Freitag, 1. September 2017

LINKS - was denn sonst!


Die Linke wählen! Aber...

Von ISO

Am 24. September sind wieder mal Bundestagswahlen. Können wir nur wählen, „welche Mörder uns befehlen, welche Diebe uns bestehlen“ (TonSteineScherben)? Wenn Wählen was bringen würde, wäre es verboten? Aber war es nicht schon mal verboten? Was sollten die Kriterien sein, wenn Linke entscheiden, ob und wenn ja wo sie ihr „Kreuzchen“ machen?

Eigentlich am Naheliegendsten: Was steht im Programm einer Partei?

Mitte Juni fand der Wahlprogramm-Parteitag der LINKEN statt. Sicher gab es einige Merkwürdigkeiten zu vermelden. So z. B. den Beschluss, dass die LINKE nun nicht mehr dafür ist, die Konkordatsverträge mit den beiden großen christlichen Kirchen zu kündigen. Das dürfte Menschen, die für die Trennung von Kirche und Staat kämpfen, nicht gerade motivieren, die LINKE zu wählen.

Aber ansonsten stehen in dem über 100 Seiten dicken Wahlprogramm jede Menge gute und richtige Forderungen. Leider bleibt ziemlich im Unklaren, wie und vor allem von wem all die schönen Forderungen durchgesetzt werden sollen. Vielleicht von der sogenannten „Zivilgesellschaft“? Die hat sich im Juli in Gestalt des „Civil-20-Gipfels (C20)“ bei Kanzlerin Merkel eingeschleimt: „Die Bundesregierung hat ein offenes Ohr für die Anliegen der Zivilgesellschaft.“

Aber ansonsten stehen in dem über 100 Seiten dicken Wahlprogramm jede Menge gute und richtige Forderungen.

Oder vielleicht von der guten alten „Arbeiterklasse“? Bei den Stellungnahmen mancher führender LINKEN-Politiker*innen hat man den Eindruck, sowas wie „Klassen“ gibt es gar nicht mehr. Oder reicht es vielleicht, wenn „unsere“ Leute in Parlamenten und Regierungen eine clevere Politik machen…?

Viele neigen dazu, (Wahl-) Programme zu überschätzen. Wer das Wesen einer Partei vor allem aus ihrem Programm erklärt, kann ziemlich schnell ziemlich schief liegen. Das war schon immer so.

Das Gothaer Programm der SAPD (Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands – so hieß die Sozialdemokratie damals) von 1875 war schlecht und dennoch war die Partei von August Bebel damals real eine klassenkämpferische Organisation. Das 16 Jahre später beschlossene Erfurter Programm war besser, „marxistischer“ – und dennoch war die SPD durchaus schon auf dem Weg zum „Burgfrieden“ mit den Herrschenden.

Sagt die soziale Basis der Mitglied-/Wählerschaft einer Partei mehr über sie aus? Klar – „Arbeiterpartei“ ist besser als „Apothekerpartei“. Darf aber auch nicht überbewertet werden. In Frankreich ist momentan der Font National von Marine Le Pen zumindest bei den Wählern die stärkste „Arbeiterpartei“. Und Rüttgers stellte nach seinem Wahlsieg 2005 leider zu Recht fest, seine CDU sei die „neue Arbeiterpartei“ in NRW. Die LINKE in Meck-Pomm hingegen ist bei der letzten Landtagswahl von gerade noch 9 % der Industriearbeiter*innen gewählt worden.

Fast alle Parteioberen fast aller linken Parteien fast aller Zeiten pfeifen auf die Grundsätze ihrer Partei, wenn’s drauf ankommt – nämlich auf Macht, Kohle und Privilegien.

Viele sagen: Programme sind Schall und Rauch – was zählt ist das (Regierungs-) Handeln. Da sieht es besonders düster aus: Fast alle Parteioberen fast aller linken Parteien fast aller Zeiten pfeifen auf die Grundsätze ihrer Partei, wenn’s drauf ankommt – nämlich auf Macht, Kohle und Privilegien.

Ein besonders abstoßendes und niederschmetterndes Beispiel hierfür haben nur eine Woche vor dem Programm-Parteitag der LINKEN deren Vertreter*innen aus Berlin, Brandenburg und Thüringen (wo sie in der Regierung sitzen bzw. den Ministerpräsidenten stellen) im Bundesrat abgeliefert. Dort stimmten sie einer Grundgesetz-Änderung zu, welche die Tür zur Privatisierung (nicht nur) der deutschen Autobahnen weit aufstößt.

Ein Desaster – denn in der Bevölkerung steht die LINKE vor allem für drei Grundsätze: Keinerlei Sozialabbau + keinerlei Privatisierungen + keinerlei deutsche Kriegsbeteiligung. Ein tragender Pfeiler des politischen Profils, ein Alleinstellungsmerkmal der LINKEN wurde damit schwer beschädigt. Besonders fatal: Nur einen Tag vorher hielten LINKE im Bundestag feurige Anti-Privatisierungs-Reden, die LINKE-Fraktion stimmte geschlossen gegen den Entwurf.

Die ISO streitet gemeinsam mit anderen entschieden antikapitalistischen Kräften in der LINKEN dafür, dass Programm und Grundsätze der Partei für alle – also auch für Parlamentarier*innen und Minister*innen – zu gelten haben.

In den Augen der Leute (zumindest derer, die sich überhaupt noch für Politik interessieren) hat sich die LINKE damit blamiert wie alle anderen Parteien im schwarz-rot-grün-gelben Einheitsbrei: Am Sonntag dagegen predigen, am Montag dafür stimmen. Die ISO streitet gemeinsam mit anderen entschieden antikapitalistischen Kräften in der LINKEN dafür, dass Programm und Grundsätze der Partei für alle – also auch für Parlamentarier*innen und Minister*innen – zu gelten haben.

Aber vielleicht ist das alles zu kurzfristig-tagespolitisch gedacht – geht es in Wirklichkeit nicht um den grundsätzlichen Charakter einer Partei?

Die ISO versteht sich als revolutionäre Organisation. Wir wollen dazu beitragen, den Kapitalismus und den bürgerlichen Klassenstaat zu stürzen. Das will die LINKE erklärtermaßen nicht – was aber kein Grund sein sollte, sie nicht zu wählen.

Die LINKE will den Kapitalismus erträglicher machen und die brutalen neoliberalen „Reformen“ der letzten 30 bis 40 Jahre wieder zurückdrängen. Marxist*innen kritisieren das – nicht weil sie es nicht auch gut fänden, sondern weil sie diese Strategie für wenig erfolgversprechend halten.

Es gibt kein Zurück zu den „goldenen“ sozialdemokratischen Zeiten der 1970er Jahre – der damalige Klassenkompromiss wurde nicht von „unten“, sondern von „oben“ gekündigt, von „sozialdemokratischen“ Führern wie Blair und Schröder. Andererseits: Wir leben in ziemlich „nicht-revolutionären“ Zeiten, es käme also einem politischen Wunder gleich, wenn die LINKE so „richtig“ revolutionär wäre.

Kleinen Gruppen wie der unseren steht ein wenig Bescheidenheit gut zu Gesicht – nicht die ISO, sondern die LINKE steht in Meinungsumfragen bei bis zu 10 %.

Es gibt kein Zurück zu den „goldenen“ sozialdemokratischen Zeiten der 1970er Jahre – der damalige Klassenkompromiss wurde nicht von „unten“, sondern von „oben“ gekündigt, von „sozialdemokratischen“ Führern wie Blair und Schröder.

Wir sind ja sonst auch immer und überall gegen das neoliberale Glaubensbekenntnis „TINA“ (There is no alternative – Es gibt keine Alternative). Dann sollten wir bei unserer Wahlentscheidung eben auch einen Blick auf die zur Wahl stehenden antikapitalistischen Alternativen werfen. DKP, MLPD und PSG liegen in der Wählergunst nur knapp über der Wahrnehmbarkeitsschwelle – nämlich im Bereich 0,1 %. Das alleine kann aber kein Grund sein, nicht zu ihrer Wahl aufzurufen. Uns trennen von diesen Parteien grundsätzliche Differenzen, diese Art von Kandidaturen bringen die Arbeiter*innenbewegung und die Linke in Deutschland keinen Millimeter voran. Wie wär’s mit ungültig stimmen, mit Wahlboykott?

Das kann in bestimmten historischen Situationen ein probates Mittel sein, Protest gegen die herrschenden Verhältnisse auszudrücken. Aktuell würden ungültige Stimmen aber von den bürgerlichen Medien der allgemeinen „Politikverdrossenheit“ und also den Rechtspopulist*innen zugeschlagen. Damit kommen wir zu einer Besonderheit dieser Bundestagswahl und zu einem wichtigen Grund, am 24. September die LINKE zu wählen – dem Erstarken der AfD. Es ist ja eigentlich ein schlechter Witz, dass diese arbeiter- und gewerkschaftsfeindliche, pro-kapitalistische und dazu aggressiv neoliberale Formation als „Protestpartei“ der Ausgebeuteten und Abgehängten durchgeht. Zeigen wir, dass der Protest gegen dieses menschenverachtende System von links und nicht von rechts kommt!

Aktuell würden ungültige Stimmen aber von den bürgerlichen Medien der allgemeinen „Politikverdrossenheit“ und also den Rechtspopulist*innen zugeschlagen.

Auf der Wahlebene geht das nur, wenn die LINKE im nächsten Bundestag möglichst stark vertreten ist – also: LINKE wählen, um der AfD und zugleich den anderen neoliberalen Parteien CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP die rote Karte zu zeigen!

Natürlich soll linkes Wählen nicht nur „nützlich“ sein, sondern idealerweise auch die eigene grundsätzliche Haltung zum Ausdruck bringen. Die bereits angesprochene skandalöse „Autobahn-Nummer“ zeigt ja noch mal, wo das Hauptproblem der LINKEN liegt: Sie ist eigentlich „zwei Parteien in einer“. Im Osten ist sie überwiegend die Partei derjenigen, die es „geschafft“ haben, die angekommen sind im wiedervereinigten kapitalistischen Deutschland. Sobald sie in einer Regierung sitzt, beteiligt sie sich hemmungslos an Sozialkürzungen und Privatisierungen und ist von gewöhnlichen bürgerlichen Parteien kaum mehr zu unterscheiden. Dementsprechend begegnen ihr dort Billiglöhner*innen und Hartzer*innen mit Gleichgültigkeit oder sogar offenem Hass. Im Westen ist sie überwiegend eine ehrlich linksreformistische Kraft (das ist nicht wenig in Zeiten wie diesen). In manchen Landesverbänden (etwa in NRW gibt es einen einflussreichen klar antikapitalistischen Flügel. Hier gilt sie zu Recht als Verteidigerin der Lohnabhängigen und der „Prekären“.

Und was machen wir nun? Skepsis bezüglich der Standhaftigkeit bei Regierungsbeteiligungen (die ja auch in westlichen Ländern oder im Bund nicht ausgeschlossen sind) ist mehr als angebracht.

In der Gesamtschau sollten die Alleinstellungsmerkmale den Ausschlag geben: Es gibt in Deutschland keine andere Partei (jedenfalls keine, die Chancen hat, in den Bundestag einzuziehen), die die Abschaffung von Hartz IV samt Repressionsapparat und eine bedingungslose Mindestsicherung von 1050 € fordert.

Unrealistisch? Das haben wir vom Mindestlohn vor ein paar Jahren auch gedacht. Die schiere parlamentarische Existenz der LINKEN hat mit dazu beigetragen, dass es den nun gibt.

Es gibt in Deutschland keine andere Partei (jedenfalls keine, die Chancen hat, in den Bundestag einzuziehen), die die Abschaffung von Hartz IV samt Repressionsapparat und eine bedingungslose Mindestsicherung von 1050 € fordert.

Die ISO ruft also dazu auf, bei der Bundestagswahl Die LINKE zu wählen – auch und gerade diejenigen, die große Bauchschmerzen mit der Parlamentsfixierung der Partei (in Ost und West) haben. Es wird Zeit, dass sich die radikale Linke in Deutschland mal ehrlich macht. Wir kennen nämlich keine noch so scharfen linken Kritiker*innen der LINKEN, die am Wahlabend vor dem Fernseher sitzen und bei Bekanntgabe einer Wahlschlappe der LINKEN jubelnd aus dem Sessel springen, um in der Küche erst mal eine Flasche Sekt aufzumachen. Allgemeiner formuliert: Eine Niederlage der LINKEN wäre auch eine Niederlage für die gesamte Linke, für die deutsche Arbeiter*innenklasse und die sozialen Bewegungen.

Wahlen für bürgerliche Parlamente sind in der Regel kein Wunschkonzert. Wer im Osten wohnt oder wem sich beim Gedanken an die Anpassung an die etablierte Politik gerade in Landesregierungen der Magen umdreht, sollte sich selbst möglichst ehrlich die Frage beantworten, ob z. B. ein Scheitern der LINKEN an der 5 %-Hürde die Arbeits- und Kampfbedingungen der Linken insgesamt bzw. der sozialen Bewegungen bzw. der Gewerkschaften verbessert oder verschlechtert.

Also: Kreuz bei der LINKEN, aber bitte nicht die eigene Stimme tatsächlich abgeben!

Die „grauen Gipfelherren“ fürchten sich nicht vor ein paar linken Staatssekretär*innen und Minister*innen, richtiges Fracksausen kommt bei den Herrschaften erst auf, wenn wir beginnen, die Dinge selber in die Hand zu nehmen. Selbsttätigkeit und Selbstorganisation in Betrieb, in Schule und Uni, in der Nachbarschaft – erst wenn wir da ein Stück weiter kommen, wird sich wirklich was ändern in diesem Land.

intersoz.org/die-linke-waehlen-aber









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