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Abschiedsbrief
von Hans Modrow
VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅
31. JANUAR 2022
von Fiete Jensen – Hans Modrow –
http://www.deanreed.de
„Liebe Susanne, liebe Janine, ich
kann versprechen, Euch künftig mit Schreiben wie diesem zu
verschonen. Meine Kraft ist aufgezehrt, ich kann nur auf die Enkel
hoffen, die es besser ausfechten.“
So endet ein
Schreiben der Genossen Hans Modrow, das er in seiner Funktion des
Vorsitzenden des Ältestenrates der Partei »Die Linke« (PdL) in der
vergangenen Woche an die Vorsitzenden der PdL, Susanne Hennig-Wellsow
und Janine Wissler, gerichtet hat.
…Das umfangreiche Dokument
spiegelt die Zerrissenheit und die Abkehr der PdL vom
Marxismus-Leninismus anschaulich wider. Zum Zweiten gibt es auch
interessante Einblicke in die Denkweise des gelernten
Maschinenschlossers Hans Modrow, der als langjähriger Erster
Sekretär der Bezirksleitung der SED im Bezirk Dresden bekannt wurde.
Für sechs Monate war er der letzte Vorsitzende des Ministerrats der
Deutschen Demokratischen Republik und somit Chef der sog. »Regierung
Modrow«.
Die Veröffentlichung sehe ich als
Zeitdokument und möchte es deswegen nicht weiter kommentieren. Wie
immer ist es beim Lesen ratsam, auch zwischen den Zeilen zu
lesen.
.
„Liebe Susanne, liebe Janine,
zum ersten Mal
seit vielen Jahren blieb ich dem stillen Gedenken in
Berlin-Friedrichsfelde fern, konnte nicht gemeinsam mit Euch und
vielen anderen jene ehren, auf deren Schultern unsere Partei steht.
Ich fehlte nicht aus politischen Gründen, wie manch anderer, sondern
aus gesundheitlichen: Ich lag im Krankenhaus. Die medizinischen
Diagnosen sind nicht eben freundlich, weshalb ich es für angezeigt
halte, meine Angelegenheiten zu regeln. Darum auch dieser Brief. Er
soll zugleich mein Beitrag sein für die Diskussion im Vorfeld des
Parteitages in Erfurt.
Die Partei Die Linke – hervorgegangen
aus WASG und PDS, und diese wiederum aus der SED, welche ihre
organisatorischen Wurzeln in der KPD und der SPD hatte – befindet
sich in einer kritischen Situation. Diese entstand nicht erst durch
das desaströse Resultat bei den Bundestagswahlen. Das Ergebnis
machte die innere Verfasstheit lediglich sichtbar. Wenn die Partei
sich nicht im klaren ist, wofür sie steht und was ihr Zweck ist,
wissen dies auch nicht die Wähler. Warum sollen sie ihre Stimme
einer Partei geben, deren vordringlichstes Interesse darin zu
bestehen scheint, mit SPD und Grünen eine Regierung bilden zu
wollen? Dass diese Vorstellung offenkundig in der Führung und unter
den Mandatsträgern dominiert, ist weder dem Wirken einzelner
Genossinnen und Genossen zuzuschreiben noch das Resultat einer
einzigen falschen Entscheidung. Es ist Folge einer jahrelangen,
jahrzehntelangen Entwicklung. Wann dieser Prozess einsetzte, und wer
ursächlich dafür verantwortlich zeichnet, lässt sich sowenig
beantworten wie die Frage, ob der Realsozialismus nach dem 20.
Parteitag der KPdSU 1956 oder mit dem Prager Frühling 1968 hätte
gerettet werden können. Wir wissen es nicht.
.
Alles auf
den Prüfstand
Wir kennen jedoch die demokratischen
Spielregeln. Wir haben uns auf sie eingelassen, wie wir eben auch die
gesellschaftliche Realität zur Kenntnis nehmen müssen, ob uns diese
nun gefällt oder nicht. Schon Bismarck wusste und handelte
entsprechend: »Wir müssen mit den Realitäten wirtschaften und
nicht mit Fictionen.« Zu den demokratischen Spielregeln gehört es,
dass nach einer krachenden Niederlage alles auf den Prüfstand
gestellt werden muss. Die kritische Selbstbefragung schließt
Personalien zwingend mit ein. Denn wenn alle Verantwortlichen im Amt
bleiben, bleibt auch sonst alles beim alten. Es genügt nicht, Kreide
zu fressen und Besserung zu geloben. Aus einem mit politischem Mandat
ausgestatteten Saulus ist bislang noch nie ein Paulus geworden. Das
war eine biblische Legende.
Das Maß der Mitverantwortung ist
bei jedem Parteimitglied unterschiedlich groß, am größten aber bei
jenen, die die Partei führen. Der Bundesgeschäftsführer zum
Beispiel trägt eine größere Verantwortung für Wahlstrategie und
inhaltliche Ausrichtung der Partei als ein einfaches Parteimitglied –
man kann sagen: eine entscheidende. Ansagen der Parteivorsitzenden
finden eine höhere Verbreitung als die Meinung einer Basisgruppe;
was in der Bundestagsfraktion gesagt wird, besitzt eine andere
Wirkung als etwa eine Erklärung des Ältestenrates. Deshalb denke
ich, dass ein Neustart nicht ohne personelle Konsequenzen erfolgen
kann. Der Parteitag im Sommer in Erfurt ist nach meiner Überzeugung
dafür die letzte Chance, es wird keine weitere geben.
In der
Partei, aus der ich komme, kursierte die Losung von der Einheit von
Kontinuität und Erneuerung, wobei jedermann und jedefrau sah, dass
die Erneuerung allenfalls Phrase war, um die Stagnation zu verdecken.
Wohin dies am Ende führte, wissen wir alle. Marx irrte vielleicht
doch, wenn er – Hegel zitierend – meinte, dass sich Geschichte
zweimal zutrüge, »das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als
Farce«. Auch wenn sich Geschichte in Wahrheit nicht wiederholt, sind
Analogien nicht völlig von der Hand zu weisen. Nach meinem Eindruck
scheinen sich in unserer Partei bestimmte Prozesse zu wiederholen.
Die SED ging zugrunde, weil die Führung selbstgefällig und
arrogant, unbeirrt und unbeeindruckt ihren Kurs verfolgte und
ignorierte, was die kritische Basis daran anstößig fand. Damit
zerstörte diese Führung objektiv die Partei von oben. Das Ende ist
bekannt.
Am Ende meiner Tage fürchte ich die Wiederholung.
Die politischen Folgen des Scheiterns vor mehr als 30 Jahren können
wir im Osten Deutschlands besichtigen. Die Folgen des Scheiterns der
Linkspartei werden ganz Deutschland und die europäische Linke
insgesamt treffen. Das eine wie das andere ist irreparabel. Dessen
sollten wir uns bewusst sein! Wir tragen darum eine große
Verantwortung – jede Genossin, jeder Genosse und die Partei als
Ganzes.
Als Vorsitzender des Ältestenrates war ich mir immer
dieser Verantwortung bewusst. Wir haben gemäß der Bundessatzung der
Partei gehandelt: »Der Ältestenrat berät aus eigener Initiative
oder auf Bitte des Parteivorstandes zu grundlegenden und aktuellen
Problemen der Politik der Partei. Er unterbreitet Vorschläge oder
Empfehlungen und beteiligt sich mit Wortmeldungen an der
parteiöffentlichen Debatte.« Allerdings musste ich, mussten wir
erleben, dass unsere Vorschläge und Empfehlungen ohne sichtbare
Wirkung blieben, weshalb ich wiederholt auch öffentlich die Frage
stellte, ob es dieses Gremiums überhaupt bedarf. Wir waren
augenscheinlich überflüssig und lästig, was die Ignoranz deutlich
zeigte. Unsere Erfahrungen brauchte niemand.
.
In
westdeutscher Hand
Natürlich gibt es – wie in jeder
Familie – auch in unserer Partei einen Generationenkonflikt. Die
Neigung der Nachwachsenden, den Rat der Alten als Belehrung oder
Bevormundung zu empfinden, ist mir nicht fremd: Ich war schließlich
auch einmal jung. Zu diesem Konflikt kommt auch noch der der
unterschiedlichen Herkunft. Wer im Osten geboren und aufgewachsen
ist, hat eine andere Sozialisation erfahren als die Genossinnen und
Genossen aus dem Westen. Sozialisation schließt ein: Bildung,
Sprache, Umgangsformen, Mentalität, Erfahrung, Stabskultur … Das
alles schwindet mit den Jahren, wie deren Träger auch verschwinden.
Es wirkt jedoch nach. Über Generationen. Die Ostdeutschen, auch das
muss gesagt sein, sind nicht die besseren Menschen. Sie sind anders.
Das sollte sowohl in der Partei selbst als auch in ihrer politischen
Arbeit bedacht werden. Geschieht das nicht, erhält man – wie
jüngst geschehen – bei Wahlen die Quittung. Bundestagswahlen
gewinnt man nicht im Osten, aber man verliert sie dort.
Ich
kann mich nicht des Eindrucks erwehren, dass auch die Partei wie
seinerzeit das östliche Land inzwischen in westdeutscher Hand ist.
Ihre Vertreter und Verbündeten geben den Ton an. Wie im Staat gibt
es keine Einheit, ich nenne den Zustand Zweiheit. Und das scheint
nunmehr auch in der Partei der Fall zu sein. Ja, ich weiß, die
Zusammensetzung der Partei hat sich geändert, viele junge Leute aus
West wie Ost sind hinzugekommen. Sie kommen vornehmlich aus Städten
und nicht vom Lande, haben andere Bedürfnisse und Interessen als wir
damals, als wir in ihrem Alter waren. Um so wichtiger ist, dass wir
ihnen bewusst machen, aus welcher traditionsreichen Bewegung
ihre/unsere Partei kommt, was ihre Wurzeln sind und wofür
Generationen gekämpft haben: nämlich nicht für die Stabilisierung
des kapitalistischen Systems, sondern für dessen Überwindung.
Und
den Charakter des Systems erkennt man nicht mit Hilfe des
Ausschnittdienstes und der sogenannten sozialen Medien, sondern aus
Theorie und Praxis und deren Verbindung. Ich scheue mich deshalb
nicht, eine systematische politische Bildungsarbeit in der Partei zu
fordern. Natürlich ist das kein Allheilmittel, aber nützlich, um
die Welt zu erkennen und zu bestimmen, was die Aufgabe der Partei
ist. Auch wenn deren Zustand im steten Wandel begriffen ist, ändert
sich der Charakter der Klassengesellschaft nicht. Lautmalerei,
Anglizismen und Gendern oder der Kampf gegen die Klimakatastrophe
überwinden die sozialen Gegensätze in der
bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nicht. Das vermeintliche
Verschwinden des Industrieproletariats hat doch die Arbeiterklasse
nicht ausgelöscht. Die Sozialforschung spricht inzwischen vom
Dienstleistungsproletariat, und meint jene abhängig Beschäftigten,
die für wenig Geld arbeiten müssen, um zu existieren:
Krankenschwestern und Pfleger, Verkäuferinnen im Supermarkt und
Außendienstmitarbeiter in Logistikunternehmen, Angestellte bei der
Post, im Handel, in der Gastronomie und im Tourismus und so weiter.
Sie machen laut jüngsten Untersuchungen inzwischen bis zu 60 Prozent
der Beschäftigten aus und sind kaum gewerkschaftlich organisiert.
Sie sind ebenso Arbeiterklasse wie die etwa 18 Prozent in
Industriebetrieben Tätigen. Diese nahezu vier Fünftel der
Gesellschaft kommen in der Wahrnehmung unserer Partei kaum vor. Es
ist ja keine Klasse, keine Mehrheit, nur eine Randerscheinung
…
.
Kampf um den Frieden
Nicht weniger
gefährlich ist diese absurde Äquidistanz zur Außenwelt. Man kann
nicht zu allen Bewegungen und Staaten den vermeintlich gleichen
ideologischen Abstand halten. Wer in das gleiche Horn stößt wie die
kapitalistischen Kritiker Russlands und Chinas, Kubas, Venezuelas
usw. macht sich objektiv mit ihren erklärten wirtschaftlichen und
politischen Gegnern gemein. Wollen wir ihnen im Kalten Krieg
behilflich sein beim Anrichten eines Scherbenhaufens wie in den
Staaten des arabischen Frühlings, in Afghanistan, in der Ukraine und
in anderen Staaten, wo die Geheimdienste und die Militärmaschinerie
des Westens wüteten? Natürlich sollen wir nicht alles gutheißen,
was in anderen Ländern geschieht. Aber bei unserer Beurteilung ist
es nicht nur nützlich, sondern auch nötig, die Perspektive der
anderen einzunehmen. Im Kampf um den Frieden darf es keine
Neutralität geben. Der christlich-europäische Kulturkreis, aus dem
wir ebenso kommen wie Karl Marx und der ganze Kapitalismus, kann
nicht die Elle sein, mit der wir die Welt vermessen. Es gibt
Kulturvölker, die uns Jahrtausende voraus sind. Und es gibt
Prioritäten, die auch Willy Brandt setzte: Frieden ist nicht alles,
aber ohne Frieden ist alles nichts.
Liebe Susanne, liebe
Janine, ich kann versprechen, Euch künftig mit Schreiben wie diesem
zu verschonen. Meine Kraft ist aufgezehrt, ich kann nur auf die Enkel
hoffen, die es besser ausfechten. Da schwingt Hoffnung mit. Und die
stirbt bekanntlich zuletzt.
.
Berlin, 17. Januar 2022
In
solidarischer Verbundenheit
Hans Modrow
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