Mittwoch, 11. Februar 2015

Lawrow auf Sicherheitskonferenz



Lawrow auf der Münchner Sicherheitskonferenz


Die Rede des russischen Außenministers Sergej Lawrow bei der 51. SIKO am 7. Februar 2015.


Übersetzung-Susanne Brammerloh / russland.RU


Sehr geehrte Damen und Herren,

Herr
Wolfgang Ischinger hat das Thema „Kollaps der Weltentwicklung“ auf die Tagesordnung gesetzt. Man muss zustimmen, dass die Ereignisse bei weitem nicht nach einem optimistischen Szenario verlaufen. Aber die Argumentation mancher unserer Kollegen, es sei zu einem plötzlichen und schnellen Zusammenbruch der seit Jahrzehnten herrschenden Weltordnung gekommen, können so nicht hingenommen werden.

Es ist eher umgekehrt – die Ereignisse des letzten Jahres haben gezeigt, dass unsere Warnungen hinsichtlich der Existenz von tiefen Systemproblemen bei der Organisation der europäischen Sicherheit und in den internationalen Beziehungen im Ganzen gerechtfertigt waren. Ich möchte an die
Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin erinnern, die er von dieser Tribüne vor acht Jahren gehalten hat.

Die Konstruktion der Stabilität, die sich auf die UN-Satzung und die Prinzipien von Helsinki gestützt hat, ist schon lange untergraben worden – durch die Handlungen der USA und ihrer Verbündeten in Jugoslawien (die Bombardements dort), im Irak, in Libyen, mit der Erweiterung der NATO nach Osten und der
Schaffung von neuen Demarkationslinien. Das Projekt der Errichtung eines „europäischen Hauses“ ist gerade deshalb nicht umgesetzt worden, weil unsere Partner im Westen sich nicht von den Interessen der Schaffung einer offenen Sicherheitsarchitektur bei geneseitiger Achtung der Interessen leiten ließen, sondern von den Illusionen und Überzeugungen der Sieger im Kalten Krieg. Die im Rahmen der OSZE und des Russland-NATO-Rates feierlich angenommenen Verpflichtungen, die eigene Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit der anderen zu gewährleisten, wurden in der Praxis ignoriert.

Das Problem der Raketenabwehr ist ein schillerndes Beispiel für den destruktiven Einfluss einseitiger Schritte auf dem Gebiet militärischer Aktivitäten, die den elementaren Interessen anderer Staaten zuwiderlaufen. Unsere Angebote zur gemeinsamen Arbeit bei der Raketenabwehr wurden zurückgewiesen. Stattdessen wurde uns vorgeschlagen, bei der Schaffung der globalen amerikanischen Raketenabwehr mitzumachen, streng nach den Richtlinien aus Washington. Wie wir schon mehrmals betont und anhand von Tatsachen erklärt haben, birgt diese Raketenabwehr reelle Risiken für die russischen Kräfte der atomaren Eindämmung.

Jede beliebige Handlung, die die strategische Stabilität untergräbt, zieht unweigerlich Gegenmaßnahmen nach sich. Damit wird dem gesamten System der internationalen Verträge auf dem Gebiet der Waffen-Kontrolle, deren Lebensfähigkeit unmittelbar vom Faktor der Raketenabwehr abhängt, ein langfristiger Schaden zugefügt.
Wir verstehen nicht einmal, womit diese amerikanische Obsession, eine globale Raketenabwehr zu schaffen, zusammenhängt. Mit dem Streben nach unanfechtbarer militärischer Vorherrschaft? Mit dem Glauben an die Möglichkeit, Probleme technisch zu lösen, die ihrem Wesen nach politische sind? Wie dem auch sei: die Raketengefahren haben nicht abgenommen, aber im Euro-Atlantik ist ein starker Reizfaktor entstanden, den zu überwinden sehr viel Zeit brauchen wird. Wir sind dazu bereit. Ein anderer destabilisierender Faktor war die Weigerung der USA und anderer NATO-Mitglieder, die Vereinbarung über die Anpassung des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) zu ratifizieren, und das hat diesen Vertrag begraben.

Dabei versuchen unsere amerikanischen Kollegen in jeder von ihnen selbst geschaffenen schwierigen Situation, die Schuld auf Russland abzuwälzen. Nehmen wir die in letzter Zeit aufgelebten Diskussionen um den Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (
INF). Die Experten sind gut mit den Handlungen der USA vertraut, die dem Geist und den Buchstaben dieses Dokuments entgegenlaufen. So hat Washington im Rahmen der Errichtung eines globalen Raketenabwehrsystems ein großangelegtes Programm zur Schaffung von Zielflugkörpern entfaltet, deren Charakteristiken analog mit durch den INF-Vertrag verbotenen landgestützten ballistischen Raketen sind oder diesen sehr nahe kommen. Die von den USA breit verwendeten Kampfdrohnen fallen unter die vertraglich festgelegte Definition von landgestützten Flügelraketen mittlerer Reichweite. Der Vertrag verbietet ausdrücklich Abschussvorrichtungen für Abfangflugkörper, die bald in Rumänien und Polen aufgestellt werden sollen, denn von ihnen können Flügelraketen mittlerer Reichweite gestartet werden.

Die amerikanischen Kollegen weigern sich, diese Fakten anzuerkennen und behaupten, sie hätten „begründete“ Vorwürfe gegen Russland hinsichtlich des INF-Vertrags, aber sie bemühen sich, Konkretes außen vor zu lassen.

Unter Berücksichtigung dieser und vieler anderer Faktoren zu versuchen, die jetzige Krise mit den Ereignissen des letzten Jahres in Zusammenhang zu bringen, bedeutet unserer Meinung nach, sich einer
gefährlichen Selbsttäuschung hinzugeben.

Es kommt zur Kulmination des im letzten Vierteljahrhundert von unseren westlichen Kollegen gefahrenen Kurses auf die Bewahrung ihrer dominanten Stellung in den Weltangelegenheiten und die Ergreifung des geopolitischen Raums in Europa mit allen Mitteln. Von den GUS-Staaten – unseren nächsten Nachbarn, die mit uns seit Jahrhunderten wirtschaftlich, humanitär, historisch, kulturell und sogar familiär verbunden sind – wird die Wahl gefordert:
„entweder mit dem Westen oder gegen den Westen“. Das ist die Logik eines Spiels mit Null-Resultat, das alle doch eigentlich als Teil der Vergangenheit hinter sich lassen wollten.

Auch die strategische Partnerschaft zwischen Russland und der Europäischen Union, die der Entwicklung von Mechanismen den Weg der Konfrontation des gegenseitig vorteilhaften Handelns vorgezogen hat, hat die Härteprüfungen nicht überstanden. Da muss man natürlich an die nicht wahrgenommene Möglichkeit der Umsetzung der im Juni 2010 in Merseburg von Kanzlerin Merkel vorgeschlagenen Initiative zur Einrichtung eines Russland-EU-Ausschusses zu außenpolitischen und Sicherheitsfragen auf der Ebene der Außenminister denken. Russland hat diese Idee unterstützt, die Europäische Union hat sie aber verworfen. Ein solcher Mechanismus des ständigen Dialogs (wenn er denn geschaffen worden wäre) hätte es erlaubt, operativer und effektiver Probleme anzugehen und rechtzeitig gegenseitige Besorgtheiten aus dem Weg zu räumen.
Was die Ukraine betrifft, haben unsere amerikanischen Kollegen und unter ihrem Einfluss auch die Europäische Union in jeder Etappe der Entwicklung der Krise Schritte unternommen, die zur Eskalation führten. So war es, als die EU sich weigerte, unter Beteiligung Russlands die Folgen der Einführung des Wirtschaftsteils des Assoziierungsabkommens mit der Ukraine zu erörtern, und davor ging es um die gegen die Regierung gerichteten Unruhen. So war es auch, als die westlichen Partner den Kiewer Behörden ein ums andere Mal „Ablassbriefe“ erteilten, und Kiew statt das Versprechen zu erfüllen, einen gesamtnationalen Dialog aufzunehmen, eine großangelegte Militäroperation begann, wobei es die eigenen Bürger, die mit dem verfassungswidrigen Machtwechsel und den ultranationalen Exzessen nicht einverstanden waren, zu „Terroristen“ stempelte.

Wir können uns nur sehr schwer erklären, warum sich die universellen Prinzipien der Regelung von inneren Konflikten, die vor allem einen inklusiven politischen Dialog zwischen den Protagonisten vorsehen, im Bewusstsein vieler unserer Kollegen nicht auf die Ukraine erstrecken. Warum unsere Partner zum Beispiel hinsichtlich Afghanistan,
Libyen, Irak, Jemen, Mali und Südsudan die Regierungen hartnäckig dazu aufrufen, sich mit der Opposition, mit Aufständischen und in manchen Fällen auch mit Extremisten zu einigen – und bezüglich der Krise in der Ukraine anders auftreten, indem sie bei der Gewaltoperation Kiews Nachsicht zeigen, bis hin zur Rechtfertigung der Anwendung von Kassettenbomben.

Leider sind unsere westlichen Kollegen geneigt, vor allem die Augen zu verschließen, was die Kiewer Behörden sagen und machen, das Entfachen von fremdenfeindlichen Stimmungen eingeschlossen. Ich erlaube mir ein Zitat: „Der ukrainische Sozialnationalismus sieht die ukrainische Nation als Blut- und Rassegemeinschaft.“ Und weiter: „Die Frage der totalen Ukrainisierung im künftigen sozialnationalistischen Staat wird im Laufe von drei bis sechs Monaten mit Hilfe einer harten und ausgewogenen Staatspolitik gelöst werden.“ Autor ist der Abgeordnete der Obersten Rada Andrej Bilezki – Befehlshaber des Regiments „Asow“, das aktiv an den Kampfhandlungen im Donbass teilnimmt. Auch andere in die Politik und an die Macht gestürmten Leute wie D. Jarosch, O. Tjagnibok und Oleh Ljaschko, der Leiter der in der Obersten Rada vertretenen Radikalen Partei, traten in der Öffentlichkeit wiederholt für eine ethnische Säuberung der Ukraine und die Vernichtung von Russen und Juden ein. Diese Äußerungen haben in den westlichen Hauptstädten überhaupt keine Reaktion hervorgerufen. Ich denke nicht, dass das heutige Europa sich erlauben kann, die Gefahr der Verbreitung des neonazistischen Virus zu ignorieren.

Die ukrainische Krise kann nicht mit militärischer Gewalt geregelt werden. Das wurde im letzten Sommer deutlich, als die Situation auf dem Kriegsschauplatz dazu zwang, die Minsker Vereinbarungen zu unterzeichnen. Das zeigt sich auch jetzt, wo der nächste Versuch, einen militärischen Sieg zu erringen, zum Erliegen kommt. Aber ungeachtet dessen ertönen in einer Reihe westlicher Länder immer lauter Appelle, die Unterstützung für den Kurs Kiews hin zur Militarisierung der Gesellschaft und des Staates zu verstärken, die Ukraine mit todbringenden Waffen „vollzupumpen“ und in die NATO zu ziehen.
Hoffnung macht die immer stärker werdende Opposition gegen diese Pläne in Europa, die die Tragödie des ukrainischen Volkes nur noch verschlimmern können.

Russland wird auch in Zukunft für eine Friedensregelung einstehen. Wir treten konsequent für die Einstellung der Kampfhandlungen, den Abzug schwerer Waffen und die Aufnahme von direkten Verhandlungen zwischen Kiew und
Donezk und Lugansk ein, um konkrete Wege zur Wiederherstellung des gemeinsamen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Raumes im Rahmen der territorialen Integrität der Ukraine zu finden. Genau darum ging es bei den vielfältigen Initiativen von Wladimir Putin im Rahmen des „Normandie-Formats“, die es erlaubten, den Minsker Prozess und unsere weiteren Anstrengungen zu seiner Entwicklung, einschließlich der gestrigen Verhandlungen der Staatschefs von Russland, Deutschland und Frankreich im Kreml, in die Wege zu leiten. Wie Sie wissen, werden diese Verhandlungen fortgesetzt. Wir sind der Meinung, dass es alle Möglichkeiten gibt, Ergebnisse zu erzielen und Empfehlungen abzustimmen, die es den Seiten erlauben werden, diesen Konfliktknoten zu lösen.
Es ist wichtig, dass alle die Ausmaße der Risiken erkannt haben. Es ist an der Zeit, von der Gewohnheit zu lassen, jedes Problem einzeln zu betrachten, „ohne hinter den Bäumen den Wald zu sehen“. Es ist Zeit, die Lage komplex einzuschätzen. Die Welt befindet sich heute an einem radikalen Wendepunkt, der mit dem Wechsel der historischen Epochen zusammenhängt. Die „Geburtswehen“ der neuen Weltordnung machen sich durch das Anwachsen von Konfliktsituationen in den internationalen Beziehungen bemerkbar. Wenn statt einer strategischen globalen Sichtweise Gelegenheitsentscheidungen von Politikern im Hinblick auf die nächsten Wahlen bei ihnen zu Hause triumphieren sollten, wird die Gefahr auftauchen, die Kontrolle über die Hebel der globalen Lenkung zu verlieren.

Ich erinnere daran, dass zu Beginn des Konflikts in Syrien viele im Westen dazu aufriefen, die Bedrohung durch Extremismus und Terrorismus nicht zu übertreiben, wobei sie behaupteten, die würde sich irgendwie „selbst geben“, das Wichtigste sei aber, den Machtwechsel in Damaskus zu erreichen. Wir sehen, was sich daraus ergeben hat.
Riesige Gebiete im Nahen Osten, in Afrika und in der afghanisch-pakistanischen Zone entziehen sich immer mehr der Kontrolle durch die legitimen Regierungen. Der Extremismus schwappt in andere Regionen über, Europa eingeschlossen. Die Risiken der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen nehmen zu. Die Situation bei der Nahost-Regelung und in anderen Zonen regionaler Konflikte nimmt einen explosiven Charakter an. Bisher wurde keine adäquate Strategie zur Eindämmung dieser Herausforderungen entwickelt.

Ich möchte hoffen, dass die Diskussionen heute und morgen in München uns im Verstehen dessen näherbringt, auf welchem Niveau sich die Anstrengungen bei der Suche nach kollektiven Antworten auf die für alle gemeinsamen Bedrohungen befinden. Wenn man ein ernsthaftes Ergebnis will, darf das Gespräch nur gleichberechtigt geführt werden – ohne Ultimaten und Drohungen.

Wir sind weiterhin davon überzeugt, dass es viel einfacher wäre, den ganzen Komplex an Problemen anzugehen, wenn sich die größten Akteure auf die strategischen Richtlinien ihrer Beziehungen einigen könnten. Unlängst sagte die ständige Sekretärin der Französischen Akademie,
Hélène Carrère d’Encausse, die ich sehr verehre, dass „es kein richtiges Europa ohne Russland geben kann“. Wir würden gern verstehen, ob unsere Partner diese Sichtweise teilen oder ob sie geneigt sind, den Kurs auf die Vertiefung der Spaltung des allgemein-europäischen Raumes und die gegenseitige Konfrontation seiner Fragmente fortzusetzen. Wollen sie eine Sicherheitsarchitektur zusammen mit Russland, ohne Russland oder gegen Russland schaffen? Natürlich müssen auch unsere amerikanischen Partner diese Frage beantworten.

Wir schlagen schon lange vor, mit dem Bau eines wirtschaftlichen und humanitären Einheitsraumes von Lissabon bis Wladiwostok zu beginnen, der sich auf die Prinzipien einer paritätischen und unteilbaren Sicherheit stützen würde und sowohl die Mitglieder von Integrations-Bündnissen als auch nichtgebundene Länder umfassen würde. Besonders aktuell ist die Schaffung von verlässlichen Mechanismen bei der Zusammenarbeit zwischen der Eurasischen Wirtschaftsunion (
EAWU) und der EU. Wir begrüßen die sich andeutende Unterstützung dieser Idee durch verantwortungsbewusste europäische Staatsführer.

Im 40. Jubiläumsjahr der
Helsinki-Abschlussakte und dem 25. Jahrestag der Charta von Paris tritt Russland dafür ein, diese Dokumente mit realem Leben zu füllen, die dort verankerten Prinzipien zu wahren und die Stabilität und Prosperität im gesamten euro-atlantischen Raum auf der Basis von echter Gleichberechtigung, gegenseitiger Achtung und Berücksichtigung der Interessen aller zu gewährleisten. Wir wünschen der im Rahmen der OSZE gebildeten „Gruppe der Weisen“, die in Form von Empfehlungen zu einem Konsens kommen soll, viel Erfolg.

Wenn wir den 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs begehen, sollten wir uns der Verantwortung bewusst sein, die auf uns allen liegt.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Übersetzung-Susanne Brammerloh/russland.RU)

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