Mit geschlossenen Augen
durch die Krise – Selten gab es so wenig befähigtes politisches
Personal
VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 19. JANUAR 2022
von
Dagmar Henn – https://de.rt.com
Die Machtverhältnisse in der Welt verändern sich, aber die
deutsche Politik scheint unfähig, das wahrzunehmen. Statt die
Verhältnisse realistisch zu sehen, wird einer Illusion gefolgt, die
aus Hollywood stammen könnte. Die Aussichten, Wege aus den vielen
Krisen zu finden, sind schlecht.
Es gibt eine berühmte
Karikatur aus dem Jahr 1890, mit der damals eine britische
Zeitschrift die Entlassung Bismarcks als Kanzler kommentierte. „Der
Lotse geht von Bord.“ Damit wurde angedeutet, dass der junge Kaiser
Wilhelm II. nicht nur wenig Kompetenz zeigte, sondern zugleich
arrogant genug war, sich der vorhandenen Kompetenz anderer zu
entledigen. Mit seinem Verlangen nach einem „Platz an der Sonne“
und der entsprechend aggressiven Politik führte er das Land
schließlich in den ersten Weltkrieg; aber bis dahin dauerte es fast
ein Vierteljahrhundert.
Doch verglichen mit dem heutigen
Angebot an Kompetenz waren das selbst ohne Bismarck noch fast
paradiesische Zustände. Es dürfte kaum einen Zeitpunkt in der
deutschen Geschichte gegeben haben, an dem wie heute so viele
gleichzeitig verlaufende Krisen auf so wenig befähigtes politisches
Personal trafen. Es wirkt fast wie eine Verschwörung zum
Untergang.
Baerbock trifft Lawrow: Keine Alternative zu guten
Beziehungen zwischen Moskau und Berlin
Wer gehofft hatte, nur
Annalena Baerbock sei außerstande, die globalen Realitäten zu
sehen, sieht sich mit den Aussagen, die Bundeskanzler Olaf Scholz in
Spanien machte, eines Schlechteren belehrt. Russland müsse
deeskalieren, erklärte er, ohne genauer auszuführen, wie weit im
Landesinneren russische Truppen stehen müssten, damit sie seiner
Meinung nach nicht mehr bedrohlich sind. Nur mal so zum Vergleich –
die Standorte deutscher Gebirgsjäger sind nirgends mehr als zehn
Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt. Nein, auch er
unterschlägt den ukrainischen Aufmarsch und die wesentlich
konkretere Bedrohung, der sich die Bevölkerung des Donbass gegenüber
sieht, die täglich unter den Mörsergranaten leben muss, die die
ukrainischen Truppen in ihre Richtung abfeuern. Der Balken im eigenen
Auge wird nicht gesehen.
Als der ehemalige Außenminister
Heiko Maas in seinem von russischer Seite veröffentlichten Schreiben
zu erkennen gab, dass ihm grundlegende Kenntnisse über die
Funktionsweise von Friedensverhandlungen abgingen, weil ihm nicht
klar war, dass nur direkte Verhandlungen zwischen den
Donbass-Republiken und Kiew überhaupt ein künftiges Zusammenleben
beider Seiten in einem Staat ermöglichen könnten, offenbarte das
eine erschreckende politische Ahnungslosigkeit. Dieser Zustand setzt
sich fort. Und wird von großen Teilen der Medien auch noch mit
Applaus bedacht, als würden sie sich jede Nacht mit Jüngers
„Stahlgewitter“ in den Schlaf lesen.
„Brillanter
Schritt“: Kreml kommentiert diplomatischen Briefwechsel zum
Normandie-Treffen
„Kommt der Krieg, kommt er nicht? Eine
unerträgliche Ungewissheit lastet auf Europa,“ schreibt der
Tagesspiegel, dem es nicht scharf genug gegen Russland gehen kann.
Als wäre Krieg etwas Erstrebenswertes und sein Ausbleiben eine
Enttäuschung. Wenn man sich fragt, wie der Wahn des ersten
Weltkriegs entstehen konnte, kann man hier live mitlesen. Und klar,
„Putin“ muss „unter Druck“ gesetzt werden.
Dass das
alles nicht funktioniert, sich Europa nur ins eigene Bein schießt
damit und eine wirkliche militärische Konfrontation extrem schnell
eskalieren könnte, gerade weil die NATO, nehmen wir mal die
Formulierung, die 1914 gern in Bezug auf Russland gebraucht wurde,
ein Koloss auf tönernen Füßen ist – das habe ich an anderer
Stelle schon ausgiebig beschrieben. Dass diese äußere Krise noch
von einer Legitimationskrise im Innern begleitet wird, und
gleichzeitig das langsame Krümeln der Infrastruktur sich in ein
reges Bröckeln verwandelt; dass das Corona-Spektakel eine weitere
Umverteilungswelle von unten nach ganz oben verhüllt, aber auch
dieser ökonomische Bürgerkrieg nicht endlos verborgen bleiben kann,
das alles kommt noch hinzu. Aber die politische Elite des Landes tut
so, als wäre alles eitel Sonnenschein.
Wie äußerte sich
jüngst der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz
anlässlich der zunehmenden Spaziergänge? „Ob das jetzt Corona ist
oder die Flüchtlingspolitik. Oder auch die Flutkatastrophe: Da hat
man teilweise die gleichen Leute gesehen, die versuchten, den
Eindruck zu vermitteln, der Staat versage und tue nichts für die
Menschen.“ Nein, werter Herr Haldenwang, den Eindruck muss man
nicht vermitteln, schon gar nicht es versuchen. Das ist eine
Tatsache, mit der wir leben müssen.
Wolfgang Streecks neues
Buch stellt die Gretchenfrage: Globalismus ODER
Demokratie?
Vielleicht ist das ja ein Langzeitschaden neoliberaler
Politik. Schließlich begann rund um die Einführung von Hartz IV
eine Propagandisierung, die in dieser Form neu war. Wer den
Sozialstaat erhalten wollte, wurde „Modernisierungsverlierer“
genannt, den der „Sozialneid“ antreibe; die Arbeitslosen, die
durch die Deindustrialisierung des Annexionsgebietes erst geschaffen
wurden, ruhten sich „in der sozialen Hängematte“ aus, während
die Politik sich doch endlich um die „Leistungsträger“ kümmern
solle.
Zwei Dinge verliefen damals parallel – die endgültige
politische Kapitulation der Gewerkschaften, und die öffentliche
Delegitimierung jeder anderen Haltung. Die Interessen der arbeitenden
Bevölkerung wurden moralisch angegriffen und weitgehend aus der
politischen Debatte verbannt.
Seitdem entwickelte sich das zum
Standardverfahren in jeder Situation, die Widerspruch erzeugte. 2015
wurde jeder, der Angela Merkels plötzliche Bevölkerungserweiterung
kritisch sah, sofort zum Rassisten erklärt; mit besonderer Vehemenz,
wenn dabei auf die Konkurrenz um Wohnungen hingewiesen wurde. Das
hatte gleich zwei Vorteile – man musste nichts tun, um die Lage auf
dem Wohnungsmarkt zu verbessern, und die Vermieter konnten in der
Folge massiv steigende Mieten verbuchen. Das reale Problem, dass
jeder Mensch, der hier lebt, auch wohnen können muss, blieb
erhalten. Die Interessen der normalen Bevölkerung wurden ignoriert
(nebenbei, die der „neu hinzugekommenen“ auch), aber warum
handeln oder gar Geld ausgeben, wenn ein wenig Diffamierung so weit
trägt?
Ob es die Klimapolitik ist, die ganz nebenbei die
deutschen Äcker der Nahrungsversorgung entzog, oder die Außenpolitik
mit ihren Aggressionen, oder die Corona-Maßnahmen, es gibt nur noch
eine Reaktion auf die ganz konkreten Probleme der Menschen da unten,
die Beschimpfung. Wer sich gegen die CO2-Steuer wendet, weil Strom
und Gas noch mehr vom Lohn fressen, ist ein Klimaleugner und schon
mit dem Kunstgriff dieses Wortes (das davon lebt, im Hintergrund den
‚Holocaustleugner‘ mit aufzurufen) so weit an den
gesellschaftlichen Rand befördert, dass man sich mit ihm nicht mehr
auseinandersetzen muss.
Energiepreise belasten besonders
Geldbeutel einkommensschwacher Haushalte
Politisch klug ist das
nicht. Schließlich ist die Kooperation der Beherrschten die
wichtigste Grundlage für die Macht der Herrschenden; aber wer
kontinuierlich ignoriert oder beschimpft wird, wessen Interessen
behandelt werden, als gäbe es sie gar nicht, hat irgendwann keinen
Grund mehr, zu kooperieren. Dann tritt die Ausübung von Zwang an die
Stelle der Kooperation, wie es mit dem Sanktionsregime der
Hartz-Gesetze eingeführt und mit den Corona-Maßnahmen vollendet
wurde; aber eine Herrschaft, die auf Zwang beruht, ist schwach.
Die
Akteure wirken allerdings so, als könnten sie gar nicht anders. Als
wäre ihnen nichts unmöglicher als ein Blick auf die Realität. Dass
die gegenwärtige politische Generation in der Fantasie aufgewachsen
ist, der Westen habe endgültig gesiegt, mag ein Teil davon sein.
Dass mit der Selbstentleibung der Gewerkschaften so getan werden
konnte, als gäbe es keinen Widerspruch mehr zwischen den Interessen
der Beschäftigten und denen der Unternehmer, hat sicher ebenfalls
dazu beigetragen. Wenn man betrachtet, dass sowohl in Frankreich als
auch in Polen die Regierungen auf die steigenden Strom- und Gaspreise
reagieren mussten, in Deutschland aber so getan wird, als wäre das
für niemand ein Problem, kann man erkennen, wie weit die Folgen bis
in Detailfragen reichen. Und die große ökonomische Heuchelei, bei
der so getan wird, als wäre ein Wirtschaftssystem, das seit 2008 am
Tropf der Zentralbanken hängt, quicklebendig, ja, sogar anderen
überlegen, spielt mit Sicherheit ebenfalls eine Rolle.
Damals,
2008, waren sie alle in Panik. Inzwischen wird so getan, als wäre da
nichts gewesen; auch wenn noch im Herbst 2019, vor Corona, in den USA
eine weitere Runde Bankenrettung lief, in Höhe von 4,5 Billionen
Dollar, und mit Hilfe von Corona immerhin genug Geld von unten nach
oben geschaufelt wurde, um das Vermögen von Milliardären zu
verdoppeln. Tatsächlich ist das der Punkt, der die ganze Phase
neoliberaler Politik seit Maggie Thatcher prägt: ein hemmungsloser
Griff in die Taschen der breiten Massen, um die Gewinnansprüche der
aller obersten Schicht der Reichen zu befriedigen.
Ganz
unauffällig ist es möglich, mit Corona das Gesundheitssystem
endgültig auf die reine Gewinnerzielung zuzurichten; seit viele
Ärzte mit dem lukrativen Impfen beschäftigt sind, stockt die ganz
normale Gesundheitsversorgung; der Impfzwang reduziert das ohnehin
knappe Pflegepersonal weiter, und wenn das Corona-Theater vorüber
ist, werden sich die Deutschen mit einer wesentlich schlechteren
Versorgung zufrieden geben, so die Erwartung, weil das immerhin
wieder etwas mehr sein wird als jetzt, unter Corona.
Hauptsache
Impfpflicht – Regierung will von Widersprüchen nichts wissen
Eine
solche Situation, in der ein ökonomisches System seine eigenen
Grundlagen vertilgt und die Lebensverhältnisse der
Bevölkerungsmehrheit sich kontinuierlich verschlechtern, gibt es
nicht zum ersten Mal. Vor einigen Tagen stolperte ich über folgendes
Zitat: „So lässt sich am Ende der Feudalperiode zum Beispiel in
Frankreich ganz außerordentlich deutlich beobachten, wie die feudale
Basis zur Finanzierung der Kosten der herrschenden Klasse nicht mehr
ausreicht und wie sich diese dann zunehmend nicht nur am Mehrprodukt,
ja selbst am Konsumptionsfonds der Bauern, sondern auch am
bürgerlichen Eigentum vergreift, bis das Bürgertum, unterstützt
von den Bauern und den plebejischen Schichten der Städte, den Weg
der Revolution geht, um die Steigerung seines Reichtums zu sichern.“
Es stammt aus dem zweiten Band der Geschichte des Alltags des
deutschen Volkes von Jürgen Kuczynski. Davor beschreibt er eine
identische Situation am Ende des römischen Reiches.
Wenn
also, ob wegen Klima oder wegen Corona oder für die zehnte
Bankenrettung den einfachen Menschen das Leben zur Hölle gemacht und
erst die Wurst, dann die Butter vom Brot genommen wird, ist das,
genau wie die Schlaglöcher in den Straßen oder das in Stücke
geschlagene Bildungssystem ein Versuch, auf Kosten der Mehrheit ein
System am Leben zu halten, das nur einer winzigen Minderheit nutzt,
dessen Zeit aber längst abgelaufen ist.
Cyberangriff: Zehn
Staaten simulierten den Zusammenbruch des Finanzsystems
In jenem
Moment der Panik 2008, als nach der Pleite von Lehman-Brothers das
ganze ineinander verwobene Bankensystem wie ein gigantisches Domino
zu stürzen drohte, wurde ein kurzer Blick in den Abgrund geworfen.
Dann wurde die Gelddruckmaschine angeworfen und seitdem stehen sie
alle mit dem Rücken zu diesem Abgrund und tun so, als sei alles in
bester Ordnung.
Es gibt Mechanismen in unserem Parteiensystem,
die eine Negativauslese fördern. Der einfachste besteht darin, dass
jene, die alle ihre Ressourcen auf die Sicherung ihrer eigenen
Position verwenden, statt sich mit realen politischen Problemen zu
befassen (was eigentlich die Aufgabe wäre), immer bessere Chancen
haben, sich durchzusetzen. Wer sich brav darauf beschränkt, im
Mainstream seiner Partei zu schwimmen, hat weniger Gegner als jemand,
der eigene politische Gedanken entwickelt. Sprich, es gibt eine
strukturelle Tendenz hin zu unauffälligem, nicht an Politik, sondern
an Karriere interessiertem Personal.
Der Abgrund im Rücken
stärkt die notwendige Tendenz der Wirklichkeitsverleugnung weiter.
Wenn man dann hinzunimmt, dass spätestens seit der Debatte um die
Einführung von Hartz IV die moralisierende Abwertung politischer
Gegner zum Standard gehört und das Aussprechen materieller
Interessenskonflikte völlig tabuisiert ist, erklärt sich die
wahnhafte Selbstsicht jener immer kleiner werdenden Gruppe, die für
sich in Anspruch nimmt, „die Gesellschaft“, „die Demokratie“
und „die Wissenschaft“ zu verkörpern. Sie können gar nicht
anders.
Ernährung unter Özdemir: Für die einen Hanf, die
anderen noch schlechteres Essen
Die vielfach ineinander
verflochtenen Ebenen der Krise sorgen dafür, dass nur jenes
politische Personal das „Weiter so“ vertreten kann, das die
Selbsttäuschung perfektioniert hat. Das sich an eine Umgebung von
Claqueuren gewöhnt hat. Das, wie Baerbock, schon mit der Missachtung
der Kleiderordnung signalisiert, sich für etwas Besseres zu halten,
und in einer Umgebung, die nicht wie erwartet huldigt, sogleich aus
der Rolle fällt.
Sie können die Veränderungen, die in der
Welt gerade geschehen, nicht begreifen, weil sie dafür die Augen
öffnen müssten, und es ihr Lebensprinzip ist, sie fest geschlossen
zu halten. Sie taugen nicht dazu, aus der Krise herauszufinden, weil
ihre Existenz darauf beruht, sie zu verdrängen. Aus der historischen
Distanz wird man vielleicht sagen können, dass sie den Zustand
dieser Republik so passend verkörpern wie Wilhelm II. den des
deutschen Kaiserreiches. Leider erreichen wir diese Distanz nur, wenn
sie vorher nicht noch die Welt in Brand
setzen.
https://de.rt.com/meinung/130124-mit-geschlossenen-augen-durch-krise/
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