Sonntag, 31. Mai 2015

61 Lügen über Stalin




Die 61 Lügen Chruschtschows über Stalin


Interview mit dem amerikanischen Historiker Prof. Dr. Grover Furr über sein Buch „Die stalinfeindliche Fälschung“


Eine der ungewöhnlichsten Neuheiten der letzten Zeit ist das Buch des amerikanischen Historikers, des Professors der staatlichen Universität Montclerc Grover Furr „Die stalinfeindliche Fälschung“ („Algorithmus“ Verlag, 2007), der bis ins Detail mit der berüchtigten Rede von N.S. Chruschtschow auf dem ХХ. Parteitag der KPdSU befasst hat. In kürzester Zeit konnten sich Tausende Leser mit dem Buch bekanntmachen, es ist in einigen Buchhandlungen in die Kategorie der Bestseller avanciert, es wurde in kritischen Rezensionen beschimpft und verleumdet, und es wurde nun sogar schon zu einer bibliographischen Rarität…
Deshalb schien es uns interessant, uns an Professor Furr zu wenden, um den Autor besser kennenzulernen, und um aus erster Hand seine Meinung kennenzulernen.
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Herr Professor, sagen Sie, warum haben Sie, der Sie ein Absolvent von Princeton sind, und dessen Dissertation zum Dr. phil. dem französischen Mittelalter gewidmet ist, sich für die sowjetische Geschichte, die Epoche Stalins interessiert?

Meine hauptsächliche Spezialisierung war das Mittelalter. Es gibt nicht irgendein besonderes Zertifikat, das einem das Recht auf das Studium der Geschichte UdSSR unter Stalin einräumt. Dafür konnte ich mir aber dank des Mittelalters professionelle Fertigkeiten in historischen Forschungen aneignen: wie zum Beispiel, nicht englischsprachige Primärquellen zu lesen und zu untersuchen, und mich niemals auf „allgemeingültige“ Ansichten zu verlassen, nicht auf Meinungen „anerkannter Autoritäten“ zu vertrauen, wenn ich von etwas nicht überzeugt war.

Als Aspirant nahm ich 1965-1969 an den Protestaktionen gegen den Vietnam-Krieg der USA teil. Und einmal sagte jemand zu mir: die vietnamesischen Kommunisten und alle diese „Stalinisten“ können einfach keine „guten Kerle“ sein – „Stalin hat Millionen unschuldiger Menschen“ umgebracht. Diese Bemerkung habe ich mir eingeprägt. Wahrscheinlich habe ich mir deshalb Anfang 1970 die Erstausgabe des „Großen Terrors“ von R. Conquest besorgt. Und ich war erschüttert von dem Gelesenen!

Man muss sagen, dass ich schon zu jenen Zeiten auf Russisch las, da ich schon in der Schule begonnen hatte, diese Sprache zu studieren. Und so habe ich das Buch von Conquest auf sorgfältigste Weise studiert. Bis jetzt hatte wahrscheinlich niemand etwas Derartiges mit dem Buch dieses ehrwürdigen Sowjetologen gemacht. Mir wurde hier klar, dass die historischen Belege über den „Großen Terror“ vom Autor auf betrügerischste Weise verwendet worden waren. Die getroffenen

Schlussfolgerungen entsprechen einfach nicht dem, was Conquest hier als Beweise in den Verweisen des Buches anbringt. Nun, und alle seine Quellen wurden, unabhängig von ihrer Zuverlässigkeit, je nach dem Grad ihrer Feindschaft gegenüber Stalin ausgewählt.
Daraus wurde bei mir schließlich die Idee einer eigenen Erforschung dieses Themas des sogenannten „Terrors“ geboren. Für die Arbeit ist ziemlich viel Zeit draufgegangen. Der erste Artikel „Alte Geschichten über den Marschall Tuchatschewski im neuen Licht“ erschien im Jahre 1988 … Nach einiger Zeit sah ich, dass dies mit neueren historischen Forschungen übereinstimmte, und ich widmete mich dann dem Studium der Werke auch solcher Wissenschaftler, wie John Ach Getty[1], Robert W. Thurston[2] , Robert J. Manning[3], Sheila Fitzpatrick[4], Jerry F. Hough[5], Lewis H. Siegelbaum[6]  und Lynne Viola[7].

Ich denke, diese Namen sagen dem russischen Leser kaum etwas. Es ist schwer, sich vorzustellen, dass nach Conquest die Vertreter irgendwelcher neuer westlicher „Schulen“ fähig sind, ein anderes Verständnis für die Geschichte der Sowjetunion aufzubringen.

Ganz im Gegenteil. Die Schulen, über die ich sprach, sind als eine Antithese zu Conquest und zu den Konzeptionen der totalitären, sowjetologischen Zeiten des „kalten Krieges” entstanden. Es wurden alle vorhandenen Belege durchstudiert und, was noch wichtiger sind, man bemühte sich, Objektivität zu bewahren. Die Wissenschaftler der neuen Schule haben gezeigt, dass die trotzkistischen, chruschtschowistischen und Gorbatschow-Jelzinschen Interpretationen der sowjetischen Vergangenheit in keiner Weise stichhaltig sind. Die Letzteren haben es sogar fertiggebracht, sich durch ihre politische Voreingenommenheit zu kompromittieren, so dass ihre Äußerungen schneller als Propaganda – als ein Umschreiben der Geschichte – erkannt wurden.

In der wissenschaftlichen Welt wurde das Buch „Quellen der großen Säuberung“ [8]von einem der Begründer der neuen Schule, J.A. Getty, zu einer echten Sensation, weil es dem Wissenschaftler gelang, eine Menge schwülstiger Mythen zu widerlegen, unter anderem die Vorstellung über die Repressalien der 1930er Jahre als einer Aktion, die von Stalin im Voraus geplant worden sei. Das ganze „Unglück“ dieses Wissenschaftlers bestand nun darin, dass in den USA sein Werk in den Jahren der „Perestrojka“ veröffentlicht wurde, als unter dem „Schutz der Öffentlichkeit“ in der UdSSR nur die Literatur seiner Gegner in Massenauflagen verlegt wurde. Woher sollten auch den russischen Lesern die Pionierarbeiten Gettys bekannt werden, wenn in Russland bis heute keines seiner Bücher über die sowjetische Geschichte herausgebracht wurde?

So verhält sich die Sache mit der Mehrzahl der von mir genannten Historiker. Aber es gibt zum Glück auch Beispiele anderer Art: vor einigen Monaten wurde in einer ukrainischen Internet-Zeitschrift die hervorragende Arbeit von Professor M. Tauger[9]von der Universität West Virginia veröffentlicht, die Stück für Stück den nazistischen Mythos über einen von den Behörden inspirierten „Golodomor“ 1932-1933 widerlegt.

Und wie und warum ist bei Ihnen das Interesse für die Rede Chruschtschows auf dem ХХ. Parteitag entstanden?

Die „geschlossene“ – oder wie wir im Westen sagen: die „geheime“ – Rede Chruschtschows ist ohne Übertreibung eine der einflussreichsten Reden des 20. Jahrhunderts. Wie soll man auch die Rede unter einem positiven oder negativen Vorzeichen bewerten, wo sie doch den Verlauf der Geschichte der UdSSR und Russlands so radikal verändert hat. Es ist nicht unwesentlich, dass diese Rede eines der Fundamente der politischen Konzeption des „Antistalinismus“ und eine ihrer grundlegenden Quelle wurde, was man bedingt als „Paradigma des ХХ. Parteitages“ bezeichnen kann. Mit einem Wort, niemand der sich für die Vergangenheit der Sowjetunion interessiert, kann an einem so wichtigen Dokument vorbeigehen.

Dieses Thema wurde ja oft bearbeitet. Womit lässt sich Ihrer Meinung nach das Interesse für „stalinfeindliche Fälschungen“ erklären?

Schwer zu sagen. Mögen die Leser darüber zu urteilen … Ich spreche mal darüber, was mich als Forscher verwundert hat. Als ich über diese Arbeit nachdachte, erschien es mir wünschenswert, die „entlarvenden“ Thesen des „geschlossenen“ Vortrags den historischen Zeugnissen gegenüberzustellen, die dank der Öffnung der Dokumente aus den ehemaligen sowjetischen Archiven bekannt wurden. Eine solche Forschung hätte auch ein russischer, oder sagen wir, ein chinesischer Historiker machen können, da den Wissenschaftlern in den letzten 10-15 Jahren eine Menge neuer Quellen zur Verfügung standen, die es ermöglichten, eine objektive Einschätzung dieser oder jener Thesen der Chruschtschowschen Behauptungen zu geben. Hier begann sich ein ziemlich interessantes Bild abzuzeichnen: es zeigte sich, dass – nach eingehender Prüfung – von all den „beschuldigenden“ Behauptungen der Rede, keine einzige wahr war. Nicht eine einzige!

Die Unwahrheit war natürlich auch schon früher bekannt. So haben zum Beispiel im Verlaufe der Klausurtagung einige der Delegierten des Parteitages bemerkt, dass eine Reihe der Chruschtschowschen „Entlarvungen“ (wie z.B. die absurde Behauptung, dass Stalin „militärische Operationen“ angeblich am Globus geplant hätte) – gelinde gesagt – fern von aller Wahrheit waren. Doch die ganze Rede strotzte nur so von derartigen „Entlarvungen“ … Darüber hätte man sich schon wundern müssen.

Übertreiben Sie da nicht? Die Rede bestand doch durchweg ausUnwahrheiten, die sehr schwierig nachzuprüfen waren. Sie verteidigen Stalin und setzen doch damit Chruschtschow und seine epochale Rede einfach herab.

Ich muss Sie enttäuschen. Ich „verteidige“ weder Stalin, noch irgendjemanden anderes. Als Forscher und Wissenschaftler habe ich mit Tatsachen und Beweisen zu tun. Wenn ein Forschungsgegenstand wie die Rede Chruschtschows, sagen wir, vom Kosmos, vom Mais oder vom Programm der KPdSU gehandelt hätte, dann hätte ich ebenso die Quellen studiert, die zu dem entsprechenden Sachgebiet gehören. Aber hier ging es darum, dass eine Rede, welche die Verbrechen Stalins und Berijas aufdeckt, zum Thema meiner Forschung wurde.

Mir gelang es, 61 „beschuldigende“ Behauptungen herauszufinden. Ich habe jede von ihnen anhand der historischen Beweise untersucht, bis im Ergebnis klar wurde, dass Chruschtschow in der „geschlossenen“ Rede über Stalin und Berija absolut nichts gesagt hatte, was der Wahrheit entspricht. Wobei die „Verteidigung“ Stalins hier darin besteht, dass die Beweislast die beschuldigende Seite trägt. Und alle „entlarvenden“ Behauptungen der „geschlossenen“ Rede sind als Beweise untauglich.

Und nun etwas zum „Glauben“ daran. Kein ernstzunehmender Forscher ist berechtigt, etwas für wahr zu halten, was Überzeugungen entspricht oder infolge von Präferenzen entstanden ist. Es mag jemandem gefallen oder nicht, aber angesichts der wissenschaftlichen-historischen Beweise über die „stalinfeindlichen Fälschungen“ ist es unmöglich, die Geschichte der Sowjetunion weiterhin durch den Zerrspiegel der „geschlossenen“ Rede zu betrachten.

Ist denn nicht der Titel „Stalinfeindliche Fälschungen“ eine allzu übertriebene Bezeichnung für eine Forschungsarbeit?

Das Buch ist in der Anlage mit einem bibliographischen Verzeichnis, einem Namenregister, sowie Hinweisen und Dokumenten versehen – mit einem Wort, ich bin über die Anforderungen hinausgegangen, die an eine solide akademische Arbeit gestellt werden. Es gab auch eine hohe Auflage. Was will man als Autor mehr?

Natürlich war der Arbeitstitel während der Arbeit am Manuskript ein anderer. Es war auch ein origineller Titel, der das Wesen der gemachten Forschung widerspiegelte, aber wegen der Länge, meine ich, oder aus irgendwelchen anderen Gründen habe ich ihn nicht verwendet. Der Verlag hat mir einen anderen Titel vorgeschlagen. Auch das ist normal. Schließlich haben doch gerade der Verlag, der Redakteur, der Grafiker, die Korrektoren sich bemüht und sind berechtigt, einen kommerziellen Erfolg zu erwarten.

Doch trotzdem ist am Ende nicht klar: einerseits wurde die Rede Chruschtschows, wie Sie schreiben, aus  Lügen zusammengestellt, und andererseits hat sich in der Führungsspitze der UdSSR niemand gefunden, der die Falschheit der „Entlarvungen“ aufgedeckt hätte.

Darüber hinaus wurde von allem Chruschtschow gegenüber einheitlich und stillschweigend volle Unterstützung zugesagt. Und gerade stoßen wir hier auf eine der spannendsten Fragen. Trotz der weitverbreiteten Vorstellung, war nicht Stalin die Hauptzielscheibe der „geschlossenen“ Rede, sondern der politische Kurs und eine bestimmte Tendenz, die sich mit seinem Namen verbanden. Der russische Historiker Juri Shukow erklärte das so: Das Ziel Chruschtschows bestand gerade darin, mit den demokratischen Reformen, die noch zu Lebzeiten Stalins begonnen worden waren, aber nicht beendet wurden, Schluss zu machen.

Heute sind für viele (und man muss sagen, nicht ohne Einfluss der Chruschtschowschen Rede) die Begriffe „Stalin“ und „Demokratie“ in der Vorstellung gegensätzliche Begriffe, zwei unvereinbare Extreme, die zwei gegensätzliche Pole kennzeichnen. Aber eine solche Meinung ist falsch. Stalin teilte die Leninschen Ansichten über eine repräsentative Demokratie und war bestrebt, deren Prinzipien im Staatsapparat der UdSSR zu verwirklichen. Gerade Stalin stand an der Spitze des Kampfes für die Demokratisierung der sowjetischen Gesellschaft, eines Kampfes, der sich in den Jahren 1930 bis 1950 in der UdSSR im Herzen der politischen Prozesse abspielte. Ihr Wesen wurde darauf zurückgeführt, dass damit die Rolle der kommunistischen Partei bei der Verwaltung des Staates (wie auch in anderen Ländern) bis hin zu „normalen“ Grenzen eingeschränkt worden wäre, und die Aufstellung der Staatslenker nicht nach deren Parteimitgliedschaft zu geschehen hat, sondern aufgrund demokratischer Prozeduren.
Nicht nur Chruschtschow, sondern offenbar auch andere sowjetische Führer waren mit dem Kurs solcher Reformen nicht einverstanden. Jedenfalls waren Malenkow, Molotow und Kaganowitsch – die bedeutendsten, mit Stalin verbundenen politischen Figuren, wenn auch ungern, doch im geheimen, mit dem unausgesprochenen Sinn der „geschlossenen“ Rede einverstanden und haben ihm zugestimmt. An die Macht kommen, und mit der Ideen einer solchen explosiven „geschlossenen“ Rede zu übertölpeln, konnte Chruschtschow nur, weil er die sowjetische Parteielite auf seine Seite brachte.

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um den Historikern Juri Shukow (Russland) und John A. Getty (die USA) meine Dankbarkeit auszusprechen, deren Arbeiten mich für die Arbeit an der „geschlossenen“ Rede begeistert haben, und die die zu Chruschtschows Zeiten noch tief versteckte Tatsache der Zuneigung Stalins gegenüber den demokratischen Prinzipien erneut aufgedeckt haben.

Das Gespräch führte S. Charzisow

Von der Redaktion:

Wir sind seit langem mit den Arbeiten Furrs bekannt – sie enthalten aber auch für den russischen Leser, der von Anfang an mit dem Thema bekannt ist, enthalten sie einiges Neue. Der enorme Wert dieser Arbeit besteht darin, dass diese westliche Forschung von unabhängigen Fachleuten durchgeführt wurde. Von Anfang an hatte das Solidaritätskomitee mit dem Sowjetischen Volk für seine Arbeiten geworben – den Arbeiten eines amerikanischen Historikers wird oft mehr geglaubt als den russischen Quellen.

In Wirklichkeit versteht man im Westen sehr gut, dass die angebliche „Stalinschen Massenmorde“ u.a.m. – nichts  anderes sind als ein frecher Betrug, der nicht einmal einfachsten wissenschaftlichen Anforderungen standhält. Furr war weder jemals Kommunist, noch ein besonderer Anhänger der UdSSR, doch immer war er ein einfacher und ehrlicher Wissenschaftler. Wir werden künftig  beachten, dass es im Westen eine Schule gibt, deren Vertreter Furr bereits aufzählte. Sie übernehmen es, sich mit den gegnerischen Stalinfeinden auseinanderzusetzen – nicht etwa, weil sie Propagandisten unter der Maske von Wissenschaftlern sind, sondern ausschließlich sie Wissenschaftler sind. Gerade deshalb werden sie heute auf eine beliebte „demokratische Weise“ behandelt – ihre Informationen werden völlig verschwiegen. Was wurde über sie bekannt? Die Informationen über sie werden praktisch vollständig blockiert und den breiten Massen in Wirklichkeit vorenthalten. Während die Lügen ihrer Gegner auf größtmögliche Weise verbreitet werden.

Die endlosen Hinweise auf die Rede Chruschtschows sind schon nicht mehr lustig – Furr hat wieder einmal gezeigt, dass die Anschuldigungen Chruschtschows zu 100 % Verleumdungen sind. Es ist übrigens im Westen nicht leicht, die Arbeiten Furrs zu finden. Versuchen Sie beispielsweise einmal, das von ihm erwähnte Buch im Internet zu kaufen – es wird von keiner westlichen Handelskette übernommen. Die vorhandene Zensur im Westen hindert ihn, seine Ansichten frei und demokratisch zu äußern. Und deshalb ist es unmöglich, offiziell unerwünschte Standpunkte kennenzulernen.

Versuchen Sie beispielsweise einmal, den 20teiligen Dokumentarfilm „Der unbekannte Krieg“ von Burt Lancaster (der in Russland als „Der Große Vaterländische Krieg“ bekannt ist) zu finden, so ist das in der Regel tatsächlich unmöglich, da sogar Informationen über die Existenz eines solchen Filmes entfernt wurden.


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