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Abdullah
Öcalan: Zivilisation und Wahrheit. Maskierte Götter und verhüllte
Könige. Manifest der demokratischen Zivilisation, Band 1
Öcalans
Visionen
Buchtipp
von Harry Popow
Die
neue Parole sollte nicht „Sozialismus statt Kapitalismus“ lauten,
sondern „Freies Leben statt Kapitalismus“. Diesen Satz schrieb
Abdullah Öcalan in seinem Buch „Zivilisation und Wahrheit.
Maskierte Götter und verhüllte Könige“ auf Seite 292.
Eine
bemerkenswerte Äußerung. Einerseits mag sie jene schockieren und
ungläubig den Kopf schütteln lassen, die fest auf dem Boden von
bisher erkannten gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten stehen,
andererseits dürfte sie bei Leichtgläubigen neue Illusionen wecken.
In beiden Fällen taucht die Frage auf, was der Autor unter „freies
Leben“ versteht. Gibt er darauf eine Antwort? Dem nachzugehen lohnt
sich, denn Öcalan ist nicht irgendwer.
Auf Seite 196 betont er, dass er ebenso wenig wie die besten Philosophen und Historiker sich nicht anmaßen kann, die Fähigkeit zu besitzen, das Thema Zivilisation und soziologisches Wissen auf eine stabile Grundlage zu stellen. Doch die Fähigkeit zur Interpretation sollte man aus Respekt vor dem freien Leben erwerben, sagt er.
Er
begründet seine politische Haltung mit der Wut gegen das Unvermögen,
eine ideologische Borniertheit zu überwinden. Es handele sich um ein
System, das angeblich die Menschenrechte über alles stellt. Und in
Bezug auf seine Verhaftung stellt der Autor klar, dass er in seiner
Verteidigung einen Beitrag zum politischen Prozess leisten wollte,
eine politische Botschaft zu bringen habe. (S. 27)
Das
Krebsgeschwür
Den
Kapitalismus definiert Öcalan als EINE Zivilisation, setzt den
Kapitalismus und die Zivilisation aber keineswegs gleich. Er sieht
den Kapitalismus als EINE Zivilisation, nicht als die Zivilisation
schlechthin. Aber was unterscheide sie von vorherigen und was sind
seine eigenen Beiträge? So lautet denn die Hauptthese seiner
Verteidigungsschrift: Das System der staatlichen Zivilisation –
Klasse, Stadt und Staat -, entwickelt sich bis zur jüngsten Ära des
Finanzkapitals und beruht „überwiegend auf Ausbeutung und
Repression gegen die landwirtschaftliche und dörfliche
Gesellschaft.“ Diesem System der Repression und Ausbeutung stellt
der Autor die demokratische Zivilisation gegenüber, die auf den
„zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten der fünftausendjährigen
staatlichen Zivilisation“ beruhen. Der Hauptwiderspruch sei nicht
nur der Klassenwiderspruch, sondern der zwischen der staatlichen und
der nichtstaatlichen demokratischen Zivilisation. (S. 297)
Wenn
der Rezensent dies richtig interpretiert, versteht der Autor die
Weiterentwicklung der Menschheit als einen Rückzug nicht nur vom
Kapitalismus, sondern auch von seinen Auswüchsen samt Staat,
Nationalstaat und sämtlichen Hegemonialbestrebungen, siehe USA. Er
schreibt, darauf kommen wir noch zurück, von einem demokratischen
Konföderalismus, angewendet vor allem auf den Mittleren Osten und
auf Kurdistan. Wir werden sehen, dass das von ihm proklamierte Ziel
von einem „freien Leben“ möglicherweise identisch ist mit diesem
Konföderalismus.
Symptome
vom Heute
Zu
Felde zieht Öcalan, was Wunder, vor allem gegen die kapitalistische
Moderne, die er als jüngsten Abschnitt der staatlichen Zivilisation
betrachtet. So charakterisiert er deren wahres Gesicht auf Seite 260
als „voll von unnatürlichen gesellschaftlichen Krankheiten und
Verzerrungen wie Gewalt, Lüge, Betrug Rohheit, Intrigen, Krieg
Gefangenschaft, Vernichtung, Knechtschaft, Treulosigkeit, Raub,
Plünderung, Gewissenlosigkeit, Missachtung des Rechts, Anbeten von
Stärke, Verzerrung und Missbrauch des Prinzips von Heiligkeit und
Göttlichkeit für die Interessen einer Minderheit, Vergewaltigung,
Sexismus, Überfluss an Besitz für die einen, Hungertod und Elend
für die anderen.“ Durch die Macht der Propaganda müsse sie ihr
wahres Gesicht verbergen. Zum Kern der Ursachen stößt der Autor,
wenn er auf „die Art und Weise der Verfügung über das wachsende
Mehrprodukt sowie Raub von und Privatbesitz an Produktionsmitteln,
vor allem Grund und Boden“ verweist. Um dieses Eigentum zu schützen
„und die Gesamtheit des Mehrprodukts an die Eigentümer zu
verteilen“, dazu sei der Staat da, Staat bedeute „organisiertes
Eigentum und Besitz an Mehrprodukt und Mehrwert“.
Dazu brauche es
Dogmen wie Heiligkeit, Gottes Wort und Unantastbarkeit. Und es stößt
an seine Grenzen, siehe das Aufbrauchen von Ressourcen,
Umweltzerstörung, nukleare Arsenale, die die ganze Welt vernichten
können. Hinzu kommen soziale Verwerfungen, eine zerfallende Moral.
(S. 51) Öcalan nennt dies alles - einbezogen die ökologische
Zerstörung, Arbeitslosigkeit, Lohndumping sowie die von der
Produktion losgelösten Teile des Kapitals, die Finanzindustrie –
eine strukturelle Krise. (S. 96)
Öcalans
Fragen zur Sozialismusidee
Bereits
im Vorwort zitiert
David Graeber Abdullah Öcalans Standpunkt folgendermaßen: „Ich
muss voll Wut und Schmerz feststellen: Es war ein großes Unglück,
dass der mehr als 150-jährige edle Kampf für den wissenschaftlichen
Sozialismus mit einem vulgärmaterialistischen Positivismus geführt
wurde, der ihn von vornherein zum Scheitern verurteilte.“ Leider
seien es nicht die Klasse der Arbeiter gewesen, die Widerstand
geleistet hätten gegen die Versklavung, sondern die kleinbürgerliche
Klasse, „die schon längst vor der kapitalistischen moderne Moderne
kapituliert hatte und von ihr absorbiert worden war“. „Der
Positivismus ist gerade die Ideologie ihres blinden Starrens auf den
Kapitalismus und ihrer oberflächlichen Reaktionen gegen ihn.“ (S.
11)
Und
auf Seite 53 meint der Autor, einer der größten Fehler der
marxistischen Methode war, „den gesellschaftlichen Aufbau von den
Proletariern zu erwarten, die tagtäglicher Repression und Ausbeutung
ausgesetzt waren“. (Somit die Verneinung der historischen Mission
der Arbeiterklasse. H.P.) „Der wissenschaftliche Sozialismus hat
den metaphysischen und historischen Charakter der Gesellschaft viel
zu sehr vereinfacht, das Phänomen der Macht auf ein
Regierungskomitee reduziert und der Analyse der politischen Ökonomie
eine magische Rolle zugemessen“, so Öcalan auf Seite 89. Er
zweifele nicht an den guten Absichten der Erbauer des
Realsozialismus, aber wie komme es, dass „sie vor dem Kapitalismus,
gegen den sie so lange gekämpft haben, freiwillig kapitulierten? Ich
halte die Art und Weise, wie sie an die Macht kamen und wie sie die
Macht gebrauchten, für die wesentlichen Gründe dieser historischen
Tragödie“. (S. 180) Weiter beschäftigt sich der Autor mit den
Begriffen Ware, Wert der Arbeit, Tauschwert, Zins, Profit, Rente. Er
interpretiere die Ware anders als Karl Marx. So meint er auf Seite
194: „Wenn wir den Zerfall der heutigen Gesellschaft betrachten,
in der es beinahe keinen Wert mehr gibt, der nicht warenförmig ist,“
so bedeute dies, auf das Menschsein zu verzichten, dies wäre mehr
als Barbarei. Seite 195: „Es kann sinnvoll sein, andere Maßstäbe
für den Tausch zu finden oder neue Formen von Geschenken zu
entwickeln.“
Lösungswege
oder…?
Freies
Leben? Wenn es darauf auch keine klaren Definitionen geben kann, so
sollten interessierte Leser zunächst jene Ansätze des Autors unter
die Lupe nehmen, die zu mindestens neue Wege – abseits vom
marktgetriebenen Kapitalismus – aufzeigen, über die es sich lohnt,
Gedanken zu machen, zu diskutieren.
Auf Seite 26 betont
der Autor, niemand habe den Kapitalismus umfassender analysiert als
Marx, nur wenige haben so konzentriert wie Lenin über Staat und
Revolution nachgedacht. Trotzdem solle man sich mehr mit den Utopien
der Freiheit befassen, mit dem Individuum und der Gesellschaft. Im
Zeitalter des höchst entwickelten globalen Kapitals müsse man sich
auf die Suche nach globaler Demokratisierung machen. Zu fragen ist,
wie wir am besten zum Sinn des Lebens gelangen. (S.32/33)
Auf
den Seiten 94 bis 99 notiert der Autor in Stichworten seiner Meinung
nach Chancen, „eine eigene Methode und einen eigenen Wissensstil im
Sinne eines libertären und demokratischen Aufbruchs zu entwickeln,
für den wir uns in dieser chaotischen Phase der Moderne entscheiden
müssen“. So beschwört er u.a., nie eine Metaphysik des Guten,
Schönen, Freien und Wahren außer Acht zu lassen, den Diskurs der
demokratischen Politik in den Mittelpunkt zu stellen, Tausende
zivilgesellschaftliche Organisationen zu gründen mit Blick auf
Funktion, Nutzen und Notwendigkeit. Auch könne die demokratische
Nation getrennt vom Staat, neben ihm oder auch in ihm existieren. Die
politischen Leitungsformen der demokratischen Nation könnten auf der
Grundlage eines lokalen, nationalen, regionalen und globalen
Konföderalismus gestaltet werden. Demokratischer Konföderalismus,
Basisdemokratie.
des Realsozialismus und der nationalen Freiheitsbewegungen in Bezug
auf das Ziel, eine befreite Gesellschaft zu schaffen. Vor diesem Hintergrund beschreibt Abdullah Öcalan, der mit seinem Entwurf zum Demokratischen Konföderalismus die Neuausrichtung der Kurdischen Bewegung maßgeblich mitgestaltete, das Modell einer „demokratischen, ökologischen, geschlechterbefreiten Gesellschaft“ als Alternative zur Revolution, die auf Umsturz und Machtübernahme abzielt. Es geht um eine Abkehr von der Errichtung eines sozialistischen Nationalstaates hin zu einer Gesellschaft, in der ein Zusammenleben jenseits von Verwertbarkeitsdenken, Patriarchat und Rassismus möglich gemacht werden soll – einer „ethischen und politischen Gesellschaft“ mit einer basisdemokratisch selbstverwalteten Struktur, die sich zur entmündigten, homogenisierten Konsumgesellschaft des Kapitalismus abgrenzt. Der Prozess hin zu einer freien Gesellschaft soll von den gesellschaftlichen Gruppen und Individuen selbst gestaltet werden. Abzulehnen sei der Nationalstaat als ein Konstrukt bürgerlicher Macht im Kontext kapitalistischer Entwicklung. (Siehe http://www.kritisches-netzwerk.de/sites/default/files/abdullah_oecalan_-_demokratischer_konfoederalismus_10.pdf )
Öcalan
mahnt, eine Gesellschaft, die den Erfordernissen von Ökologie und
Umwelt gerecht werden will, müsse die grundlegenden Kriterien, die
Zivilisation ausmachen – Klasse, Stadt und Staat – überwinden:
sie müsse von einem Ausgleich und einer Harmonie zwischen der
materiellen und ideologischen Kultur der neuen Gesellschaft ausgehen.
„Ich rede hier nicht von einer plumpen Vernichtung“, so Öcalan
auf Seite 264.
Belesene
Leser, Kenner der marxistischen Theorie werden sich spätestens an
dieser Stelle der wissenschaftlich begründeten Feststellungen von
Marx und Engels erinnern, die davon schrieben, dass sich der Staat im
Verlaufe der gesellschaftlichen Entwicklung überflüssig machen
werde, er werde schlechthin absterben. Insofern waren die Klassiker
des Marxismus/Leninismus heutigen Erkenntnissen immer noch meilenweit
voraus in ihrem Denken. Es kommt nur darauf an, sie auch in der
Praxis des täglichen Lebens schöpferisch umzusetzen, wofür sehr
viel Denkarbeit und Widerstand gegenüber Dogmatikern und angepassten
Kleingeistern von Nöten wäre.
In
diesem Sinne ist das Buch von Abdullah Öcalan eine Fundgrube, nicht
nur für gesellschaftskritische Betrachtungen, sondern ebenso für
Wissbegierige, die tiefer in die Geschichte der Zivilisationen, deren
Ursprünge und Machtentwicklungen einsteigen möchten. Dazu gibt die
Lektüre ein Konglomerat an Fakten und bereicherndem
Geschichtswissen, auf die in diesem Buchtipp nicht näher eingegangen
werden konnte. Alles in Allem: Es bleibt dabei: Zunächst Sozialismus
statt Kapitalismus.
(Siehe auch http://www.kritisches-netzwerk.de/forum/oecalans-visionen-buchtipp-zu-abdullah-oecalans-zivilisation-und-wahrheit)
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