Freitag, 14. Juli 2017

Marxist sein heute


RotFuchs 234 – Juli 2017

Kann man heute noch Marxist sein?

Prof. Dr. Gerhard Oberkofler

Karl Marx hat „Das Kapital“ vor 150 Jahren publiziert. Dort formuliert er das von ihm entdeckte, tagtäglich sich bestätigende Grundgesetz: „Die Akkumulation von Reich­tum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Skla­verei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol.“ (MEW 23/675) Dagegen behaupten die globalen Eliten durch ihre an den Herrschafts­strukturen teilhabenden, korrupten politischen und ideologischen Bediensteten, erst der Reichtum treibe die Menschheitsgeschichte voran, was der weltweit sich ausbrei­tende Wohlstand beweise.

Der Abgrund zwischen reichen und armen Völkern bleibt gigantisch. Aber wie leicht lassen sich Menschen täuschen! „Wissenschaftliche Wahrheit ist immer paradox vom Standpunkt der alltäglichen Erfahrung, die nur den täuschenden Schein der Dinge wahrnimmt“, resümiert Marx (MEW 16/129). Selbst Sahra Wagenknecht begründet die Fähigkeit des Kapitalismus, sich zu verändern, unter anderem damit, daß es in Deutschland keine Kinderarbeit mehr gebe. Das Wissen, daß „Wohlstand“ direkt von der brutalen Versklavung von Millionen Kindern profitiert, verschwindet. In der früheren Sowjetrepublik Usbekistan in Zentralasien werden massenhaft Kinder auf die Baumwollfelder zum Pflücken getrieben. In Indien oder Bangladesch sind es die Textil- und Kleiderfabriken, in denen unzählige Kinder für das Kaufangebot der Warenhäuser des Westens angebunden werden.

Eine Säule des Wohlstands sind die Waffenexporte. Die auch mit Waffen aus deut­scher Produktion getöteten, verwundeten und traumatisierten Kinder werden von der alltäglichen Erfahrung ausgeblendet. Im Kongo schürfen Kinder unter blutigen Bedingungen Seltene Erden als Rohstoff für die globalen Hersteller von Smart­phones. Eine der politischen Voraussetzungen für diese Barbarei haben im Kongo die Monopole der kapitalistischen Weltmächte schon 1961 geschaffen, indem sie dessen ersten gewählten Ministerpräsidenten, Patrice Lumumba, der für die Beseitigung des Kolonialismus eingetreten war, ermorden ließen. Solche Morde wurden vom US-Imperium für Lateinamerika systematisiert und auf Christen ausgedehnt, die das Herrschaftssystem mit seiner Dialektik von Reichtum und Armut praktisch in Frage gestellt haben. Im November 1989 wurden sechs Jesuitenpatres in El Salvador im Auftrag der USA ermordet, um ihrer im Volk sich ausbreitenden Parteinahme für eine Umkehrung der Geschichte ein Ende zu bereiten. Wenige Wochen nach diesen Morden und nach der illegalen Militärintervention der USA in Panama dankte Václav Havel im Kongreß den USA für deren weltweiten Einsatz „im Interesse der Freiheit“.

Heinz Fischer (bis 8. Juli 2016 Bundespräsident Österreichs), von bürgerlichen Leit­medien zur Symbolfigur „unserer Werte“ hochstilisiert (siehe RF 224, S. 19), hat nach eigener Aussage Marx angelesen, nicht ohne hinterhältig zu versichern, eigentlich sei es ja Marx gewesen, der Josef Stalin das geistige Instrumentarium in die Hand gege­ben habe. Lieber demonstriert Fischer seine Werte mit seiner öffentlich bekundeten und betonten Freundschaft zu Henry Kissinger, der für den Völkermord in Indochina mitverantwortlich ist, oder zu Schimon Peres, der für Israel die Unterdrückung des palästinensischen Volkes mit offener Gewalt und verdeckter Diplomatie als Ziel verfolgt hat.

Die NATO-Propaganda, daß der Angriff auf Serbien 1999 ein „humanitärer Krieg“ ge­wesen sei, könnte direkt aus einer Ansprache von Nazi-Propagandaminister Joseph Goebbels stammen. Nach 2001 orientierte sich Deutschland, als es sich an der Militärintervention in Afghanistan beteiligte, das zweite Mal auf Krieg. Seither sind deutscher Kriegseinsatz und deutsche Rüstung eine selbstverständliche Option der Führungskräfte des friedlichen Europa. Wie der 1973 ausgezeichnete Kissinger ist Barack Obama Friedensnobelpreisträger.

Unmittelbar vor der Verleihung (2009) befahl Obama nach Drohnenaufklärung einen Angriff mit Raketen und Streubomben auf al-Majalah im Jemen. 2011 ließ er die US-Luftwaffe bei der NATO-Bombardierung Libyens mitmachen. Iraks Erdölressourcen waren für die Kriegsverbrecher George Bush und Tony Blair die Motivation, 2003 den Angriffsbefehl auf den Irak zu geben.

Angela Merkel hat Deutschland den Aggressoren USA, Großbritannien, Türkei, Saudi-Arabien und Katar zugeführt, wobei sie zugleich behauptet, es müßten die Ursachen von Flucht und Migration bekämpft werden. Österreichs Außenminister Sebastian Kurz sekundiert in der ihm angemessenen Erbärmlichkeit an der EU-Mauer am Mittel­meer. Alle diese illegalen Kriege werden uns von den bürgerlichen Medien als „gerechte Kriege“ angepriesen. Feststellungen über die Kriegsorientierung des Reich­tums sind weder antideutsch noch antiamerikanisch – sie sind antikapitalistisch.

Es ist falsch, den Marxismus allein auf seine ökonomischen Analysen zu reduzieren. 1848 erhoffen Karl Marx und Friedrich Engels im „Manifest der Kommunistischen Partei“ die Ablösung der sich aus den Eigentums- und Machtverhältnissen ergeben­den Klassengegensätze durch „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (MEW 4/482). Mit dem wirk­lichen Glück des Menschen erübrige sich dann für den Menschen auch die Religion als illusorisches Glück.

Der im Auftrag des amerikanischen Imperiums ermordete Befreiungstheologe Ignacio Ellacuría SJ dachte, daß die „Kreuzigungssituation“ der großen Mehrheit der Mensch­heit einer sozialen Ordnung entspringe, „die von einer Minderheit gefördert und auf­rechterhalten wird. Diese Minderheit übt ihre Herrschaft durch ein Ensemble von Faktoren aus, die als solches Ensemble und in ihrer konkreten historischen Wirklich­keit als Sünde betrachtet werden müssen.“

Ellacuría läßt es nicht bei einem mitleidigen Blick bewenden, denn die „Tatsache der Kreuzigung und des Todes allein ist keine Erlösung“. Nur die Volksmassen selbst können sich aus den Ketten befreien und „durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen“ ihren Beitrag zur Schaffung des neuen Menschen und der neuen Erde leisten.

Mit der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution von 1917 in Rußland wurde zwar das Ziel einer solchen Befreiung des Menschen nicht erreicht, aber die Möglichkeiten des Menschen sind damals global offenkundig geworden.

Was tun? Lenin hat formuliert: „Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revo­lutionäre Bewegung geben.“ (LW 5/379) Rezepte dafür gibt es keine. „Die Wider­sprüche sind die Hoffnungen“ – mit dem großen Marxisten Bertolt Brecht kann der Marxist so weiter denken und handeln!

Univ.-Prof. i. R. Gerhard Oberkofler (Innsbruck) studierte Geschichte und Kunst­geschichte, ist Wissenschaftshistoriker und leitete 19 Jahre lang bis zu seiner Pensionierung das Innsbrucker Uniarchiv. Zahlreiche Publikationen, zuletzt ein Buch über den Schweizer Marxisten Konrad Farner sowie Fragmente zum Geden­ken an den Friedenskämpfer Daniel Berrigan SJ (siehe RF 224, Seite 12).



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen