Samstag, 30. Dezember 2017

Erinnerung: DDR-Kultur


Wo ist das alles geblieben?


750-Jahr-Feier der Superlative: Erinnerungen an ein Weltereignis in Berlin, DDR


Von Hermann Falk

Mit dem Fest zum 750. Jahrestag der Gründung Berlins sind viele Erinnerungen an glückliche Stunden verbinden. Große Opern-, Ballett- und Theaterensembles traten 1987 in der Hauptstadt der DDR auf, legendäre Dirigenten mit berühmten Orchestern, Weltstars wie Miriam Makeba oder Bob Dylan. Wenn das 30. Jubiläum jenes Festivals in den deutschen Medien des Jahres 2017 überhaupt mal eine Rolle spielte, dann ging es um Konzerte von Udo Jürgens oder Peter Maffay, verbunden mit dem Versuch, diese Auftritte gegen die DDR zu instrumentalisieren. »Vor genau 30 Jahren war ›Cats‹ zum ersten Mal in Berlin«, hieß es im Sommer in der Berliner Zeitung über das Musical von Andrew Lloyd Webber. »Der Ostteil der Stadt feierte damit 750 Jahre Berlin. Das Publikum flippte beglückt aus, erfuhr nichts von dem finanziellen Desaster – für die DDR, weil sie neue Devisenschulden auftürmte, für Wien, weil es den Reiseaufwand kolossal unterschätzt hatte.« So eingängig und glaubhaft das klingen mag, als damaliger Vertragschließender kann ich ein Devisendesaster keinesfalls bestätigen.

Für das Programm zur 750-Jahr-Feier, zu dem eine »Cats«-Inszenierung aus Wien gehörte, gab die Künstleragentur der DDR nicht mehr Valutamittel aus, als sie im Jahr 1987 durch Gastspiele vor allem von Opernensembles und Orchestern der DDR im Ausland erwirtschaften konnte. Wir achteten darauf, über diesen Betrag nicht hinauszugehen.

Jährlich standen der Agentur Subventionen in Höhe von zehn Millionen Mark der DDR für den Empfang und die Entsendung von Ensembles zur Verfügung. Welch reiches Gastspielangebot wir mit diesen verhältnismäßig geringen Mitteln ermöglichten, war oft sensationell. Im Jahre 1987 gelang es in unerwartetem Maße, finanzielle Unterstützung seitens ausländischer Regierungen, Städte, Regionen oder anderer Sponsoren zu gewinnen. Auch für sehr kostenintensive Gastspiele wurden die in der DDR üblichen Eintrittspreise beibehalten. Ich erinnere nur an die teuerste Karte der Deutschen Staatsoper damals mit 15 Mark der DDR.

Ein Novum war das Fest in Berlin schon hinsichtlich der Anzahl der Ensembles und Solisten, für überragende Bedeutung sorgte deren künstlerische Qualität. Abgesehen von Andorra, San Marino und Liechtenstein, waren alle Länder Europas vertreten, darüber hinaus China, Vietnam, Kuba, die USA, Japan, Australien, Indien, Mexiko, Brasilien, Äthiopien, Ägypten sowie weitere Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Das Ganze hatte sich schnell herumgesprochen, man wollte dabeisein, sich revanchieren für jahrelange gute Zusammenarbeit. Und alle wussten um die Begeisterungsfähigkeit des DDR-Publikums.

Zwölf berühmte Opernhäuser nahmen teil, darunter das Bolschoi-Theater, Wiener und Bayerische Staatsoper sowie Chor und Orchester der Scala di Milano. Zu den 16 Schauspielensembles zählten das Dramatische Theater Leningrad, die Wiener Burg und das Kabuki-Theater Tokio. 42 Sinfonieorchester gastierten im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, darunter Leningrader, Moskauer und Wiener Philharmoniker, das Concertgebouw-Orchester Amsterdam, alle fünf Londoner Weltorchester. Von den 18 Kammerorchestern seien die Academy of St. Martin in the Fields aus London, das Orpheus Chamber Orchestra aus den USA und das Mozarteum Salzburg erwähnt, von den Dirigenten Bernstein, Abbado, Menuhin, Muti, Sinopoli, Barenboim und Ashkenazy.

Wir empfingen Instrumentalsolisten wie Anne-Sophie Mutter, Victor Tretjakow, Maurice André oder Maurizio Pollini, Gesangssolisten wie Jelena Obraszowa, Jewgeni Nesterenko oder José Carreras, Chöre aus zwölf Ländern, darunter der Monteverdi-Chor London und der Boys Choir of Harlem. Neben den Nationalballetten Spaniens, Kubas und Mexikos begeisterten moderne Tanzkompanien von John Neumeier (Hamburg), Martha Graham (New York) oder Pina Bausch (Düsseldorf). Großer Beliebtheit erfreuten sich Auftritte von 15 Revue- und Folkloreensembles, darunter die Leningrader Music Hall und die Eisrevue »Holiday on Ice«. Eine Delphinshow im Volkspark Friedrichshain hatte 500.000 Besucher, Bob Dylan spielte vor 80.000 im Treptower Park. 46 Solisten und elf Gruppen der Unterhaltungskunst gastierten im Rahmen des Festivals in Berlin, darunter Weltstars wie Gilbert Bécaud, Shirley Bassey, Mikis Theodorakis, Carlos Santana oder Salomon Burke. Das Orchester James Last gab sechs Konzerte im Palast der Republik, der wahrlich ein Haus des Volkes war, Herman van Veen trat sechsmal im Brecht-Theater auf, Udo Jürgens viermal im Friedrichstadtpalast, Peter Maffay dreimal in der Seelenbinderhalle.

Von den Veranstaltungsorten und der Organisation waren die Künstler genauso angetan wie von der Herzlichkeit und Aufgeschlossenheit des Publikums. Sie brachten das auch vielfältig zum Ausdruck auf der Bühne, in Interviews, Gruß- und Dankesworten. Keiner, der nicht euphorisch für die Teilnahme am »Weltereignis« dankte.

Solche Erinnerungen an das Kulturleben in der DDR wachzurufen, ist angesichts des andauernden Niedergangs der kulturellen Infrastruktur in den neuen Bundesländern auch schmerzlich. Trotz aller Probleme und ökonomischen Zwänge ermöglichte die DDR sämtlichen Schichten der Bevölkerung Zugang zu Kultur und Kunst. Zeugen der großzügigen Förderung waren die großen Kulturpaläste in nahezu allen Bezirksstädten. 1985 gab es mehr als 1.000 Kulturhäuser, darunter die repräsentativen der großen Kombinate wie Bitterfeld oder Leuna, der Werften in Rostock und Wismar, der Stahlwerke in Riesa und Eisenhüttenstadt, des Petrolchemisches Kombinats Schwedt usw. Bei 65.900 Veranstaltungen in diesen Häusern wurden 1985 etwa 66 Millionen Besuchern gezählt. Mancher mag heute spotten über das Ziel der DDR, eine »allseitig gebildete Nation« zu entwickeln, aber unter diesem Motto wurden breiteste Kreise der Bevölkerung an Kunst und Kultur herangeführt, bis in die kleinsten Dörfer hinein.

Vermutlich nirgendwo auf der Welt gab es auf so kleinem Territorium eine solche Vielfalt künstlerischer Ensembles, von denen einige weltweit bei Festivals auftraten. Jährlich wurden bis zu 80 Auslandstourneen mit mehr als 400 Konzerten bzw. Vorstellungen organisiert. Die DDR war ein bedeutendes Theaterland mit einer Vielzahl international anerkannter Regisseure und Ensembleleistungen. Neben einer soliden Ausbildung der Künstler war das der Entwicklung eines breit interessierten und inspirierenden Publikums zu verdanken. Wo ist das alles geblieben? Die kulturelle Infrastruktur wurde systematisch abgebaut, Kulturhäuser wurden Lagerhallen oder abgerissen wie der Palast der Republik, Orchester und Theater wurden aufgelöst oder verkleinert. Und es ist noch nicht zu Ende, wie das Beispiel der Berliner Volksbühne zeigt.

Die Künstleragentur der DDR wurde im Ausland besonders dafür geschätzt, dass nicht kommerzielle Gesichtspunkte für den Austausch bestimmend waren, sondern das humanistische Anliegen der Völkerverständigung, die Bewahrung und Verbreitung von nationalem und Weltkulturerbe. So war das auch beim Programm zur 750-Jahr-Feier Berlins. Viele der großen Ensembles gastierten in jenem Jahr auch noch in anderen Städten der DDR. Hunderte Mitschnitte von diesen Veranstaltungen wurden in Fernsehen und Rundfunk der DDR ausgestrahlt.

Auch bei der Entsendung von DDR-Künstlern und -Ensembles ins Ausland übertraf die Agentur 1987 das Vorjahresergebnis. An die 3.000 Auslandsauftritte von Dirigenten und Konzertsolisten wurden organisiert; an die 10.000 Auftritte von Unterhaltungskünstlern. In Japan gab die Staatsoper 15 Vorstellungen. Die siebente Konzertreise des Gewandhausorchesters durch die USA war mit 34.000 Zuhörern bei 13 Konzerten sehr erfolgreich. Zeitgleich wurden in der Künstleragentur Gastspiele für 1988 vereinbart, etwa mit den New Yorker Philharmonikern oder dem London Symphony Orchestra mit Bernstein. Es waren Kulturtage Ungarns, der CSSR und Bulgariens in der DDR vorzubereiten. Allein für die 32. Berliner Festtage 1988 wurden mehr als 100 Gastspiele ausländischer Ensembles und Solisten in der DDR organisiert. Diese Zahlen mögen verdeutlichen: Auch in den Jahren um das Berliner Stadtjubiläum herum konnte sich das Angebot an ausländischen Gastauftritten in der DDR sehen lassen.

Der Autor war von 1972 bis 1990 Generaldirektor der Künstleragentur der DDR



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen