Freitag, 26. Mai 2017

Aktuell: Das Kapital - Marx


Aus: Ausgabe vom 26.05.2017, Seite 12 / Thema


Eine folgenreiche Publikation


Vorabdruck. Vor 150 Jahren erschien »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie« von Karl Marx – ein Jahrhundertwerk, das kaum an Aktualität verloren hat


Von Michael R. Krätke

Michael R. Krätke: Kritik der politischen Ökonomie heute. Zeitgenosse Marx. VSA-Verlag, Hamburg 2017, 248 Seiten, 19,80 Euro

Michael R. Krätke ist Professor für Politische Ökonomie an der Faculty of the Arts and Social Sciences der Universität Lancaster in Großbritannien.

Anfang Juni erscheint im Hamburger VSA-Verlag der Band »Kritik der politischen Ökonomie heute. Zeitgenosse Marx« von Michael R. Krätke. Wir dokumentieren im folgenden einen Auszug aus dem zweiten Kapitel »Marx – unser Zeitgenosse«. Die Redaktion dankt dem Autor und dem Verlag für die freundliche Genehmigung zum Vorabdruck. (jW)

Das Marxsche »Kapital« ist ein sperriges Werk. Nicht, weil es schwer zu lesen wäre. Es ist sogar in großen Teilen höchst amüsant geschrieben, voller überraschender Wendungen und reich an literarischen Anspielungen. Die ganze Weltliteratur wird aufgeboten, um das Drama der Kapitalherrschaft, seiner Anfänge, seiner Entwicklung, seiner gnadenlosen Logik, seiner verwirrenden Mysterien darzustellen. Die kraftvolle, farbige Schreibe des Autors hat noch jede und jeden in den Bann geschlagen. Aber das Buch kommt uns heute seltsam vor, es passt so gar nicht zum Habitus der offiziellen, akademischen Wissenschaft, es lässt sich in keine der gängigen Schablonen zwängen. Was ist das nun? Geschichte oder Theorie oder beides durch- und nebeneinander? Ist es Ökonomie oder Soziologie, oder handelt es sich um Ideologiekritik? Marx’ Werk ist in einem prädisziplinären Zeitalter entstanden, die politische Ökonomie, von der es handelt, war auch bei den damaligen »Fachökonomen« noch eine ganze Sozialwissenschaft. Daher passt es in keine der bürokratisch gedrechselten Schubladen, die wir heute als »Disziplinen« im Wissenschaftsbetrieb kennen. Deshalb sollte man auch nicht in den Fehler verfallen, den »ganzen Marx«, so wie er uns im »Kapital« entgegentritt, wieder fein säuberlich nach Bürokratenlogik zu zerlegen in Marx der Ökonom, Marx der Historiker, Marx der Soziologe, Marx der Philosoph.

Im »Kapital« geht es jedenfalls um »politische Ökonomie«, in der, wie Marx wiederholt sagt, die »Anatomie« oder die »Physiologie« der bürgerlichen Gesellschaft zu finden ist. Es geht, nach dem ursprünglichen Plan zu urteilen, um alles das, was die politischen Ökonomen zu Marx’ Zeiten studierten. Nicht in allen Details natürlich, die Marx in späteren »Spezialuntersuchungen« abhandeln wollte, sondern um das, was die englischen Ökonomen wie David Ricardo und John Stuart Mill als die »principles of political economy« zu bezeichnen pflegten. 1857/58 notierte sich Marx in verschiedenen Varianten einen umfangreichen Plan für das Gesamtwerk, das insgesamt sechs Bücher umfassen sollte.

Umfassende Untersuchung



Angefangen mit den »Kategorien, die die innere Gliederung der bürgerlichen Gesellschaft« ausmachen, wie Kapital, Lohnarbeit und Grundeigentum, die zugleich die ökonomische Grundlage der »fundamentalen Klassen« (also nicht aller Klassen) dieser Gesellschaft bestimmen. Dann sollte ein Buch (oder Abschnitt) folgen über den modernen Staat, in seiner besonderen ökonomischen Existenz betrachtet, gefolgt von einer theoretischen Untersuchung der internationalen Verhältnisse (»Internationale Teilung der Arbeit. Internationaler Austausch. Ein- und Ausfuhr. Wechselkurs«). Den Abschluss sollte die Theorie des Weltmarkts bilden, also der Form, in der die bürgerliche Gesellschaft über den Staat und die internationalen Beziehungen hinausgreift und die kapitalistische Produktion zur »Totalität«, zu einem weltumspannenden Ganzen wird. Darauf sollte die Theorie der Krisen folgen, die Marx von Anfang an als »Weltmarktungewitter«, als Weltwirtschaftskrisen sah. Ein Riesenprogramm! Ein Programm, das Marx in dieser Form auch nie realisiert hat. Aber halten wir fest: Die Kritik der politischen Ökonomie sollte nach dem ursprünglichen Plan auch eine Untersuchung über Staat und Politik enthalten. Sie zielte auf eine umfassende Untersuchung der modernen Weltmarktkrisen.

Im »Kapital«, das Marx nach einem schrittweise geänderten Konzept ab 1864/65 in mehreren Versionen zu Papier brachte, sind alle diese Themen noch stets vorhanden, der ursprüngliche Plan wurde nie vollständig aufgegeben. Das »Kapital« enthält daher auch Elemente einer Krisentheorie. Im Marxschen »Kapital« geht es um Theorie, um die »allgemeine Untersuchung« des Gegenstands, der kapitalistischen Produktionsweise. Ein Gegenstand, der daher in abstrakter Form, als »reine«, »ideale« oder voll entwickelte kapitalistische Produktionsweise präsentiert wird. Es geht nicht um eine Geschichte des Kapitalismus, für die die allgemeine Theorie gerade erst die theoretischen »Schlüssel«, die notwendigen Begriffe liefern soll. Es geht folglich auch nicht um eine Darstellung des britischen industriellen Kapitalismus zu seinen viktorianischen Hochzeiten, wie viele Interpreten gemeint haben. Obwohl Marx, wie er klar sagt, England als das »klassische« Land der modernen kapitalistischen Entwicklung betrachtet und sich die meisten Daten und Illustrationen des Buchs auf »englische Verhältnisse« beziehen. Aber nicht nur von England ist die Rede, sondern von der ganzen Welt. Marx will eine Theorie formulieren, die für die gesamte Geschichte des Kapitalismus ebenso gültig ist wie für den Kapitalismus als Weltsystem, in allen seinen regionalen und nationalen Varianten. Was den »Kapitalismus« im 16. Jahrhundert von dem Kapitalismus des 19. Jahrhunderts unterscheidet, was »englischer« Kapitalismus im Unterschied zum »deutschen« ist, lässt sich erst klären, wenn das, was allen gemeinsam ist, nämlich »Kapitalismus« zu sein, geklärt wurde.

Dennoch ist diese allgemeine Theorie keine »reine« Theorie im Sinne der heutigen Schulökonomie. Es wird eben nicht willkürlich von allem und jedem abstrahiert, jede Marxsche Abstraktion hat einen guten methodischen Sinn. Weil Marx den Kapitalismus selbst als eine historisch spezifische Produktionsweise auffasst, als eine Produktionsweise, die unter bestimmten historischen Bedingungen an einem bestimmten historischen Ort entstanden ist, die einen Anfang und ein Ende in der historischen Zeit hat, kann und will er keine ewigen, ohne Zeit und Ort gültigen ökonomischen Verhältnisse konstruieren.

Diese Theorie ist mit Geschichte geladen, aus zwei Gründen: Alle ökonomischen Begriffe, die Marx entwickelt und gebraucht, tragen erstens eine »historische Spur«. Sie sind nicht als Universalkategorien gedacht, die für alle Zeiten gelten. Es geht gerade um ihre spezifische Bedeutung im Kontext der modernen kapitalistischen Produktionsweise. Waren, Geld, Austausch, Märkte, ja sogar Kapital und Lohnarbeit sind alt, es gibt sie schon lange vor der modernen Ökonomie, in fernen, vorkapitalistischen Zeiten. Daher muss Marx von der Allgemeinheit der »Ware als solcher« oder des »Geldes als solchem«, von der Abstraktion »Markt als solcher« zu den immer noch allgemeinen Bestimmungen kommen, die den Begriff der »Ware« bzw. des »Geldes« oder des »Marktes« im Kapitalismus ausmachen. Das tut er auch – er geht von der »Ware als solcher« zur »Ware als Produkt des Kapitals«. An dieser wie an allen übrigen Kategorien der politischen Ökonomie zeigt er ihre jeweilige »historische Spur« auf.

Gesellschaftliche Bewegungsgesetze



Zweitens will Marx, wie er oft genug sagt, im »Kapital« die »Bewegungsgesetze« der modernen Gesellschaft bzw. der kapitalistischen Produktionsweise aufdecken. Um Bewegungen in Raum und historischer Zeit geht es, denn die bürgerliche Gesellschaft ist nicht als ein Ensemble von Dingen, sondern als ein Ensemble von Verhältnissen und Prozessen zu begreifen. Sobald die Grundform eines solchen ökonomischen Prozesses – wie z. B. der »Warenzirkulation« oder der Prozesse, die zusammengenommen die typische Bewegung, den »Kreislauf« und periodischen »Umschlag« eines individuellen Kapitals ausmachen – begriffen ist, sind wir noch nicht am Ende. Dann zeigt Marx, dass diese ökonomischen Prozesse mehr sind als bloße, immergleiche Bewegungsformen. Sie beinhalten Veränderungen und Entwicklungen. Marx’ berühmte »Bewegungsgesetze« der modernen Gesellschaft sind daher auch »Entwicklungsgesetze«, die die Logik und die Richtung von Veränderungen in Raum und Zeit angeben sollen.

Die allgemeine Theorie im »Kapital« ist auf eine ganz besondere Weise aufgebaut und gegliedert. Die stets wiederholte Behauptung, die Marxsche Theorie sei logisch inkonsistent, stimmt nicht, und sie wird durch ständige Wiederholung auch nicht besser. Es gehört eben zur Eigenart der Marxschen Argumentation, dass das, was er über »Wert« und »Geld« zu sagen hat, nicht in einem bestimmten Kapitel zu finden ist, sondern über viele Zwischenstationen hinweg, Schritt für Schritt, auf verschiedenen Abstraktionsebenen entwickelt wird. Die Geldtheorie des Anfangs (im dritten Kapitel des ersten Buchs) ist in der Tat nur der Anfang, nicht das Ende der ganzen Theorie des Geldes im modernen Kapitalismus, die zugleich den modernen Kapitalismus als das historisch späteste und höchstentwickelte »Geldsystem« vorführen soll. Das Ende erreicht Marx erst – nach dem Durchgang durch den zweiten Band, in dem die für seine Theorie zentrale Unterscheidung zwischen »Geld als Geld« und »Geld als Kapital« entwickelt wird – im 5. Abschnitt des dritten Bandes, wo er zeigt, dass und wie das Geld im entwickelten Kredit- und Banksystem notwendigerweise, aber folgenreich in allen seinen Funktionen durch den Kredit (in verschiedenen Formen) ersetzt und verdrängt wird. Auf den Finanzmärkten werden es dann besondere Formen des »fiktiven Kapitals« sein, die einzelne, nicht alle Geldfunktionen wahrnehmen (z. B. wenn Unternehmen mit neu ausgegebenen Aktien gekauft und bezahlt werden, wie heute üblich). Beide – die Substitution des Geldes durch den Kredit und die Substitution des Geldes (und des Kredits) durch fiktives Kapital – bilden den Fluchtpunkt, auf den hin die Marxsche monetäre Theorie angelegt ist. Sie ist auf sehr bemerkenswerte Weise – einzigartig in der politischen Ökonomie – mit der Theorie des Wertes verbunden.

Dialektische Theorie



Eine solche systematisch aufgebaute, dialektisch konstruierte Theorie widersprach den Lese- und Denkgewohnheiten vieler Zeitgenossen, auch der philosophisch gebildeten. Sie stieß daher auf Unverständnis. Marx räumte ein, dass die Sache nicht leicht verständlich, die Darstellung nicht vollendet sei, wenn selbst »gute Köpfe« Mühe hätten, seiner Argumentation zu folgen. Er war durchaus nicht der Ansicht, dass er die ideale Form der Darstellung schon gefunden habe und arbeitete weiter daran. Ebenso wenig kann man behaupten, dass Marx seine eigene Darstellung durch Popularisierung verdorben habe. Die scheinbaren Abschweifungen und »Illustrationen«, die sich im »Kapital« finden, haben allesamt ihren guten, theoretischen Sinn. Da Marx zwar Schüler Hegels war, aber kein Hegelianer, vielmehr die »Hegelei«, die reine Begriffskonstruktion, die »Ableiterei« zeitlebens scharf kritisiert hat und reine Begriffsakrobatik ohne jede empirische Grundlage verachtete, ist das auch nicht verwunderlich. Stolz war er darauf, den höchst verwickelten Zusammenhang der ökonomischen Verhältnisse und Prozesse gefunden und theoretisch nachgebaut zu haben. Wirklich populär, im Sinne von jedermann ohne Weiteres leicht verständlich, konnte dergleichen nicht sein. In einem solchen Theoriegebäude, in den drei dicken, systematisch aufgebauten Bänden, in ihren vielen Stockwerken (Abstraktionsebenen) und (Kreuz- und Quer-)Verbindungen, muss man sich erst einmal zurechtfinden. Das ist auch deshalb nicht ganz einfach, weil das Gebäude nie ganz fertiggestellt wurde. Aber die Bauprinzipien des Ganzen sind schon erkennbar und nachzuvollziehen.

Man kann sich das klarmachen, indem man sich das Verhältnis von »Anfang« und »Schluss« des »Kapital« vor Augen führt. Am Anfang, im ersten Abschnitt des ersten Buchs des »Kapital« ist hochabstrakt von einem Teilprozess der modernen Ökonomie die Rede und von einigen ihrer elementaren Formen, also vom Austausch, von Ware und Geld, von den Formen des Zirkulation, die zugleich die Form (nicht das Ganze) des »Marktprozesses« in abstracto beschreiben. Dass es sich um einen Teilprozess handelt, dass diese Formen in der Tat »Elementarformen« sind, die in abgewandelter, entwickelter Gestalt immer wiederkehren werden, kann man aber am Anfang noch nicht wissen.

Das versteht man erst, wenn man zu den Analysen der Gesamtprozesse kommt, von denen es im »Kapital« mehrere gibt. Am Schluss des Ganzen sollte nach Marx’ Plan von 1862 eine erneute Darstellung von Zirkulation und Markt kommen, aber jetzt mit allen inzwischen auf der langen Reise vom »Einfachsten« zum »Komplexesten« hinzugekommenen Bestimmungen. Dann erst kann der Theoretiker Marx dem Leser erklären, warum und in welchem Sinne der alltägliche Marktprozess zugleich ein notwendiges Element und eine Oberfläche, ein Teilprozess ist, der mit allen dahinter und davor vor sich gehenden gesellschaftlichen Prozessen zusammenhängt.

Ganz so ist der letzte Abschnitt des dritten Bandes in der uns überlieferten, fragmentarischen Form nicht geworden. Aber die Intention ist deutlich. Der letzte Abschnitt endet mit einem Kapitel über »Die Klassen«, also mit dem, womit die klassischen Ökonomen wie Ricardo ganz selbstverständlich anfangen. Marx sah das anders. Klasse ist ein hochkomplexer Begriff, der erst auf der Grundlage der Analyse der kapitalistischen Produktionsweise entwickelt werden kann. In der Zirkulation, wie wir sie kennen, erscheinen nur Marktakteure, formell freie »Privatpersonen« und »Privateigentümer«. Erst am Schluss wissen wir genug über die Verhältnisse, in denen diese Privatleute produzieren und ökonomisch agieren, dass wir sie und ihre scheinbar autonomen Handlungen in den Gesamtzusammenhang der entwickelten kapitalistischen Produktionsweise einordnen können.

Neue Wissenschaft



Eine »Ökonomie« im herkömmlichen Sinne ist das unvollendete »Kapital« nicht, schon gar keine Übung in »reiner« ökonomischer Theorie. Auch keine Philosophie der politischen Ökonomie, eine Reflexion darüber, wie »ökonomische Wissenschaft« möglich ist und was den besonderen Charakter und logischen Status »ökonomischer« Begriffe ausmacht. Den Untertitel des gesamten Werks, »Kritik der politischen Ökonomie«, sollte man schon sehr ernst nehmen. Marx unternahm den Versuch einer »wissenschaftlichen Revolution«, wollte eine neue Sozialwissenschaft begründen. Das wollte er mit einem höchst ehrgeizigen Kritikprogramm erreichen: Nicht eine, gleich dreierlei Kritiken, die miteinander zusammenhängen und einander bedingen, wollte er leisten. Erst alle drei Kritiken zusammen machen das aus, was Marx die »Kritik der politischen Ökonomie« genannt hat. Erst aus dem Zusammenhang aller drei Kritiken erschließt sich, warum Marx die »Kritik der politischen Ökonomie«, so wie sie von den Sozialisten des 19. Jahrhunderts in England und Frankreich geübt worden war, für falsch hielt.

Erstens ging es um die Kritik der modernen bürgerlichen Gesellschaft, insbesondere ihrer ökonomischen Grundlage, des modernen Kapitalismus. Der moderne Kapitalismus ist nicht schön, nicht gut, nicht gerecht, schon gar nicht stabil. Er ist ein ökonomisches System, das von sozialen Ungleichheiten lebt und diese immer wieder erzeugt. Eine Produktionsweise, die die Produktion von materiellem Reichtum immer von Neuem, immer erfindungsreicher ankurbelt, die die Produktivität der Arbeit ständig erhöht, die eine technologische Revolution nach der anderen hervorbringt, die alle Springquellen des Reichtums sprudeln lässt, aber zugleich Armut und Elend in allen Formen erzeugt.

Der moderne Kapitalismus ist aber noch mehr, nämlich eine gründlich »verkehrte Welt«. Eine Welt von Abhängigkeiten, in der den Beteiligten, die glauben, handelnde, autonome Personen zu sein, auch die elementarsten ökonomischen Zusammenhänge noch in verdrehter Form zu Bewusstsein kommen. Eine Welt also, die nicht nur aus materiellen Dingen, aus eingespielten Verhältnissen besteht, sondern ebenso sehr aus irrationellen, aber gesellschaftlich akzeptierten, überaus mächtigen Denk- und Verhaltensweisen. Unabhängig von individuellen Denkfehlern, von interessierten Lügen stellt sich die Welt des real existierenden Kapitalismus als eine Welt von »Sachzwängen«, von scheinbaren »Naturgesetzlichkeiten« oder scheinbaren »objektiven Notwendigkeiten« dar, die der offiziell verkündeten Freiheit und Rationalität (also auch Handlungs- und Wahlfreiheit) jedes Marktmenschen Hohn sprechen. Diese verkehrte Welt des Kapitalismus, seine Alltagsreligion hat Folgen – für individuelles wie für gesellschaftliches Handeln. Oft genug üble, weil die Logik der Sachzwänge durchaus keine individuelle, geschweige denn kollektive Rationalität garantiert. Auf dem Markt, so Marx, ist der gesellschaftliche Verstand nicht zu Hause.

Selbstzerstörerisches System



Die Pointe dieser Kritik ist klar und hat Sozialwissenschaftler immer wieder fasziniert: Der Kapitalismus, so Marx, bringt durch die interessierten Handlungen seiner Akteure, aber ohne dass sie es wissen oder wollen, selbstdestruktive Tendenzen hervor, die ungehemmte kapitalistische Entwicklung zerstört die Grundlagen der modernen Produktion des Reichtums, die Natur ebenso wie die lebendige, menschliche Arbeitskraft. Der Kapitalismus, so sah es Marx, ist ein widersprüchliches System, das einer perversen Logik folgt und dabei weder Maß noch Ziel kennt. So ist der Kapitalismus dabei, seine eigenen Voraussetzungen und Bedingungen zu schaffen, Bedingungen, die seine volle, ungehemmte Entfaltung gestatten. Nach der gleichen Logik ist er dabei, seine eigenen Grundlagen und Voraussetzungen, die materiellen ebenso wie die mentalen und moralischen, zu zerstören. Sehr früh schon hat Marx diesen Grundgedanken formuliert. Im »Kapital« zeigt er nun im einzelnen, wie und warum das funktioniert, wie die selbstzerstörerische Irrationalität der kapitalistischen Produktionsweise in der Praxis des ökonomischen Alltagslebens wirkt.

Zweitens geht es im »Kapital« um die Kritik der gängigen ökonomischen Theorien, d. h. die Kritik der gängigen Lehrmeinungen der klassischen und zeitgenössischen Ökonomen, die schon damals, im Großbritannien des 19. Jahrhunderts, die Politik und die öffentlichen Diskurse bestimmten. Die Pointe dieser vielen Kritiken, die sich in allen drei Bänden des »Kapital« finden, ist klar: Selbst die hellsten Köpfe unter den bürgerlichen Ökonomen, selbst die Leute, die keine Apologeten und Ideologen sind, verstehen ihre eigene ökonomische und soziale Welt nicht. Marx attackiert daher im »Kapital« keineswegs nur das Schweigen, die Gedankenlosigkeit der Ökonomen. Er kritisiert das, was die Ökonomen sagten, die Gesetze, die sie aufstellten, ebenso scharf und gründlich wie das, wovon sie schwiegen. Gleich zu Anfang greift er die Art und Weise an, wie die klassischen Ökonomen mit den Kategorien von Wert und Tauschwert umgesprungen sind – gedanken- und begriffslos. Im dritten Kapitel des ersten Buchs beginnt Marx mit der Kritik der sogenannten Quantitätstheorie des Geldes, also der seit dem 16. Jahrhundert immer aufs Neue wiederholten Behauptung, dass es die Menge des umlaufenden Geldes sei, was das Niveau der Preise bestimme, dass eine Inflation folglich durch Geldvermehrung oder »zuviel« Geld in der Zirkulation zu erklären sei. Diese falsche (und schon von Marx’ Vorgängern in Ansätzen widerlegte) Theorie bestimmt den sogenannten (Neo-)Monetarismus bis zum heutigen Tag, auf diesem Dogma beruht (unter anderem) die Politik der Bundesbank wie die Politik der Europäischen Zentralbank.

Zum dritten – last not least – geht es um die »Kritik der ökonomischen Kategorien«, der Kategorien also, die nicht nur in der ökonomischen Theorie, sondern vor allem im Alltagsdenken eine zentrale Rolle spielen. Es geht um die »ökonomische Denkweise«, die ökonomischen Kategorien selbst. Schon 1844/45 haben Engels – er ging damals voran – und Marx in ihren allerersten Schriften zur Kritik der damaligen Philosophie und Sozialwissenschaft betont, dass es um eine Kritik gehen müsse, die den »Standpunkt der Nationalökonomie« selbst in Frage stelle. Es ging also nicht (nur oder in erster Linie) darum, sich in den theoretischen Streit der politischen Ökonomen untereinander »von links« einzumischen. Auf heute bezogen: Marx hatte nicht im Sinn, im Streit der ökonomischen Schulen und ihrer Häupter Partei zu ergreifen, etwa für die Keynesianer oder für bestimmte Postkeynesianer gegen die Monetaristen oder gegen die Neoklassiker. Er will sie alle kritisieren, den »ökonomischen (Fach)standpunkt« als solchen angreifen, also die Vorstellung, dass die bestehenden ökonomischen Verhältnisse, so wie sie nun einmal zugleich natürliche und vernünftige Verhältnisse sind, die »ewigen«, unabänderlichen »Naturgesetzen« gehorchen.

Marx nimmt also die grob materialistische, fetischistische Denkweise der Ökonomen aufs Korn. Er wirft ihnen vor, dass sie weder historischen Sinn noch historische Kenntnisse haben, dass sie weder abstrahieren noch differenzieren können, sondern sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – in den plattesten Alltagsweisheiten von »Angebot und Nachfrage« herumtreiben und diese kritik- und gedankenlos reproduzieren. Er wirft ihnen mit einem Wort metaphysisches und falsches abstraktes Denken vor, das Zusammenhänge nicht begreift und Verhältnisse nicht erfasst, geschweige denn Veränderungs- und Entwicklungsprozesse. Das ist kein Zufall, die »bürgerliche Denktretmühle«, wie Marx diese Form des metaphysischen Denkens nennt, kommt nicht von ungefähr. Der moderne Kapitalismus hat eine wahre Alltagsreligion hervorgebracht, auf der seine ungebrochene Herrschaft als Wirtschaftssystem beruht – von der zeitweiligen Hegemonie einzelner wirtschafts- und finanzpolitischer Doktrinen wie etwa des Neoliberalismus noch ganz abgesehen. Bis zum heutigen Tag beherrscht diese fetischistische Alltagsreligion die Köpfe, bis zum heutigen Tag glauben Ökonomen wie die praktisch tätigen Kapitalisten z. B., dass »Kapital« irgendwie »Wert« schafft, also »produktiv« ist, sie glauben ganz selbstverständlich, dass Grund und Boden einen Preis haben muss und an »Wert« gewinnen oder verlieren kann, so wie sie auch daran glauben, dass Wertpapiere eine »Rendite« abwerfen und alles und jedes einen Preis hat. So wie sie glauben, dass der Mensch von Natur aus für den »Arbeitsmarkt« bestimmt und jedermann eigentlich ein Kapitalist ist, der »investiert« oder »desinvestiert, so wie sie glauben, dass der »Markt« sich selbst reguliert und immer recht hat.

Ware und Kapital als Fetischobjekte



Daher finden sich im Marxschen »Kapital« immer wieder Aussagen über die verschiedenen Formen des ökonomischen Alltagsglaubens, des praktischen Aberglaubens der Kapitalisten und Marktmenschen ebenso wie des theoretischen Aberglaubens der Ökonomen. Den nennt Marx »Fetischismus« – eigentlich eine religionswissenschaftliche Kategorie, die den Glauben bestimmter »Natur«völker beschreibt –, weil die Ökonomen und die »praktischen Männer« an die Magie von übersinnlichen Dingen, die etwas tun oder bewirken und deren vermeintlicher »Macht«, dem »Sachzwang«, sie sich daher als vermeintlich rationale Individuen unterwerfen.

Einige Enthusiasten, vor allem unter den Anhängern der allerneuesten »neuen Marx-Lektüre«, wollen es bei der dritten Kritik bewenden lassen. Die Fundamentalkritik sei die einzige, auf die es ankomme, alles andere ginge eigentlich zu weit und könne ohne Verluste weggelassen werden. Aber es wäre ein völliges Missverständnis, aus der Marxschen Theorie und Kritik der diversen Fetische – vom Warenfetisch bis zum Kapitalfetisch usw. – folgern zu wollen, er habe keine richtigen, stimmigen »ökonomischen Gesetze« aufstellen wollen, schon gar keine quantitativen oder quantifizierbaren Aussagen machen wollen. Damit wird Marx von seinen posthumen Verehrern wieder zum harmlosen Philosophieprofessor ernannt, der er nie war.








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