Die
Userin Hanna Fleiss zu „Wider das Vergessen“
Hanna
Fleiss, Geschichte
16.
Was KZs waren und warum der neue Pappi Kommunist wurde
Die
Familie saß beim Abendbrot. Jo konnte den neuen Pappi immer noch
nicht leiden. Sie beobachtete jede seiner Gesten und Blicke und fand
immer etwas auszusetzen: Mal sah er sie zu streng an, Jo fand: sehr
unfreundlich, mal beachtete er sie nicht. Nein, mit dem neuen Pappi
konnte sie sich nicht anfreunden.
Der
neue Pappi schob den Teller von sich und beugte sich über den Tisch.
"Also erzähl mal, Jo – wie war es in Wiek auf Föhr? Stimmt
es, das mit den Knüppeln?" Sein Blick wurde streng. "Aber
diesmal schwindelst du nicht! Sonst lernst du mich kennen!"
"Ja,
Ehrenwort! Ich habe zweimal Keile gekriegt." Jo hob die
Schwurhand.
Die
Mutter warf ein: "Na, dann wirst du sie auch verdient haben!"
"Eben
nicht. Ich war unschuldig, jedesmal. Ein Mädchen hat Keile gekriegt,
weil sie ihre Nase nicht geputzt hatte. Und Mariechen fast jeden Tag,
weil sie Bettnässerin war. Und ich, weil ich gebrochen habe und dann
war die Puppe kaputt. So war das!"
"Du
bist immer unschuldig, wenn du erwischt wirst."
"Rita,
lass mal", der neue Pappi grinste, "der Apfel fällt nicht
weit vom Stamm."
"Na
hör mal!" Die Mutter brauste auf. "Komm mir nicht so! Das
ist, weil sie so lange bei meiner Mutter war. Da konnte sie tun und
lassen, was sie wollte."
"Ich
werde mich beschweren", sagte der neue Pappi. "Das ist ja
unglaublich, wie man in dem Sanatorium mit den kranken Kindern
umgegangen ist. Die Schwestern, Rita, wenn du meine Meinung wissen
willst, müssen KZ-Aufseherinnen gewesen sein. Die sind dort in Wiek
untergekrochen. Na, das gibt einen ordentlichen Krach! Und die
Gesichter, die will ich sehen!"
Jo
saß nachdenklich da. "Was war das eigentlich – ein Kazett?
Ich bin schon groß, mir kannst du jetzt alles erzählen."
"Ein
KZ, Jo", und jetzt wurde der neue Pappi sehr ernst, "ein KZ
war das Schlimmste, was sich ein Mensch vorstellen kann. Es war ein
Gefangenenlager, dort wurden Menschen ermordet. Mit Absicht, ja, Jo.
Mit Hunger und Prügel und Gas. Wie Fliegen sind sie gestorben. Es
war viel schlimmer als der Hunger und die Kälte in Russland, viel,
viel schlimmer. Aber den Russen, denen ging es ja auch nicht gut, die
hatten selbst gehungert. Und wir, dem Hitler seine Soldaten, wir
waren schuld daran."
"Aber
dass sie Tante Heidelinde …"
"Hör
mir auf, Rita, mit Tante Heidelinde! Was meinst du, was wir Deutschen
in Russland getan haben? Ich war im Kaukasus, glaub mir, fein waren
wir auch nicht."
Die
Mutter war beleidigt. "Du musst es ja wissen."
Jo
wurde immer nachdenklicher. "Das verstehe ich nicht. Warum
wurden dort Menschen ermordet? In den Kazetts?"
"Jo,
darüber kann man lange reden. Weil die Kapitalisten … Sie haben
zu Hitler gesagt, jetzt regier du mal, wir haben die Schnauze voll
von den Arbeitern, und der hat sie in seine KZs gesteckt und
ermordet."
"Wen?"
"Na,
die Arbeiter. Und die Juden. Und die Polen. Und die Tschechen. Und
die Italiener und Franzosen. Und die Rotarmisten. Alle, alle waren
seine Feinde. Die ganze Welt war sein Feind."
"Dann
war der Hitler aber ein Mörder!"
"Worauf
du Gift nehmen kannst. Übrigens, Jo: Ab Herbst gehst du in der
Pflugstraße zur Schule."
"Pflugstraße?
Aber das ist doch im Russensektor!"
"Na
und? Die Russen sind scharf auf kleine Mädchen wie dich, die braten
dich am Spieß, und die Knochen werfen sie in die Latrine." Er
lachte.
Der
neue Pappi wurde wieder ernst. "Du wirst dich schon
zurechtfinden im Russensektor. Der Weg ist genausoweit wie zur Schule
Müllerstraße. Aber vorher, Jo – vorher verreist du. In ein
FDJ-Ferienlager, an den Üdersee. Weißt du, wo das ist?"
"Nee.
Ich kenn nur die Nordsee und den Nordhafen."
"Ich
zeig ihn dir auf dem Atlas." Der neue Pappi kramte in seinen
Papieren. "Da ist er doch. Also der Üdersee. Da ist er doch!
Der blaue Fleck, das ist er, der Üdersee. Bei Finowfurth. Schön ist
es da, ich war da mal mit den Jungpionieren, in den zwanziger Jahren,
im Zeltlager. Ihr schlaft in Zelten."
"Und
was ist FDJ?"
"Tja,
die FDJ, also die FDJler, das sind große Jungs und große Mädchen.
Die wollen jetzt, dass es keinen Krieg mehr gibt. Aber früher
wollten sie für Hitler sterben. Sie sind schon größer als du, du
bist dort die Kleinste. Ich habe das durchgedrückt. Arbeiterkinder
gehören an die frische Luft. Nächste Woche geht es los."
"Und
wo ist die Nordsee? Zeig sie mir!"
"Was
willst du denn noch mit der Nordsee? Hier, das Blaue, das ist sie."
Jo
staunte. "Ooch, so groß ist das Meer! Viel größer als der
Üdersee. Aber am Meer war es schön. Die Wellen, und die Möwen …"
"Am
Üdersee ist es auch schön. Und Lebertran gibt es dort auch nicht."
"Kein
Lebertran? Dann fahre ich mit! Aber nur, wenn es keinen Lebertran
gibt!"
"Rita,
pack den Koffer, Jo will verreisen!" Der neue Pappi lachte. "Du
bist mir vielleicht eine Marke. Schade, dass Veronika noch nicht
mitdarf, die müsste auch mal an die frische Luft. Aber, mein
Fräulein: Benimm! Sonst wirst du zurückgeschickt. Und wenn du den
großen Jungs die Hucke vollschwindelst – na, du weißt, was große
Jungs dann mit dir machen!"
"Ach,
da habe ich keine Angst. Ich kann schnell rennen! Außerdem war ich
unschuldig, damals in der Schule, wegen Herrn Wipprecht. Immer hacken
alle auf mir rum."
"Zum
Beispiel ich, Jo." Die Mutter räumte den Abendbrottisch ab.
"Marsch, ins Bett!"
"Ich
muss aber noch was sagen."
"So,
was denn?"
"Du
bist nicht mehr der neue Pappi. Du bist jetzt ein richtiger Pappi."
"Und
wie komme ich zu dieser Ehre?"
Jo
sah den Pappi zweifelnd an. "Bist du Kommunist? Ingo sagt, du
bist eine rote Kommunistensau. Und ich auch. Was ist das, Kommunist?"
"Tja,
Kind, wenn ich dir das erklären könnte."
"Erklär
es mir, bitte."
"Eine
schwierige Frage." Der Pappi schmunzelte. "Kommunist, Jo,
ist einer, der nicht will, dass Kinder hungern müssen oder im
Luftschutzeller ersticken oder immer im Hinterhof spielen müssen und
niemals verreisen können. Kinder sollen lachen können. Und immer
soll Frieden auf der Welt sein. Und KZs soll es auch nie mehr geben.
Deshalb bin ich Kommunist geworden." Er wurde wieder sehr ernst.
"Damit es nie wieder Krieg gibt. Deshalb."
"Hm.
Und da können dich die anderen nicht leiden?"
Nun
lachte der Pappi. "Auf den Tod nicht! Die würden mich am
liebsten aufhängen! Und deinem Ingo kannst du sagen, wenn er noch
mal rote Kommunistensau zu dir sagt, kriegt er es mit mir zu tun."
"Ich
sag es dir, wenn er es wieder sagt. Pappi!" Und Jo gab dem Pappi
endlich den Kuss, auf den er so lange hatte warten müssen.
*
Die
Woche verging schnell. Ein paarmal geschlafen – schon war der
Koffer gepackt, und Jo verreiste, an den Üdersee, zu den Großen ins
FDJ-Zeltlager – die zweite große Reise in ihrem Leben.
Pappi
brachte sie zum Ostbahnhof. Ein paar LKWs standen bereit. FDJler in
blauen Blusen hockten auf ihren Rucksäcken und Koffern, sie sangen.
Andere fassten sich an die Hände und gingen in die Hocke.
"Laurenzia, liebe Laurenzia mein …", sangen sie dabei.
Plötzlich ein Pfiff. "Auf die LKWs! Los geht's! Beeilung!"
Alles stürzte zu den LKWs. Pappi hob Jo hoch. Ein FDJler nahm sie in
Empfang. "Was willst denn du Würmchen? Doch nicht etwa
mitkommen?" Jo war beleidigt, sie streckte die Zunge heraus.
Eine
FDJlerin fragte, wie alt sie sei. "Schon sieben!" Die
FDJlerin lachte. "Na, dann bist du ja groß genug, deinen Koffer
selbst zu tragen."
Der
FDJler mischte sich ein: "Ich nehm deinen Koffer. Aber die
Zunge, die nimmst du zurück, ich kann sonst sehr ungemütlich
werden. Ich bin hier schließlich Org.-Leiter."
Die
LKWs fuhren einer nach dem anderen los. "Jo, Jo!", Pappi
rannte neben den LKW her. "Schreib uns, ein paar Ansichtskarten!
Und bade, soviel du kannst!"
Jo
sah ihn winken und schrie etwas zurück. Dann bog der LKW um die
Ecke.
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