Freitag, 14. Juli 2017

Revisionismus - Kurt Gossweiler


Kurt Gossweiler: Wie konnte der revisionistische Umsturz in der Sowjetunion gelingen?

Veröffentlicht am 20. November 2014 von sascha313


Der Historiker Dr.sc. Kurt Gossweiler

„Meine Erlebnisse auf sowjetischer Seite haben meine kommunistische Einstellung und die Überzeugung gefestigt, daß die Sowjetunion auf dem richtigen, von Lenin gewiesenen Wege voranschreitet. Und sie haben mich befähigt, sehr früh zu erkennen, daß unter der Führung Chruschtschows die KPdSU unter dem Vorwand des Bruchs mit dem so genannten ‚Personenkult‘ in Wahrheit den Bruch mit dem Marxismus-Leninismus vollzog und den Weg der Restauration des Kapitalismus beschritt. Allerdings war ich lange Zeit – bis 1988 – davon überzeugt, daß das nie gelingen werde. Wie es dennoch dazu kommen konnte – diese Frage zu beantworten, ist vordringlich, weil Voraussetzung für einen neuen, endgültig erfolgreichen Sieg über den Imperialismus, dessen fortdauernde Herrschaft das Überleben der Menschheit in Frage stellt. Deshalb habe ich nach der Katastrophe von 1989/90 meinem alten Forschungsgebiet ‚Faschismus‘ den Rücken gekehrt, um, solange mir das meine Kräfte erlauben, meinen Teil zur Beantwortung dieser vordringlichen Frage beizutragen.“

* * *

(April 2002)

Kurt Gossweiler

DIE ZENTRALFRAGE:

WIE KONNTE DER REVISIONISTISCHE UMSTURZ GELINGEN?

Als Marxisten wissen wir: Nicht „Männer machen die Geschichte“. Auch nicht die Chruschtschows und die Gorbatschows. Wenn wir nachweisen, daß Chruschtschow und Gorbatschow bewußt auf die Zerstörung des Sozialismus hingearbeitet haben und ihr Ziel erreichten, ist erst ein allererster Anfang zur Beantwortung dieser Frage gemacht.

Jetzt kommt erst die viel schwierigere Frage, die eigentliche Zentralfrage: Wieso konnten Agenten des Imperialismus die von Lenin und Stalin erzogene Partei und das von Lenin und Stalin erzogene Volk zur Hinnahme einer revisionistischen, den Kapitalismus restaurierenden Politik bringen? Eine befriedigende Antwort darauf setzt umfassende Untersuchungen und Nachforschungen voraus. Im einzelnen stellen sich viele Fragen:

Gab es eine konterrevolutionäre Klasse oder Schicht in der Sowjetunion?

Die für Marxisten naheliegendste Vermutung ist, die revisionistische Politik Chruschtschows und Gorbatschows sei Ausdruck der Interessen bestimmter Schichten der sowjetischen Gesellschaft gewesen, deren Repräsentanten die beiden dargestellt hätten. Der moderne Revisionismus ist nach einer solchen Auffassung also genauso wie der alte Revisionismus der sozialdemokratischen Parteien von unten, aus der kommunistischen Bewegung und der sozialistischen Gesellschaft, als Interessenausdruck bestimmter ihrer Schichten, herausgewachsen. Einer solchen Auffassung kann ich mich nicht anschließen. Wohl gab es in der Sowjetgesellschaft und in den sozialistischen Ländern besonders in der Schicht der Intellektuellen, und hier besonders unter den Diplomaten, Außenhändlern, unter Künstlern und Journalisten, Leute, die vom Reichtum und der „Freiheit“ des Westens fasziniert waren und sich wünschten, solches auch in der Sowjetunion genießen zu können. Aber nicht sie waren es, die solche Sehnsüchte zu einem System des modernen Revisionismus ausbauten.

Wer entwickelte das System des modernen Revisonismus?

Dieses System ist in seiner ursprünglichen Rohfassung von dem zum Renegaten gewordenen ehemaligen Generalsekretär der KP der USA, Browder, 1942 entwickelt und mit Hilfe des Allan-Dulles-Mitarbeiters Noël Field über die kommunistischen Emigranten in der Schweiz in die verschiedenen kommunistischen Parteien hineingetragen worden, und ist dann in der KP Jugoslawiens und bei ihrem Führer Tito auf besonders fruchtbaren Boden gefallen. Von dorther wurde er von Titos Bruder im Geiste, Chruschtschow, also von oben, in die Sowjetunion importiert und in die herrschende marxistisch-leninistische Lehre hineingemixt. Er ist also kein originäres Gewächs aus dem Boden der Sowjetgesellschaft. Warum aber hatten Chruschtschow und Gorbatschow mit ihrer Politik so katastrophalen Erfolg? Ich möchte hier einige Bedingungen aufzählen, die mir dafür entscheidend gewesen zu sein scheinen:

1. Verschleierungstaktik: Sie haben ihre wahren Ziele nicht aufgedeckt, sondern sich mit Nachdruck als treue Schüler Lenins und als Fortführer und Vollender seines Werkes ausgegeben. Daß sie das tun mußten, beweist, daß das Volk in seiner überwältigenden Mehrheit an der Sowjetordnung festhalten wollte. Chruschtschow hat – um seinen Revisionismus zu verschleiern und seine Politik als Festhalten am Leninismus glaubhaft zu machen – den Leninisten Stalin zum Abtrünnigen vom Leninismus erklärt und sich damit zugleich die Möglichkeit geschaffen, seine leninistischen Gegner Molotow, Malenkow, Kaganowitsch und andere als „Stalinisten“ und „Parteifeinde“ in Verruf zu bringen und damit als Gegner unschädlich zu machen.

2. Die übertriebene Verehrung Stalins: Chruschtschows Kritik am so genannten Personenkult wurde besonders in Intellektuellenkreisen, aber nicht nur dort, als berechtigt und zeitgemäß begrüßt, weil damit wirklich vorhandene negative Züge offen angesprochen wurden: eine übertriebene Herausstellung der Rolle und Verdienste Stalins. Das große Ansehen Stalins im Volke und das unbegrenzte Vertrauen, das ihm in allen Teilen des Riesenlandes entgegengebracht wurde, war nicht „verordnet“ worden, sondern gewachsen als Frucht dessen, daß er in all den schwierigen Zeiten und in den heftigen Auseinandersetzungen mit den verschiedenen Oppositionsrichtungen mit überzeugenden Argumenten Leninsche Positionen verteidigt und die Wege gewiesen hatte, die zum Erfolg geführt hatten. Dies und die Notwendigkeit, angesichts der ständigen Bedrohung des Sowjetlandes zuerst durch das faschistische Deutschland und dann durch das atombewaffnete US-Amerika die Geschlossenheit der Sowjetgesellschaft und die Einheit von Volk und Führung nicht gefährden zu lassen, hatten den Boden dafür bereitet, daß die durchaus berechtigte Verehrung Stalins Züge kultischer Verehrung einer unfehlbaren Persönlichkeit annahm, der alle Erfolge des Landes als persönliches Verdienst zugeschrieben wurden und deren Worte schon deshalb richtig und unanfechtbar waren, weil sie von ihr kamen. Damit Schluß zu machen, um wieder eine normale Atmosphäre im Umgang mit der Führung innerhalb der Partei und in der ganzen Gesellschaft herzustellen, wäre in der Tat notwendig gewesen.

Aber nicht das bezweckte Chruschtschow mit seiner Kritik und Verurteilung des „Kultes um Stalin“. Vielmehr nutzte er dieses eingeschliffene Verhalten – alles, was von der Führung kam, als Offenbarung der Wahrheit hinzunehmen –  nun dazu aus, um an die Stelle Stalins selbst als derjenige zu treten, von dem die Wahrheit kommt, an der nicht zu zweifeln ist; und er beseitigte keineswegs den Stalin-Kult, sondern behielt ihn bei, aber stülpte ihn um, ersetzte das Plus-Vorzeichen durch ein Minus-Vorzeichen. Hatte es bisher geheißen: Alle unsere Erfolge und Siege verdanken wir Stalin, so hieß es jetzt: Alle Erfolge und Siege wurden trotz und gegen Stalin errungen. Dieser umgestülpte Stalin-Kult war der für die Sowjetunion wirklich lebensgefährliche.

3. Der Wunsch nach einem besseren Leben: Chruschtschow und seine Gefolgsleute in der Führung knüpften geschickt an die Hoffnungen und berechtigten Erwartungen der Menschen in der Sowjetunion an, nach den unsagbar schweren Jahren des Krieges und der Entbehrungen die Früchte der Mühen, der Opfer und des Sieges zu ernten: Dauerhaften Frieden, ein Ende der Entbehrungen, Wiedergewinnung des Vorkriegswohlstandes und seine fühlbare rasche Steigerung.

Chruschtschow versprach, durch einen grundlegenden Wandel in der Außenpolitik, durch den Übergang von Stalins Politik der Konfrontation zu einer Politik der Entspannung vor allem mit den USA, den Frieden sicher und dauerhaft zu machen. Mit dieser Begründung ersetzte Chruschtschow die bisherige Praxis der Festlegung des außenpolitischen Kurses durch das Kollektiv der Parteiführung und dessen konkrete Ausgestaltung durch den dafür zuständigen Minister und seine Mitarbeiter durch die von ihm zur Dauereinrichtung gemachten „Gipfeldiplomatie“, also durch Treffen Chruschtschows und seiner engsten Vertrauten mit den imperialistischen Staatsoberhäuptern, vor allem mit dem jeweiligen Präsidenten der USA und dessen Beratern. Auf diese Weise wurde die Außenpolitik der Sowjetunion zu einer Sache der Geheimdiplomatie, wurde immer mehr nicht mehr von der Partei, sondern von einem einzigen Mann und dessen Klüngel bestimmt; die Rolle der Parteiführung wurde im gleichen Maße darauf reduziert, nachträglich die in den Gesprächen Chruschtschows mit den imperialistischen Oberhäuptern ausgehandelten Maßnahmen und außenpolitischen Schritte zu sanktionieren. Auf diese Weise wurde Stalins Politik des Kampfes gegen den Imperialismus ersetzt durch eine Politik der heimlichen Komplizenschaft mit dem und der Vertrauenswerbung im Sowjetvolk für den Imperialismus. Nach außen hin gebärdete sich Chruschtschow jedoch fürs Volk ab und zu in gespielten Wutausbrüchen – wie in der nur peinlichen und die Sowjetunion nur diskreditierenden Szene in der UNO, als er sich den Schuh auszog und damit wie ein Rasender auf den Tisch klopfte – als entschlossenen Kämpfer gegen den Imperialismus. Sein Schwiegersohn Adshubaj, den er zum Chefreakteur des Regierungsorgans „Iswestija“ gemacht hatte, bejubelte damals diese unwürdige Szene als eine „revolutionäre Aktion“ Chruschtschows.

Chruschtschow und die Seinen versprachen ferner, in kurzer Zeit die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern nicht nur an das Niveau der fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten heranzuführen, sondern dieses zu übertreffen: die jetzt lebende Generation werde im Kommunismus leben! Der Getreidemangel werde der Vergangenheit angehören, die Getreidefrage werde in kürzester Zeit ein für allemal gelöst sein! Das, was sie an Maßnahmen zur Einlösung dieser Versprechen vorschlugen und veranlaßten, zeichnete sich dadurch aus, daß sie scheinbar der Erreichung der genannten Ziele dienten, in Wirklichkeit aber die wirtschaftlichen und politischen Grundlagen der sozialistischen Ordnung untergraben mußten, indem sie grob gegen die ökonomischen Gesetze verstießen; zugleich waren diese Maßnahmen immer mit Erklärungen verknüpft, die darauf abzielten, die in der Vergangenheit unter der Führung Stalins durchgeführte erfolgreiche Innenpolitik als falsch und von unnötiger Härte in Mißkredit zu bringen. Und schließlich zielten viele dieser Maßnahmen auch darauf, das sozialistische Bewußtsein der Menschen aufzuweichen, die Sehnsucht nach einem ruhigen, kampflosen Kleinbürgerdasein zu wecken. Ich will das nur an zwei Beispielen demonstrieren, an der „neuen Wirtschaftpolitik“, und an der Aktion „Neulandgewinnung“.

Der Aufstieg der Sowjetunion zur zweitgrößten Industriemacht nach den USA war nur möglich gewesen, weil das entscheidende ökonomische Gesetz zur Sicherung der erweiterten Reproduktion, das raschere Wachstum der Abteilung I, also der Produktion von Produktionsmitteln, gegenüber der Abteilung II, der Produktion von Konsumgütern, eisern eingehalten wurde. Mit der Begründung, die rasche Steigerung der Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern zu gewährleisten, kehrte Chruschtschow die Proportionen zwischen den Abteilungen I und II nahezu um und schwächte damit die Akkumulationskraft der Wirtschaft und legte den Grund für eine nicht besser, sondern immer schlechter werdende Versorgung der Wirtschaft mit Produktionsmitteln und der Bevölkerung mit Konsumgütern.

Was die Landwirtschaft betrifft, setzte Chruschtschow mit der Begründung, mit dem Getreidemangel endgültig Schluß zu machen, gegen den Widerstand von Agrarfachleuten und Mitgliedern des Politbüros, wie Molotow, den Beschluß über die Neulandgewinnung in Kasachstan durch. Die Fachleute und Molotow wandten sich gegen diesen Plan, weil er riesige Mittel verschlingen, aber keineswegs den Getreidemangel beheben würde, da die klimatischen Verhältnisse in Kasachstan eine Garantie nur für Mißernten geben würde, und weil man mit einem viel geringeren Aufwand eine sichere Steigerung der Ernteerträge bis zum Doppelten erreichen könne, wenn man in den bereits erschlossenen Anbaugebieten die Anbaumethoden verbessern und auf das Niveau der mittel- und westeuropäischen Landwirtschaft bringen würde. Sie behielten natürlich recht, und das Ergebnis der Chruschtschowschen „Neulandgewinnung“ war, daß die Sowjetunion in einem vorher nie gekannten Maße von Getreideeinfuhren aus Amerika und Kanada abhängig wurde. Aber zunächst verschaffte sich die Chruschtschow-Führungsgruppe damit den Ruf, revolutionäre Vorhaben zur Verbesserung des Lebens der Sowjetbürger kühn in Angriff zu nehmen. Die negativen Auswirkungen zeigten sich erst mehrere Jahre später, dann aber führten sie zusammen mit anderen Auswirkungen der Diversionspolitik Chruschtschows zu einer wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung, die einer der Gründe für seine – viel zu späte! – Absetzung im Oktober 1964 wurde.

4. Die Ergebenheit der Parteimitglieder: Chruschtschow verpackte auf dem XX. Parteitag die Kursänderung in Richtung Revisionismus so geschickt in ein Paket der gewohnten und vertrauten Darlegungen der inneren und äußeren Lage und der sich daraus ergebenden Aufgaben, daß selbst der Mehrzahl der Delegierten und der ZK-Mitglieder nicht bewußt geworden sein dürfte, daß hier ein Bruch mit dem Leninismus vollzogen wurde – wollen das doch bis zum heutigen Tage sogar viele Führer und Funktionäre kommunistischer Parteien, auch in Deutschland und Österreich, nicht wahrhaben!

5. Die Verleumdung der Person Stalins: Aber diese Methode des heimlichen, unbemerkten Einschleusens revisionistischer, konterrevolutionärer Konterbande genügte nicht. Die wirkliche Lehre Lenins und ihre Verwirklichung in der Praxis des Aufbaus des Sozialismus in der Sowjetunion durch Lenin und Stalin waren und sind ein Maßstab, an dem auch künftig jeder sozialistische Politiker gemessen werden kann und muß. Dieser Maßstab durfte nicht mehr gültig bleiben, wenn Chruschtschow und seine Gruppe verhindern wollten an ihm gemessen zu werden, und sie mußten das verhindern. Dieser Maßstab mußte zwar, soweit es die Lehre Lenins betraf, formal anerkannt bleiben, ja, auf ihn mußte man sich immer berufen, aber sein konkreter Inhalt mußte möglichst weit in den Hintergrund gedrängt und dem Vergessen überlassen werden. Da der Maßstab des Leninismus aber in den Jahren nach Lenins Tod in der Politik Stalins seinen lebendigen Ausdruck und im „Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU“ seinen jederzeit nachlesbaren Niederschlag gefunden hatte, mußte der Stalinschen Politik ihr Maßstab- und Vorbild-Charakter genommen und in sein Gegenteil verkehrt werden. Stalin mußte zu einer unzitierbaren Unperson und der „Kurze Lehrgang“ mußte als „stalinistisches Machwerk“ auf den Index gesetzt werden.

Die Schwärzung Stalins und seines Werkes war eine unverzichtbare Vorbedingung für das Gelingen der Demontage des Sozialismus in der Sowjetunion. Nur in dem Maße, in dem diese Schwärzung vom Volke als berechtigt geglaubt und akzeptiert werden würde, konnte ein Widerstand von unten gegen eine Politik, die von der bisherigen grundsätzlich abwich, vermieden bzw. gelähmt werden.

6. Die Lüge von den Stalinschen Massenmorden: Stalins Autorität war jedoch – besonders nach dem so schwer errungenen, aber um so triumphaleren Sieg über die faschistische Bestie, so groß, daß es der äußersten Mittel bedurfte, sie zu erschüttern oder gar ganz zu zerstören. Welches Mittel zur Vernichtung des Rufes eines Menschen könnte aber stärker sein, als ihn des massenhaften Mordes an Unschuldigen aus niedrigsten Motiven des puren persönlichen Machterhaltes zu beschuldigen? Keines, und deshalb wurde es von Chruschtschow zur Zerstörung der Autorität Stalins benutzt. In einem Überrumpelungsakt zwang er dem XX. Parteitag nach dessen offizieller Beendigung und entgegen kollektiv gefaßten Beschlüssen der Parteiführung eine Sondersitzung auf, mit dem in der Tagesordnung überhaupt nicht vorgesehenen „Bericht über den Personenkult Stalins“, der alsbald von den westlichen Medien in sensationeller Aufmachung veröffentlicht wurde, von der KPdSU aber bis in die Zeiten Gorbatschows nie als offizielles Parteidokument anerkannt worden ist.

Chruschtschows Bericht war nicht deshalb ein Verbrechen an der Partei und der Sowjetmacht, weil er bisher kaum oder nur unvollständig bekannte Tatsachen über unschuldige Opfer der „Säuberungen“ der Jahre 1936-39 zur Sprache brachte, sondern weil er in seiner so genannten „Geheimrede“ in vielen Passagen eine ungeheuerliche Fälschung der Geschichte der Sowjetunion beging; auch – aber keineswegs nur – damit, daß er die Prozesse und die „Säuberungen“, die von der gesamten Parteiführung beschlossen und getragen wurden, allein Stalin als dessen persönliche Willkürakte zuschrieb.

Wäre Chruschtschows Ziel nicht gewesen, Stalins Autorität ein für allemal zu zertrümmern, um nicht ständig an ihm gemessen zu werden, und um für seine konterrevolutionäre Kursänderung freie Bahn zu haben; und hätte zu seiner Absicht nicht auch gehört, der Überzeugung der Sowjetbürger in die Gerechtigkeit ihrer Sache und dem Stolz auf ihre Sowjetmacht einen schweren Schlag zu versetzen; hätte er wirklich nur im Sinne gehabt, den unschuldigen Opfern der „Säuberungen“ Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und die geschichtliche Wahrheit über die Zeit der Repressionen darzulegen, dann hätte in seinem Bericht etwa das Folgende gesagt werden müssen:

„1936, nach der Errichtung der faschistische Diktatur in Deutschland, nach der Aufrüstung des faschistischen Deutschland unter Duldung und sogar Mithilfe der Westmächte, nach dem Verrat der Westmächte an der spanischen Republik, standen wir vor der Gefahr, vom faschistischen Deutschland – möglicherweise sogar im Einvernehmen mit den Westmächten – überfallen zu werden und uns allein der stärksten Militärmacht der ganzen Kriegsgeschichte gegenübergestellt zu sehen, von der wir aus dem Spanienkrieg schon wußten, was sich dann in Norwegen und Frankreich später wiederholte, nämlich, daß der faschistischen Wehrmacht im Hinterland der überfallenen Länder ‚fünfte Kolonnen‘ von Quislingen und Verrätern zu Hilfe kamen.

Wie groß die Gefahr des Überfalles war, zeigte sich noch viel deutlicher mit dem Münchener Abkommen der Westmächte mit Hitler und der Auslieferung der Tschechoslowakei an ihn, mit der Weigerung der Westmächte, mit uns einen Vertrag über kollektive Sicherheit und gegenseitigen Beistand zur Bändigung Hitlerdeutschlands abzuschließen.

Unsere Vorbereitungen auf den faschistischen Überfall mußten also auch der Verhinderung der Bildung einer 5. Kolonne in unserem Hinterland gelten. Noch gab und gibt es bei uns Feinde der Sowjetmacht, einst von uns enteignete Kulaken und ihre Nachkommen, Reste der zerschlagenen Gruppe der Trotzkisten und anderen Oppositionsgruppen – hatte doch Trotzki mehrfach in seinen Veröffentlichungen dazu aufgerufen, im Kriegsfalle den Aufstand gegen den ‚Stalinismus‘ zu beginnen; ferner Leute, die mit den Deutschen sympathisieren, z.B. unter den Wolgadeutschen oder bei bestimmten Nationalitäten, wie den Krimtataren und den Tschetschenen.

Also mußten wir angesichts der tödlichen Bedrohung alles tun, um es möglichen Feinden der Sowjetmacht unmöglich zu machen, im Hinterland mit Fünften Kolonnen den faschistischen Überfall zu unterstützen. Dabei mußten wir in Rechnung stellen und in Kauf nehmen, daß es bei Säuberungen so großen Ausmaßes, wie wir sie für notwendig erachteten, nicht auszuschließen war, daß auch Unschuldige, sei es wegen absichtlicher Falschbeschuldigungen feindlicher Elemente, sei es aus Übereifer örtlicher Organe, sei es durch Anlegen eines zu pauschales Rasters, in erheblichem Umfange von den Maßnahmen betroffen sein würden, wie es dann auch der Fall war.

Aber wir hatten damals abzuwägen, was schwerer wog: Wenn wegen ungenügender Sicherungsmaßnahmen die Sowjetmacht durch kombinierte Schläge der faschistischen Armeen und der Fünften Kolonnen zugrunde ging – oder wenn wir bei den Gegenmaßnahmen nicht nur echte Feinde, sondern auch Unschuldige und sogar eigene Leute treffen würden. Die Partei hat sich für die Sicherung des Landes als die allem anderen übergeordnete Pflicht entschieden.

Jetzt aber ist es an der Zeit, dabei begangenes Unrecht aufzuklären und zu beenden.“

So oder so ähnlich hätte eine ehrliche, kommunistische Stellungnahme zu der für jeden Kommunisten schmerzlichsten Seite der Geschichte der Sowjetunion lauten müssen.

Eine kommunistische, das heißt wahrheitsgemäße Schuldzuweisung auch für diese Opfer hätte klar aussprechen müssen, daß auch ihre Leiden und ihr Tod wie der von 25 Millionen Sowjetsoldaten und der von 50 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges auf das Konto derer geht, die die Führung der Sowjetunion vor eine solch grausame Entscheidung stellten – auf das Konto Hitlers und des deutschen Imperialismus vor allem; in zweiter Linie aber auch auf das Konto derer, die Hitlerdeutschland aufrüsteten, um es als Stoßkeil gegen die Sowjetunion zu lenken und seine Bändigung durch ein kollektives Sicherheitsbündnis sabotierten.

Indem er statt dessen Stalin als Massenmörder Unschuldiger hinstellte, übernahm nun der Führer der KPdSU die bisher nur über die westlichen Medien verbreiteten antisowjetischen Hetz-Lügen aus den Küchen der imperialistischen Spezialisten für psychologische Kriegsführung und verkündete sie als Wahrheit.

Von daher kommt es, daß ehrliche und überzeugte Kommunisten auch heute noch bedenkenlos die giftige Verleumdung weitergeben, Stalin habe mehr Kommunisten umgebracht, als Hitler. Die Wahrheit ist, daß alle Kommunisten, alle Kämpfer gegen den Faschismus und alle Juden, die im vom Faschismus besetzten Europa überlebt haben, dies vor allem der Sowjetunion, der Roten Armee und damit auch Stalin verdanken.

Welch verheerende Langzeitwirkung Chruschtschows Stalin-Verteufelung hat, wie sehr er damit bis in die Gegenwart hinein die kommunistischen Bewegung veruneinigt und Kommunisten gegen „Stalinisten” noch immer zu haßerfüllter Frontstellung bringt, das kennt ihr ja aus der eigenen Partei leider auch zur Genüge. Ich habe da auch sehr traurige Erfahrungen gemacht und bin sicher, nach meinem neuen Buch werde ich noch viel Traurigeres erleben.

Das Traurigste an dieser ganzen Sache ist für mich, daß offenbar der jetzige Zustand in den Ländern der früheren Sowjetunion und in den ehemals sozialistischen Ländern Europas, der Rückfall der Bevölkerung dieser Länder in tiefstes Elend und kulturell in finsterte Vorzeiten, und schließlich die Katastrophe, in die der Untergang der sozialistischen Supermacht in der Frage Krieg und Frieden die ganze Menschheit gestürzt hat, die Anti-Stalinisten in den Führungen kommunistischer Parteien noch keinerlei Anlaß waren, ihre bisherige Position in Frage zu stellen und zu überdenken. Sie brauchten sich aber doch nur vorzustellen, sie hätten damals in der Sowjetunion vor der Entscheidungsfrage gestanden: Dürfen wir, wissend, daß der Untergang der Sowjetunion nicht nur das eigene Land und die eigene Bevölkerung , sondern ganz Europa dem Faschismus ausliefert und alle für den Sozialismus gebrachten Opfer zu umsonst gebrachten Opfern macht, dürfen oder müssen wir dennoch aus humanitären Rücksichten und um nicht auch Unschuldige mit unseren Sicherungsmaßnahmen mit zu gefährden, darauf verzichten, mit allen, selbst rigorosesten Mitteln, dafür zu sorgen, daß dem Feind aus dem Hinterland keine Unterstützung geleistet werden kann?

Wenn sie auf diese Frage mit „Ja” antworten, dann sagen sie auch Ja zum Untergang der Sowjetunion und allem, was daraus folgte. Aber ob sie sich dann noch als Humanisten sehen können? Wenn sie darauf die einzige Antwort geben, die ein Kommunist geben kann: Nein, denn die Sicherung des Werkes der Oktoberrevolution und Lenins, des Werkes von zwanzig Jahre sozialistischen Aufbaus hat allem anderen gegenüber Vorrang – dann können sie nicht mehr länger guten Gewissens Stalin und die Sowjetführung für ihre damalige Entscheidung verurteilen. Aber vielleicht fehlt es ihnen an kommunistischer Fantasie, um sich vorstellen zu können, dass die damalige Entscheidung genau aus diesem Grunde so ausfiel, wie sie ausfiel.

7. Der moderne Revisionismus war importiert: Ich komme auf meine These zurück, daß der moderne Revisionismus nicht aus dem Boden der Sowjetgesellschaft gewachsen, sondern importiert und von oben in die Sowjetgesellschaft und in die KPdSU auf dem XX. Parteitag geradezu staatsstreichartig hineingepreßt wurde. Daß dies wirklich so ist und daß sowohl in der Partei wie in der ganzen Gesellschaft gegen diesen oktroyierten Anti-Leninismus – wenn auch nicht ausreichender und vor allem nicht nach außen hin erkennbarer offener – Widerstand geleistet wurde, das wurde für einen Moment blitzartig sichtbar daran, daß im Juni 1957 die Mehrheit des Parteipräsidiums den Beschluß faßte, Chruschtschow abzusetzen (siehe mein Buch: Die Taubenfuß-Chronik oder die Chruschtschowiade 1953 bis 1964, Bd. I 1953 bis 1964, S.305), und daran, daß der XX. Parteitag noch nicht ausgereicht hatte, Stalins Autorität und Ansehen in der kommunistischen Bewegung und in der Sowjetunion völlig zu zerstören und Chruschtschows Stalin-Zerrbild zum allgemein akzeptierten Stalin-Bild avancieren zu lassen.

Die Konterrevolution vom Oktober-November 1956 in Ungarn hatte Tito als deren Initiator kenntlich gemacht und dadurch Chruschtschow, den Tito-Freund, in arge Bedrängnis gebracht. Um sich an der Macht zu halten, mußte er alle seine Demagogenkünste einsetzen und den Verteidiger Stalins gegen revisionistischen Angriffe spielen. Das tat er als Festredner auf der Oktoberfeier des Jahres 1957. In dieser Rede sagte er am 6. November – ihr werdet es nicht glauben – folgendes:

Die Partei „hat alle bekämpft und wird dies auch weiterhin tun, die Stalin verleumden und unter der Flagge der Kritik am Personenkult die ganze historische Periode der Tätigkeit unserer Partei falsch und verzerrt darstellen, in der J.W. Stalin an der Spitzer des Zentralkomitees stand. Als treuer Marxist und Leninist und standhafter Revolutionär nimmt Stalin einen würdigen Platz in der Geschichte ein. Unsere Partei und das Sowjetvolk werden Stalins gedenken und ihm die gebührende Ehre erweisen.“

Ihr werdet kaum glauben können, daß diese Worte derselbe Chruschtschow gesagt hat, wegen dessen Geheimrede auf dem XX. Parteitag für die Mehrzahl der Kommunisten in Europa Stalin noch heute der Verderber des Sozialismus und der Schuldige an seinem Untergang ist. Aber zu einem Top-Agenten des Imperialismus gehört eben auch die Fähigkeit, heute diese und morgen eine genau entgegen gesetzte Rolle möglichst überzeugend spielen zu können. Chruschtschow konnte das wie kaum ein zweiter, deshalb war er für seine Freunde in Washington und London auch so wertvoll.

Im zweiten Band meiner Taubenfußchronik werdet ihr diese Rede und auch noch lesen können, daß die Teilnehmer der Festveranstaltungen jedes Mal, wenn von der positiven Rolle Stalins die Rede war, lang anhaltenden Beifall spendeten. Dies ist ein weiterer Beweis dafür, daß der Revisionismus und der Anti-Stalinismus des Chruschtschow kein sowjetisches Gewächs war. Für Chruschtschow und seine westlichen Freunde hieß dies aber, daß – wenn ein XX. Parteitag noch nicht genügt hatte – jedes positive Gedenken an Stalin auszulöschen, dann eben ein zweiter solcher Parteitag folgen müsse, der endlich zum Ziele führen würde. So wurde also der XXII. Parteitag von Chruschtschow und seinen Helfershelfern in der Führung, deren Zahl erheblich angewachsen war, weil inzwischen auch Mitglieder aus der Führungsriege, die früher als Stalinisten galten (wie etwa Suslow, Ponomarjew, Pospelow und andere), zu Chruschtschow übergelaufen waren; das aber ganz sicher nicht, weil sie ihn etwa für den besseren Leninisten hielten! Nach dieser zweiten massiven Verdammung Stalins auf dem XXII. Parteitag verspürte man auch in den anderen Parteien, die bisher die Anti-Stalin-Kampagne nur sehr zurückhaltend mitgemacht hatten – zu ihnen gehörte auch die SED – einen massiven Druck aus Moskau, aus den Signalen des XXII. Parteitages nun auch eigene Konsequenzen zu ziehen. Eine der Folgen dessen war, daß jetzt auch das in Berlin noch immer in der Karl-Marx-Allee, der früheren Stalin-Allee, stehende Stalin-Denkmal weichen mußte.

Liebe Freunde und Genossen, es gäbe zu diesem Thema noch vieles zu sagen, aber der Rahmen dafür reicht heute nicht. Daher erlaubt mir, hier eine Schlußpunkt zu setzen und verzeiht mir, wenn ich Euch nur ein solches Fragment vorgesetzt habe.

Vortrag, gehalten auf Einladung von Mitgliedern der KPÖ in Wien am 19. April 2002 und am 20. April 2002 in Linz, veröffentlicht als Sonderdruck von „Tribüne für die Wahrheit“, 5. Jg. Nr. 2/2002 Dokument, hrg. von der KPÖ-GO Josefinengasse, Wien.

Quelle:
http://www.kurt-gossweiler.de/index.php/revisionismus-in-der-geschichte-der-kommunistischen-und-arbeiterbewegung/86-die-zentralfrage
(Hervorhebungen und Zwischenübershriften von mir, N.G.)



Siehe auch:
Ljubow Pribytkowa: Die Demontage
Die Lüge von den Stalinschen Massenmorden 

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