„Die Stadt, das Land, die Welt
verändern!“ – Ein Buch über die Kölner ''''''''68er
Aufbruch
vor dem Umbruch
Buchtipp von
Harry Popow
Man bezeichnet die Revolte
von 1968 als Bruch in der jungen Geschichte der BRD. Da hatte sich
Widerstand gegen Staat und Gesellschaft - vorwiegend in lokalen
Bereichen - durchgesetzt. Da wurden Erfahrungen gesammelt in
linksradikalen, sozialistischen, sozialdemokratischen,
kommunistischen, anarchistischen, trotzkistischen, autonomen, grünen
und alternativen Kontexten. Was bleibt davon nutzbar für die heutige
Zeit im Jahre 2015?
Leben wir denn nicht nach
wie vor in Umbruchzeiten? Widerrechtliche Osterweiterung der NATO?
Antikriegsproteste? Pegida und Gegenwehr? Politische Demonstrationen,
Racheakte und Schüsse? Wachsende Kluft zwischen Arm und Reich?
Politverdrossenheit? Und keiner der Oberen steht für eine gründliche
Ursachenforschung! Es ist so: Wir leben in einer Zeit zunehmender
Konflikte und Zusammenstöße. Lebensgefährlich mitunter. Rechte
Strömungen und Fremdenfeindlichkeit im Vormarsch? Zu Recht fragt
Andreas Peglau im online-„Blättchen“ vom 5. Januar, ob sich seit
oder trotz der 68er Bewegung nichts geändert habe. Nach wie vor
ordne sich der gesamte BRD-Staatsapparat autoritär „unter Konzerne
und Banken sowie unter das imperiale Streben der USA“.
Ohne Wenn und Aber:
Heutzutage weht wieder ein scharfer Wind zwischen den
unterschiedlichen weltweiten Interessengruppen. Bleibt also zu
fragen: Welches Fazit lässt sich aus dem Damals für die heutige
Klassenauseinandersetzung ziehen? Geben uns die Revoltierenden
Handhabbares in die Hand? Oder sind deren Erfahrungen und
Erkenntnisse für die Katz? Auf diese Fragen hält das über
627seitige Buch der Herausgeber Rainer Schmidt, Anna Schulz und Pui
von Schwind mit dem Titel „Die Stadt, das Land, die Welt verändern!
Die 70er/80er Jahre in Köln – alternativ, links, radikal. autonom“
für politisch und geschichtlich interessierte Leser
Nachdenkenswertes bereit. „Höchste Zeit für dieses Resümee!“
meint Günter Wallraff in seinem Grußwort für dieses Buch.
Zunächst: Hut ab vor
jeglichen in Westdeutschland erfolgten tatkräftigen Schritten, das
System umzustülpen, lokal als auch insgesamt. Das Buch gliedert sich
in zwanzig Kapitel zu solchen übergeordneten Themen wie
Außerparlamentarische Opposition, Basisgruppen an den Unis,
Globalisierungskritik, Medienkritik, Bildung und Erziehung, Friedens-
und Antikriegsbewegung, Ökologie-Bewegung, Antifaschismus und
Antirassismus, um nur einige zu nennen. Diesen Schwerpunkten sind 125
Augenzeugenberichte zugeordnet. Es seien subjektive Darstellungen mit
unterschiedlichen Blickwinkeln und Schlussfolgerungen, so die
Herausgeber. Es gelte, aus dieser Vielfalt von Erzähltem aus
dem Alltag und dem politischen Widerstand gegen Politik, Staat und
Gesellschaft Brauchbares für die Gegenwart herauszufiltern,
Mit Hochachtung liest man,
mit wie viel Mühe und Ehrlichkeit die einstigen Akteure und
Mitmacher ihre Erlebnisse und Erfahrungen den heutigen Lesern
vermitteln. Facettenreich berichten sie über die organisatorischen
und inhaltlichen Klimmzüge – ob in Universitäten oder in der
eigenen Stadt oder im Betrieb – gegen autoritäre Strukturen und
gegen politische und wirtschaftliche Fehlentwicklungen. Manchmal
erfolgreich, oft genug aber auch ausgebremst, Niederlagen
einsteckend.
In erster Instanz sind es
die äußeren politischen und gesellschaftlichen Anlässe, die die
Akteure in den Sozialen Bewegungen und Initiativen hellhörig werden
lassen und politisieren. So der Vietnamkrieg, der Putsch in Chile,
die Konflikte zwischen Israel und Palästina, die Notstandsgesetze,
die Apartheid sowie unter anderem der NATO-Doppelbeschluß. Aber auch
die Widersprüche zwischen Arm und Reich, die Berufsverbote, die
vielfache Unterdrückung der Frauen, der Kampf gegen Miethaie und
u.a. gegen die Hochschulmisere.
Vor dem Hintergrund der
Systemauseinandersetzung zwischen imperialistischem und
sozialistischem Lager und der ideologischen
Antikommunismus-Knebelung (vor und nach 1989) geht es den Widerständlern inhaltlich
vor allem um die Überwindung des kapitalistischen Systems, wobei
sich zahlreiche fortschrittliche Intellektuelle aus der Jugend- und
Studentenbewegung sowohl am Marxismus orientierten als auch am
Beispiel des Aufbaus des Sozialismus im sozialistischen Lager. Als
stabile Partei mit klaren inhaltlichen Vorgaben, so die Autoren,
erwies sich dabei die DKP. Streitpunkte gab es in den einzelnen
Initiativen, Bündnissen und Gemeinschaften nicht selten mit
illusorischen Ansichten, als stünde zum Beispiel mit den
Befreiungsbewegungen in den verschiedenen Ländern bereits die
Weltrevolution vor der Tür. Streit gab es in der politischen Haltung
zur NATO, zum Problem des staatsmonopolistischen Kapitalismus und zu
neuen Widersprüchen im Umgang mit der Umwelt, zur Ökologie und zur
Natur.
Angestoßen und abgestoßen
von den Unwägbarkeiten in dieser angeblichen bundesrepublikanischen
demokratischen Republik entstanden unzählige Formen der Gegenwehr.
So die Ostermärsche, Demonstrationen, Flugblattaktionen,
Nachtgebete, Diskussionsrunden, Kasernenbelagerungen,
Kontokündigungskampagnen, Regelanfragen beim Verfassungsschutz,
Herstellung von Broschüren, Kriegsdienstverweigerungen,
Raumbesetzungen, Lesben- und Schwulenbewegungen, Umweltbewegungen und
viele andere mehr. Sie seien stets die Wiege für weitere soziale
Bewegungen gewesen. So lesen wir auf Seite 488: „Die
Ökologiebewegung, der Anti-AKW-Widerstand sind eine originäre
Entwicklung der 70er/80er Jahre. Und im Falle des Atomausstiegs ein
Beispiel dafür, wie ein Protest der Minderheit zur
gesellschaftlichen Mehrheitsposition werden kann.“
So erfolgreich auch lokale
Initiativen – auch mit Langzeitwirkung – sein können, es bleibt
stets der Grundwiderspruch zwischen dem kapitalistischen Staat,
seinen Medien und dem Volk. In nahezu allen Augenzeugenberichten wird
deutlich, dass lokale Kampferfolge notwendig und richtig sind und
viele Mitstreiter motivieren können, aber sie ändern kaum etwas an
der Diktatur des Geldes und der Gesetzgebung des kapitalistischen
Staates. Wenn sogenannte Sicherheitsinteressen berührt werden, dann
wird die Opposition mundtot gemacht oder gar kriminalisiert. Staat
und Beamte „handeln immer rechtens“, so formulieren es die
Herausgeber auf Seite 75. Einzelkämpfer mit Einzelaktionen jucken
die Herrschaften keineswegs.
Soziale Proteste
zerschellen leider nicht nur an der hartnäckigen Gegenwehr durch die
Obrigkeit, sondern nicht selten an den zersplitterten Meinungen
innerhalb der Gruppen, Bündnisse und Parteien. So drohte der
SPD-Vorstand den Jungsozialisten (S. 137 ff.) mit Rauswurf aus der
Partei, wenn sie sich weiter im „Komitee für Frieden und
Abrüstung“ beteiligten. Auffallend das Einknicken von Akteuren
durch mangelnde Erfolge oder durch grobe Uneinigkeit in inhaltlichen
Fragen, besonders wenn es um das eindeutige Bekenntnis zum
Sozialismus geht. Manche Gruppierungen hätten auch zu wenig „Biss“
gehabt oder forderten Utopien, indem sie Einheitslöhne für alle
oder gar die Vier-Tage-Woche forderten. Oft liest man ähnliche Sätze
wie diesen auf Seite 139: „Eine inhaltliche Auseinandersetzung fand
zu keinem Zeitpunkt statt“. Einigkeit kam auch dort nicht auf, wo
der Glaube vorherrschte, man könne zum Beispiel durch eine
veränderte Erziehung die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern.
Wer viel erlebt, muss noch lange nicht zu richtigen Erkenntnissen
kommen, das offenbart sich in zahlreichen Beiträgen der Autoren.
Dazu die Herausgeber auf Seite 286: „Aus der Negation des
Selbsterlebten ergab sich jedoch noch keine positive Alternative“.
So ist es nicht verwunderlich, dass man selbst bei gemeinsamen
Friedenswochen zwar Dispute führte, aber ansonsten gehe „man
getrennte Wege.“ Uneinigkeit zeigten Bürgerrechtler und Linke auch
bei der Einschätzung der Lage nach 1989, als vor einer Bedrohung
durch das größere Deutschland gewarnt wurde.
Was bleibt von der
68er-Aufbruch-Bewegung? Stricken und beten? Nur Impulse geben und
Zeichen setzen? (S. 44/550) Sich beugen oder aufrecht bleiben? Dem
Kapital verfügbar bleiben, sich anpassen und lediglich die Faust in
der Tasche ballen? Unbestritten: Nach der Toröffnung nach Osten hat
das deutsche Kapital als Vasall der USA Morgenluft gewittert und
dehnt sich aus. Was tun? Man muss den 68ern zustimmen, wenn sie die
profitorientierte Verkommenheit „von Staat und Gesellschaft der BRD
(oder kurz des `Schweinesystems´)“ anprangern. (S. 188)
Die Augenzeugenberichte
bieten Stoff für eine gründliche wissenschaftliche Analyse, auf der
eine ebenso verallgemeinerungswürdige Synthese aufbauen sollte. Dann
werden auch die zahlreichen systemkritischen Initiativen der 68er –
mit Erfolgen, Teilerfolgen und Niederlagen – für die heutigen
Verhältnisse deutlicher abzuleiten sein. Sie haben mit die Basis
gelegt für eine mehr oder weniger stets anschwellende
Friedensbewegung, gegen NATO-Osterweiterung und Krieg. In der Spur
der 68er zu bleiben, gebietet, „...dass Millionen auf die Straße
gingen, alle, die intellektuell oder intuitiv begriffen haben, worum
es geht: Um die Bewahrung des akut gefährdeten Friedens.“ So der
Autor des Buches mit dem Titel „Die Eroberung Europas durch die
USA“ (Siehe Beitrag „Nein zu Krieg und Konfrontation“ von
Wolfgang Bittner in der Neuen Rheinischen Zeitung vom 28.01.2015.)
Der Umbruch steht also noch aus.
„Die Stadt, das Land,
die Welt verändern! Die 70er/80er Jahre in Köln – alternativ,
links, radikal, autonom“, Herausgeber: Reiner Schmidt, Anne Schulz
und Pui von Schwind, Taschenbuch: 627 Seiten, Verlag: KiWi-Köln (4.
Dezember 2014) Sprache: Deutsch, ISBN-10: 3462038400, ISBN-13:
978-3462038408, Preis: 29,99 Euro
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen