Donnerstag, 31. August 2017

Buchtipp: Öcalan: Zivilisation und Wahrheit

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Abdullah Öcalan: Zivilisation und Wahrheit. Maskierte Götter und verhüllte Könige. Manifest der demokratischen Zivilisation, Band 1

Öcalans Visionen

Buchtipp von Harry Popow

Die neue Parole sollte nicht „Sozialismus statt Kapitalismus“ lauten, sondern „Freies Leben statt Kapitalismus“. Diesen Satz schrieb Abdullah Öcalan in seinem Buch „Zivilisation und Wahrheit. Maskierte Götter und verhüllte Könige“ auf Seite 292.

Eine bemerkenswerte Äußerung. Einerseits mag sie jene schockieren und ungläubig den Kopf schütteln lassen, die fest auf dem Boden von bisher erkannten gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten stehen, andererseits dürfte sie bei Leichtgläubigen neue Illusionen wecken. In beiden Fällen taucht die Frage auf, was der Autor unter „freies Leben“ versteht. Gibt er darauf eine Antwort? Dem nachzugehen lohnt sich, denn Öcalan ist nicht irgendwer.

Abdullah Öcalan (auch Apo genannt; geboren am 4. April 1949 in Ömerli, Şanlıurfa, Türkei) ist Gründer und langjähriger Vorsitzender der PKK. 1999 wurde er aus Kenia verschleppt und in der Türkei zum Tode verurteilt. Seither sitzt er in Isolationshaft, in der er mehr als zehn Bücher verfasste. Er gilt als führender Stratege und einer der wichtigsten politischen Repräsentanten des kurdischen Volkes. Die Türkei führte sogar zwischen 2013 und 2015 mit ihm Gespräche über eine Lösung der kurdischen Frage. Seit die Regierung diese abgebrochen hat, ist die Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer völlig von der Außenwelt abgeschnitten.



Auf Seite 196 betont er, dass er ebenso wenig wie die besten Philosophen und Historiker sich nicht anmaßen kann, die Fähigkeit zu besitzen, das Thema Zivilisation und soziologisches Wissen auf eine stabile Grundlage zu stellen. Doch die Fähigkeit zur Interpretation sollte man aus Respekt vor dem freien Leben erwerben, sagt er.

Er begründet seine politische Haltung mit der Wut gegen das Unvermögen, eine ideologische Borniertheit zu überwinden. Es handele sich um ein System, das angeblich die Menschenrechte über alles stellt. Und in Bezug auf seine Verhaftung stellt der Autor klar, dass er in seiner Verteidigung einen Beitrag zum politischen Prozess leisten wollte, eine politische Botschaft zu bringen habe. (S. 27)

Der Inhalt des Buches besteht aus drei Kapitel: Methode und Wahrheitsregime, Quellen der Zivilisation, Urbane zivilisierte Gesellschaft. Im ersten Teil stellt Öcalan sein Verständnis von der Wissenschaft dar und die dazu angewandten Methoden. Sodann stellt er die Frage, was Wahrheit ist und ob und wie man sie erlangen kann. Der Autor kritisiert die Unterscheidung von „Objektivität“ und „Subjektivität“. Im zweiten Kapitel widmet er sich der Geschichte der Entstehung von Zivilisationen. Ein längerer Text verdeutlicht die Entwicklung der Menschheit von den Sumerern und den Zikkurat (Tempeltürme in Mesopotamien) bis zur Entwicklung des Islam. Hierbei geht es ihm um die Quellen der Zivilisation, die schätzungsweise vor sieben Millionen Jahren mit der Abspaltung des Menschen von derjenigen der Primaten und dem Beginn der landwirtschaftlichen Revolution begann. (S. 100) Doch in diesem Buchtipp wollen wir uns vor allem auf die Suche nach der Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach dem sogenannten „Freien Leben“ begeben.



Das Krebsgeschwür


Den Kapitalismus definiert Öcalan als EINE Zivilisation, setzt den Kapitalismus und die Zivilisation aber keineswegs gleich. Er sieht den Kapitalismus als EINE Zivilisation, nicht als die Zivilisation schlechthin. Aber was unterscheide sie von vorherigen und was sind seine eigenen Beiträge? So lautet denn die Hauptthese seiner Verteidigungsschrift: Das System der staatlichen Zivilisation – Klasse, Stadt und Staat -, entwickelt sich bis zur jüngsten Ära des Finanzkapitals und beruht „überwiegend auf Ausbeutung und Repression gegen die landwirtschaftliche und dörfliche Gesellschaft.“ Diesem System der Repression und Ausbeutung stellt der Autor die demokratische Zivilisation gegenüber, die auf den „zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten der fünftausendjährigen staatlichen Zivilisation“ beruhen. Der Hauptwiderspruch sei nicht nur der Klassenwiderspruch, sondern der zwischen der staatlichen und der nichtstaatlichen demokratischen Zivilisation. (S. 297)

Wenn der Rezensent dies richtig interpretiert, versteht der Autor die Weiterentwicklung der Menschheit als einen Rückzug nicht nur vom Kapitalismus, sondern auch von seinen Auswüchsen samt Staat, Nationalstaat und sämtlichen Hegemonialbestrebungen, siehe USA. Er schreibt, darauf kommen wir noch zurück, von einem demokratischen Konföderalismus, angewendet vor allem auf den Mittleren Osten und auf Kurdistan. Wir werden sehen, dass das von ihm proklamierte Ziel von einem „freien Leben“ möglicherweise identisch ist mit diesem Konföderalismus.

Symptome vom Heute

Zu Felde zieht Öcalan, was Wunder, vor allem gegen die kapitalistische Moderne, die er als jüngsten Abschnitt der staatlichen Zivilisation betrachtet. So charakterisiert er deren wahres Gesicht auf Seite 260 als „voll von unnatürlichen gesellschaftlichen Krankheiten und Verzerrungen wie Gewalt, Lüge, Betrug Rohheit, Intrigen, Krieg Gefangenschaft, Vernichtung, Knechtschaft, Treulosigkeit, Raub, Plünderung, Gewissenlosigkeit, Missachtung des Rechts, Anbeten von Stärke, Verzerrung und Missbrauch des Prinzips von Heiligkeit und Göttlichkeit für die Interessen einer Minderheit, Vergewaltigung, Sexismus, Überfluss an Besitz für die einen, Hungertod und Elend für die anderen.“ Durch die Macht der Propaganda müsse sie ihr wahres Gesicht verbergen. Zum Kern der Ursachen stößt der Autor, wenn er auf „die Art und Weise der Verfügung über das wachsende Mehrprodukt sowie Raub von und Privatbesitz an Produktionsmitteln, vor allem Grund und Boden“ verweist. Um dieses Eigentum zu schützen „und die Gesamtheit des Mehrprodukts an die Eigentümer zu verteilen“, dazu sei der Staat da, Staat bedeute „organisiertes Eigentum und Besitz an Mehrprodukt und Mehrwert“. Dazu brauche es Dogmen wie Heiligkeit, Gottes Wort und Unantastbarkeit. Und es stößt an seine Grenzen, siehe das Aufbrauchen von Ressourcen, Umweltzerstörung, nukleare Arsenale, die die ganze Welt vernichten können. Hinzu kommen soziale Verwerfungen, eine zerfallende Moral. (S. 51) Öcalan nennt dies alles - einbezogen die ökologische Zerstörung, Arbeitslosigkeit, Lohndumping sowie die von der Produktion losgelösten Teile des Kapitals, die Finanzindustrie – eine strukturelle Krise. (S. 96)

Öcalans Fragen zur Sozialismusidee

Bereits im Vorwort zitiert David Graeber Abdullah Öcalans Standpunkt folgendermaßen: „Ich muss voll Wut und Schmerz feststellen: Es war ein großes Unglück, dass der mehr als 150-jährige edle Kampf für den wissenschaftlichen Sozialismus mit einem vulgärmaterialistischen Positivismus geführt wurde, der ihn von vornherein zum Scheitern verurteilte.“ Leider seien es nicht die Klasse der Arbeiter gewesen, die Widerstand geleistet hätten gegen die Versklavung, sondern die kleinbürgerliche Klasse, „die schon längst vor der kapitalistischen moderne Moderne kapituliert hatte und von ihr absorbiert worden war“. „Der Positivismus ist gerade die Ideologie ihres blinden Starrens auf den Kapitalismus und ihrer oberflächlichen Reaktionen gegen ihn.“ (S. 11)

Und auf Seite 53 meint der Autor, einer der größten Fehler der marxistischen Methode war, „den gesellschaftlichen Aufbau von den Proletariern zu erwarten, die tagtäglicher Repression und Ausbeutung ausgesetzt waren“. (Somit die Verneinung der historischen Mission der Arbeiterklasse. H.P.) „Der wissenschaftliche Sozialismus hat den metaphysischen und historischen Charakter der Gesellschaft viel zu sehr vereinfacht, das Phänomen der Macht auf ein Regierungskomitee reduziert und der Analyse der politischen Ökonomie eine magische Rolle zugemessen“, so Öcalan auf Seite 89. Er zweifele nicht an den guten Absichten der Erbauer des Realsozialismus, aber wie komme es, dass „sie vor dem Kapitalismus, gegen den sie so lange gekämpft haben, freiwillig kapitulierten? Ich halte die Art und Weise, wie sie an die Macht kamen und wie sie die Macht gebrauchten, für die wesentlichen Gründe dieser historischen Tragödie“. (S. 180) Weiter beschäftigt sich der Autor mit den Begriffen Ware, Wert der Arbeit, Tauschwert, Zins, Profit, Rente. Er interpretiere die Ware anders als Karl Marx. So meint er auf Seite 194: „Wenn wir den Zerfall der heutigen Gesellschaft betrachten, in der es beinahe keinen Wert mehr gibt, der nicht warenförmig ist,“ so bedeute dies, auf das Menschsein zu verzichten, dies wäre mehr als Barbarei. Seite 195: „Es kann sinnvoll sein, andere Maßstäbe für den Tausch zu finden oder neue Formen von Geschenken zu entwickeln.“


Lösungswege oder…?

Freies Leben? Wenn es darauf auch keine klaren Definitionen geben kann, so sollten interessierte Leser zunächst jene Ansätze des Autors unter die Lupe nehmen, die zu mindestens neue Wege – abseits vom marktgetriebenen Kapitalismus – aufzeigen, über die es sich lohnt, Gedanken zu machen, zu diskutieren. Auf Seite 26 betont der Autor, niemand habe den Kapitalismus umfassender analysiert als Marx, nur wenige haben so konzentriert wie Lenin über Staat und Revolution nachgedacht. Trotzdem solle man sich mehr mit den Utopien der Freiheit befassen, mit dem Individuum und der Gesellschaft. Im Zeitalter des höchst entwickelten globalen Kapitals müsse man sich auf die Suche nach globaler Demokratisierung machen. Zu fragen ist, wie wir am besten zum Sinn des Lebens gelangen. (S.32/33)

Auf den Seiten 94 bis 99 notiert der Autor in Stichworten seiner Meinung nach Chancen, „eine eigene Methode und einen eigenen Wissensstil im Sinne eines libertären und demokratischen Aufbruchs zu entwickeln, für den wir uns in dieser chaotischen Phase der Moderne entscheiden müssen“. So beschwört er u.a., nie eine Metaphysik des Guten, Schönen, Freien und Wahren außer Acht zu lassen, den Diskurs der demokratischen Politik in den Mittelpunkt zu stellen, Tausende zivilgesellschaftliche Organisationen zu gründen mit Blick auf Funktion, Nutzen und Notwendigkeit. Auch könne die demokratische Nation getrennt vom Staat, neben ihm oder auch in ihm existieren. Die politischen Leitungsformen der demokratischen Nation könnten auf der Grundlage eines lokalen, nationalen, regionalen und globalen Konföderalismus gestaltet werden. Demokratischer Konföderalismus, Basisdemokratie.

Ausgangspunkt für die politische Neuausrichtung war das Scheitern
des Realsozialismus und der nationalen Freiheitsbewegungen in Bezug
auf das Ziel, eine befreite Gesellschaft zu schaffen. Vor diesem Hintergrund beschreibt Abdullah Öcalan, der mit seinem Entwurf zum Demokratischen Konföderalismus die Neuausrichtung der Kurdischen Bewegung maßgeblich mitgestaltete, das Modell einer „demokratischen, ökologischen, geschlechterbefreiten Gesellschaft“ als Alternative zur Revolution, die auf Umsturz und Machtübernahme abzielt. Es geht um eine Abkehr von der Errichtung eines sozialistischen Nationalstaates hin zu einer Gesellschaft, in der ein Zusammenleben jenseits von Verwertbarkeitsdenken, Patriarchat und Rassismus möglich gemacht werden soll – einer „ethischen und politischen Gesellschaft“ mit einer basisdemokratisch selbstverwalteten Struktur, die sich zur entmündigten, homogenisierten Konsumgesellschaft des Kapitalismus abgrenzt. Der Prozess hin zu einer freien Gesellschaft soll von den gesellschaftlichen Gruppen und Individuen selbst gestaltet werden. Abzulehnen sei der Nationalstaat als ein Konstrukt bürgerlicher Macht im Kontext kapitalistischer Entwicklung. (Siehe
http://www.kritisches-netzwerk.de/sites/default/files/abdullah_oecalan_-_demokratischer_konfoederalismus_10.pdf )
Öcalan mahnt, eine Gesellschaft, die den Erfordernissen von Ökologie und Umwelt gerecht werden will, müsse die grundlegenden Kriterien, die Zivilisation ausmachen – Klasse, Stadt und Staat – überwinden: sie müsse von einem Ausgleich und einer Harmonie zwischen der materiellen und ideologischen Kultur der neuen Gesellschaft ausgehen. „Ich rede hier nicht von einer plumpen Vernichtung“, so Öcalan auf Seite 264.

Belesene Leser, Kenner der marxistischen Theorie werden sich spätestens an dieser Stelle der wissenschaftlich begründeten Feststellungen von Marx und Engels erinnern, die davon schrieben, dass sich der Staat im Verlaufe der gesellschaftlichen Entwicklung überflüssig machen werde, er werde schlechthin absterben. Insofern waren die Klassiker des Marxismus/Leninismus heutigen Erkenntnissen immer noch meilenweit voraus in ihrem Denken. Es kommt nur darauf an, sie auch in der Praxis des täglichen Lebens schöpferisch umzusetzen, wofür sehr viel Denkarbeit und Widerstand gegenüber Dogmatikern und angepassten Kleingeistern von Nöten wäre.

In diesem Sinne ist das Buch von Abdullah Öcalan eine Fundgrube, nicht nur für gesellschaftskritische Betrachtungen, sondern ebenso für Wissbegierige, die tiefer in die Geschichte der Zivilisationen, deren Ursprünge und Machtentwicklungen einsteigen möchten. Dazu gibt die Lektüre ein Konglomerat an Fakten und bereicherndem Geschichtswissen, auf die in diesem Buchtipp nicht näher eingegangen werden konnte. Alles in Allem: Es bleibt dabei: Zunächst Sozialismus statt Kapitalismus.



Abdullah Öcalan: Zivilisation und Wahrheit. Maskierte Götter und verhüllte Könige, Taschenbuch: 320 Seiten, Verlag: Mezopotamien Verlag; Auflage: 1 (17. März 2017), Sprache: Deutsch, ISBN-10: 3945326494, ISBN-13: 978-3945326497

(Siehe auch http://www.kritisches-netzwerk.de/forum/oecalans-visionen-buchtipp-zu-abdullah-oecalans-zivilisation-und-wahrheit) 





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