Sonntag, 10. April 2016

Fragen ohne Antworten (Aus der Zeitschrift RotFuchs)



Gysi und Schorlemmer: Was bleibt von der DDR?

Fragen ohne Antworten

Vor einiger Zeit las ich Gregor Gysis und
Friedrich Schorlemmers Buch „Was bleiben
wird“. So lautet der Titel der beiden sich
philosophierend gegenseitig hochschaukelnden
Herren, moderiert von H. D. Schütt. Für
mich und meine Familie im weitesten Sinne
sowie für Millionen ihrer ehemaligen Bürger
ist das Erlebnis DDR mehr als das, was dieses
Buch beherrscht. So kann ich wesentliche
Aussagen nicht einfach wegstecken. Ich
bin mir bewußt, dafür von einigen mit dem
heute üblichen Klischee „Betonkopf“ belegt
zu werden.


Es verwundert schon, daß bei einer Bilanz
der DDR deren weltweit anerkannter Friedenspolitik
nicht der gebührende Platz eingeräumt
wird. Selbst dem Moderator scheint
das kaum aufgefallen zu sein, was mich in
diesem Falle nicht verwundert. Die übliche
Ausrede „staatlich verordnet“ zieht hier
nicht.


Auch das heutige Kriegsgeschrei ist staatlich
verordnet und wurde dem Bundesbürger
gleich nach dem „Beitritt“ der DDR unter dem
Deckmantel „gewachsener Verantwortung“
eingetrichtert. Dabei stört es die Regierenden
nicht, daß rund 80 % der Deutschen
gegen Kriege sind. Wenn der Sozialismus
nicht mehr als die 40 Jahre Frieden in Europa
zustande gebracht hätte, wäre allein
damit seine Existenz bereits voll gerechtfertigt.
Die DDR war noch kein Jahrzehnt Geschichte,
da zerbombte die BRD „in Wahrnehmung
ihrer gewachsenen Verantwortung“ im Verbund
mit der NATO Jugoslawien: Einige Jahre
später verlor sie gemeinsam mit dieser in
Afghanistan den ersten Krieg seit Staatsgründung.
Weitere Bundeswehreinsätze in
Afghanistan, Syrien und Mali lassen neue
Niederlagen erahnen. Das US-Kommando
Africom leitet von deutschem Boden aus
seine Drohnenangriffe. Das „Weißbuch der
Bundeswehr“ für 2016 läßt neues Unheil
erahnen.


Auch solche historischen Errungenschaften
wie die Brechung des Bildungsprivilegs der
Reichen, die Gleichberechtigung von Mann
und Frau, gleicher Lohn für gleiche Arbeit
durch Zerschlagung der Macht der Monopole
stoßen in diesem Buch eher auf Spott
und Häme.


Der Pastor beschreibt das Spannungsfeld,
welches zwischen oben und unten, Glück
oder Unglück in dieser Gesellschaft entscheidet.
Schorlemmer meint: „Du bist ein
armer Hund, aber die Krone der Schöpfung.“
Er glaubt, der Mensch müsse das aushalten
und durchleben. Gerade er aber sollte wissen,
daß eine Gesellschaft nicht nur aus Starken
besteht. Auch Schwache haben ein Recht
auf ein Leben in Würde und materieller Absicherung.
„Zuckererbsen für jedermann“, forderte
Heinrich Heine.
An einer Stelle beschwert sich Schorlemmer
darüber, daß ihm einst seine Mitschüler die
Kreuzzüge und Hexenverbrennungen vorgehalten
hätten. Und wie war das mit der
Ausrottung ganzer Völker und den vielen
im Namen Gottes geführten Kriegen? Oder
den zwei zuvor priesterlich gesegneten und
dann über Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen
Atombomben?


Schorlemmer meint, die Arbeiterbewegung
habe strukturelle Fragen gestellt, das Christentum
aber gehe von der Veränderungsbedürftigkeit
des einzelnen aus. „Verändere
dich und du veränderst die Welt!“ Die Antwort
auf die Frage nach der Struktur hat
immerhin einen 40jährigen Friedensstaat
auf deut schem Boden her vorgebracht.
Kaum waren er und Staaten seinesgleichen
Geschichte, gab es in Europa wieder Krieg,
die politische und ökonomische Erpressung
Schwächerer. Und der oberste Feldprediger
ist sogar Bundespräsident.


Seit mehr als 2000 Jahren verändern sich
die Menschen, wie sie glauben, zum Besseren.
Hat sich dadurch die Welt verbessert?
Viele wollten das tatsächlich erreichen. Ich
kenne nur wenige, die sich so zum Negativen
verändert haben wie der Moderator dieses
Gesprächs.


Es liegt mir fern, die christliche Religion zu
diffamieren. Sie hat der Menschheit Großes
gegeben. Aber hat der christliche Glaube in
der BRD tatsächlich etwas zum Guten gewendet?
Als Kind des Kalten Krieges entstanden,
spielt sie diese Rolle noch immer. Die
DDR-Bürger kamen aus einem überwiegend
von Atheisten geführten Staat in die angeblich
von christlicher Verantwortung geleitete
BRD. Heißt es nicht in der Präambel des
Grundgesetzes: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung
vor Gott ...?“


Verantwortung aber wird nach dem „Beitritt“
der DDR zunehmend militärisch definiert.
Dafür hat Bundespräsident Gauck – ein
Prediger Gottes – bei seinem Antrittsbesuch
in der Hamburger Universität der Bundeswehr
im Jahr 2012 und auf der Münchener
Sicherheitskonferenz 2014 maßgeblich die
Weichen mit gestellt.


Wo die beiden Interviewten etwas Positives
über die DDR aussagen, findet sich fast
immer ein „Ja, aber“. Gysi benennt deren aus
Sicht der Autoren wenige positive Seiten, so
die Stellung der Frauen und die Polikliniken.
In „Wendetagen“ sprach er einmal von einer
modernen Gesellschaft, in welche die DDRBürger
mit dem „Beitritt“ gelangten. Sicher
kennt er die Worte eines unserer Klassiker,
daß die Reife einer Gesellschaft an der Stellung
der Frau in dieser zu messen sei. Trotz
verordneter Quote in einigen Bereichen liegt
man da in der BRD noch meilenweit zurück.
„Ich kann nicht an die Wende denken, ohne
das Heute mit in Betracht zu ziehen. ... Das
Ergebnis ist deprimierend“, sagte die populäre
Schauspielerin Walfriede Schmidt.
Was habe ich mir eingetauscht? Die BRD
ist ein schönes Land mit überquellendem
Wohlstand für einen Teil der Gesellschaft.
Sie führt entgegen ihrem Grundgesetz
Angriffskriege. Sie ist keine Demokratie im
Sinne von Volksherrschaft, sondern eine
marktkonforme Diktatur der Bourgeoisie. In
der Handhabung der Flüchtlingsfrage offenbart
die CDU/CSU/SPD-Regierung ebenso
ihre Unfähigkeit wie bei der Beherrschung
von Rassismus und Neofaschismus. Menschen,
die vor Krieg und Verfolgung fliehen,
stehen hierzulande vor brennenden Unterkünften.
Wann werden es Synagogen und
Moscheen sein?


In einigen Passagen des Buches wird sichtbar,
daß es für Schorlemmer nichts gibt, was ihm
„die DDR im nachhinein angenehmer machen
könnte“. Aber er besteht auf dem „Denken
und Fühlen bestimmter Ideen, die mit der
Existenz dieses Systems verbunden waren
und mit dessen Verschwinden nicht aus der
Welt sind“.


Kann ein so gebildeter Mann derart naiv sein
zu glauben, ausgerechnet die heutige Gesellschaft
sei dazu imstande, diese Menschheitsideale
einzulösen! Eine groteske Vorstellung!
Ich habe die BRD nie für besser gehalten,
als sie heute ist. Daraus ergaben sich meine
Ängste vor dem Verschwinden der DDR. Im
Bewußtsein vieler Menschen wird mehr von
ihr bleiben, als die beiden Autoren und ihr
Moderator erkennen wollten.


Ich kann das Buch niemandem empfehlen,
will er nicht sein Geld zum Fenster hinauswerfen.
Harry Pursche, Leipzig



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