Liste der 500 weltweit
umsatzstärksten Unternehmen aufgenommen wurden, sind über 80
Prozent Staatsfirmen.
Neben der direkten wirtschaftlichen
Kontrolle einzelner Unternehmen übt der Staat auch durch weitere
Kanäle Einfluss auf die Wirtschaft aus. Zwar wurde im Zuge der
Reformen ab 1978 die Kommandowirtschaft aufgegeben, jedoch hielt die
KP daran fest, die wirtschaftliche Entwicklung planmäßig zu
gestalten und sie nicht dem blinden Zufall der unsichtbaren Hand zu
überlassen. Es werden immer noch makroökonomische Fünfjahrespläne
mit konkreten Zielen aufgestellt, deren Einhaltung der Maßstab ist,
an dem der Erfolg der Regierungspolitik gemessen wird.
Diese
Ziele werden nicht im dunklen Kämmerlein diktiert, sondern unter
Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse von den zuständigen
Behörden vorgestellt und erst nach mehrmaligen intensiven
Diskussionsrunden auf verschiedenen Ebenen beschlossen. So werden
Jahre, manchmal Jahrzehnte im Voraus bestimmte Entwicklungsziele
gesetzt, und der Staat mobilisiert anschließend alle zur Verfügung
stehenden Kräfte, um diese Ziele zu verwirklichen. Dabei handelt es
sich meist um Projekte zur Hebung des Lebensstandards der
Bevölkerung, etwa die Verbesserung der Verkehrsanbindung entlegener
Provinzen.
Beispielhaft ist zudem die staatliche
Armutsbekämpfungskampagne ab dem Jahr 2013. Zu diesem Zweck bündelte
der Saat riesige Ressourcen. Die Zentralregierung reservierte allein
im Jahr 2019 ungefähr 13 Milliarden US-Dollar für Projekte im
Rahmen der Armutsbekämpfung. Zudem mobilisierte die staatliche
Entwicklungsbank Chinas 57 Milliarden US-Dollar für die Kampagne.
Über 500.000 Mitglieder der KP Chinas wurden damit beauftragt,
erstmals als Sekretär in einem Dorf zu dienen. Drei Millionen Kader
wurden in unterentwickelte Gebiete geschickt. Im Westen wenig bekannt
ist, dass im Zuge der Kampagne 1.800 Menschen ihr Leben opferten.
Auch die planmäßige Unterordnung aller Privatinteressen unter die
Bekämpfung der COVID-19-Pandemie im letzten Jahr, die sehr niedrige
Todeszahlen sowie eine rasche Wiederherstellung des normalen Lebens
ermöglichte, und die anschließende schnelle wirtschaftliche
Erholung belegen, dass in China nicht Kapitalinteressen regieren,
sondern der Staat systematisch zum Wohle der breiten Massen
arbeitet.
Allein anhand rein ökonomischer Kriterien lässt
sich also ein derart großer quantitativer Unterschied des
staatlichen Einflusses in wirtschaftliche Aktivitäten feststellen,
dass dieser einen grundlegenden qualitativen Unterschied zum
westlichen, kapitalistischen Modell bewirkt. Kündigte jemand an, in
Westeuropa oder den USA die Wirtschaftsstruktur nach chinesischem
Vorbild umzustrukturieren, gingen Unternehmerkreise und konservative
Kräfte sofort auf die Barrikaden, um – aus ihrer Sicht zu Recht –
gegen die drohende Einführung des Sozialismus zu protestieren.
Doch
es gibt noch weitere Faktoren, die dazu beitragen, dass in China ein
Sozialismus – wenn auch in einem frühen Entwicklungsstadium –
herrscht und kein Kapitalismus oder gar „Turbokapitalismus“. In
China wird dem Kapital ein gewisser Freiraum geboten, aber diesem
sind – im Kontrast zu den westlichen Staaten – klare Grenzen
gesetzt. Abgesehen davon, dass die bestimmenden Kommandohöhen der
Wirtschaft vom Staat und nicht von Privatmonopolisten gelenkt werden,
hat die KP viele indirekte Mittel der Kontrolle über den
privatwirtschaftlichen Bereich. Seit einigen Jahren etwa müssen
Parteizellen in allen Unternehmen gegründet werden, in denen
mindestens drei Parteimitglieder sind. Diese können sich zwar nicht
direkt in die wirtschaftlichen Belange einmischen, aber die
Aktivitäten des Unternehmens überwachen und bei Problemen diese an
höhere Ebenen weiterleiten. Die Parteizellen spielen eine Rolle etwa
bei der Sozialhilfe sowie zunehmend bei den, wie es im Jargon des
Business English heißt, Human Resources und im Management.
Auch
befinden sich die wichtigen Bastionen des, wie es in der
marxistischen Fachsprache heißt, „Überbaus“ fest in der Hand
der Partei: die staatlichen Institutionen, die Armee, die
Sicherheitskräfte, die Medien, die Massenorganisationen. Darüber
hinaus übt die Partei aufgrund ihres hohen Ansehens in der
chinesischen Gesellschaft einen moralischen Druck auf alle
Privatunternehmer aus. So wurde etwa auch das Privatkapital für die
Armutsbekämpfungskampagne mobilisiert. Beispielhaft für die Stärke
des Staates, der die Interessen der Volksmassen vertritt, ist, dass
die staatlichen Aufsichtsbehörden im November letzten Jahres den
geplanten Börsengang der Ant Group (einer Finanzplattform, die zur
Alibaba-Gruppe des chinesischen Milliardärs Jack Ma gehört)
verhinderten. Anschließend wurde eine Richtlinie verkündet, die den
Aufsichtsbehörden größere Eingriffsmöglichkeiten in große
Privatunternehmen im Technologiebereich ermöglicht. Im Dezember
starten die Aufsichtsbehörden ein Kartellverfahren gegen die
Alibaba-Gruppe, das in einer Strafe in Höhe von vier Prozent des
Firmenumsatzes des Jahres 2019 (umgerechnet etwa 2,3 Milliarden Euro)
resultierte. Die Partei lässt privatwirtschaftlichen Initiativen
zwar gewisse Freiräume, verhindert aber aufgrund ihres enormen
politisch-gesellschaftlichen Übergewichts, dass sich diese
Einzelpersonen organisieren, gemeinsame Interessen vertreten und so
als Klasse politisch handeln können. Der Trend in China weist
eindeutig in die Richtung, dass das private Kapital gebändigt und in
den Dienst der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung gestellt und so,
wie man philosophisch sagen würde, „aufgehoben“ wird. Das ist
freilich ein langer, teils widersprüchlicher Prozess.
Dieser
Rahmen, in dem sich die chinesischen „Kapitalisten“ bewegen,
bedeutet letztendlich, dass sie gar nicht vergleichbar sind mit ihren
Kollegen im Westen. Wenn man eine Sache analysieren will, darf man
sie nämlich nicht vereinzelt, herausgelöst aus ihrem Kontext
untersuchen, sondern man muss sie so betrachten, wie sie in der
Realität existiert, also mit allen ihren komplexen
gesellschaftlichen Verbindungen. Daher ist es nicht zulässig,
aufgrund der Tatsache, dass einige Chinesen über privates Kapital
verfügen und sich bereichert haben, zur Schlussfolgerung zu
gelangen, dass China ein kapitalistisches Land ist, denn dann
vernachlässigt man den Kontext, in dem dieses Phänomen existiert,
und der deutet eindeutig darauf hin, dass in China ein sich in der
Entwicklung befindendes sozialistisches System vorliegt, das dem
Wohle des Volkes dient.
Nach dieser Betrachtung der Geschichte
der Kommunistischen Partei Chinas und der aktuellen Lage können wir
die eingangs aufgeworfene Frage beantworten, wodurch ihr Erfolg und
die nachhaltige Unterstützung, die sie in der Bevölkerung genießt,
zu erklären ist. Folgende Merkmale sind zentral, um dieses Mysterium
zu entziffern: Die Partei hat Mechanismen etabliert, um begangene
Fehler zu identifizieren und zu beheben, statt auf einem falschen
Kurs zu bestehen, nur um das Gesicht zu wahren, was oftmals in den
Ländern des traditionellen Sozialismus geschah. Zudem ist die Partei
in der Lage, negative Entwicklungen möglichst frühzeitig zu
beheben, noch bevor sie ernste Probleme erzeugen. Wesentlich für
Begründung dieses problemorientierten Arbeitsstils war das Aufgeben
eines engen ideologischen Ansatzes, der die Beibehaltung gewisser
Glaubenssätze über die politische Praxis stellt. Das ist jedoch
nicht gleichbedeutend mit der Aufgabe des Marxismus als theoretisches
Leitsystem, wie die Kommunistische Partei Chinas unermüdlich betont.
Stattdessen entwickelt die Partei den Marxismus immer weiter und
konkretisiert ihn unter Berücksichtigung der realen Verhältnisse in
China. Im Mittelpunkt der politischen Praxis der Partei stehen die
Bedürfnisse der einfachen Chinesen. Indem die KP Chinas ihre
Lebenssituation von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag verbessert und eine
Perspektive für die Errichtung einer modernen, sozialen und
umfassend entwickelten Gesellschaft bietet, kann sie sich ihre
Unterstützung sichern, wie die im ersten Teil des Beitrags zitierte
Studie der Harvard University
belegt.
https://de.rt.com/meinung/120115-das-geheimrezept-fuer-den-erfolg-des-chinesischen-kommunismus-teil-2/
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