„Carl von Ossietzky –
Vorkämpfer der Demokratie“ - von Werner Boldt
Ungeliebte
Propheten
Buchtipp von Harry
Popow
Welch ein naiver Glaube,
dass einer erst Prophet - sprich Kommunist - sein muss, wollte er
bestehende gesellschaftliche Zustände kritisch unter die Lupe
nehmen. Es reicht, ein aufrechter Demokrat und politisch hellwacher
Bürger zu sein, um u.a. Bedrohungen durch die sogenannte
„Neuvermessung der Welt“ (1) kritisch zu registrieren. So heißt
es im aktuellen Koalitionsvertrag, die EU müsse im 21. Jahrhundert
„die internationale Politik mitgestalten“ und dabei „eine
starke eigenständige Rolle wahrnehmen“. Man müsse die zivilen und
militärischen Instrumente der Europäischen Union weiter miteinander
verknüpfen und darüber hinaus alle denkbaren Interventionsmittel –
„zivile sowie militärische“ – schlagkräftiger gestalten.
Von zwei Propheten (sie bezeichnen sich
nicht als Marxisten) soll hier die Rede sein, die mit ihrem
politischen Wirken weiter über den Zustand der üblichen
Kapitalismuskritik hinausgehen, die nicht dabei stehenbleiben, ihn
schlechthin verbessern zu wollen. Werner Boldt, einst Professor an
der Universität Oldenburg, die den Namen „Carl von Ossietzky“
trägt, schrieb das sehr beachtenswerte historisch-politische
Sachbuch „Carl von Ossietzky. Vorkämpfer der Demokratie“. Was
der Autor hier in mühevoller Recherche über den Publizisten
zusammengetragen hat, ist ein Geschichtsspiegel, in dem Pazifisten,
Revolutionäre und politisch Interessierte stöbern und neue Erkenntnisse
sammeln können.
Für ihn, so schreibt der Autor,
kam es nicht darauf an, die Biographie Ossietzkys
(Friedensnobelpreisträger 1935) nachzuerzählen, sondern seinem
politischen Denken und Handeln, seiner politischen Publizistik -
eingebettet in die Geschichte vom Beginn des Ersten Weltkrieges über
die Novemberrevolution und die Weimarer Republik bis in die Zeit der
Etablierung des deutschen Faschismus - auf die Spur zu kommen. Boldt
bekennt: „Bei meinen Urteilen ist gewiss Sympathie für diesen
klargesichtigen und standfesten Zeitzeugen im Spiel, stärker aber
wiegt, dass mit seiner Hilfe heutzutage blockierte Sichtweisen wieder
erschlossen werden können.“ (S.34) Der Autor rechnet Ossietzky als
Pazifist und Demokrat zu den Linken. Er sei richtig davon
ausgegangen, „dass die Gesellschaft ihrer Zeit eine
Klassengesellschaft ist und die Klassengegensätze den bestimmenden
Einfluss auf die Politik ausüben.“ (S. 17) In der demokratischen
Verfassung der Weimarer Republik „sah er die Voraussetzung gegeben,
dass Bürger und Arbeiter den Klassengegensatz überwinden“
könnten. (S. 23) Er leitete laut Boldt die Vielfalt
gesellschaftlicher Vorgänge „nicht aus den Besitzverhältnissen,
wie dem Besitz an Produktionsmitteln“ ab. (S. 26) Für ihn war
allein die Aufhebung der Klassengegensätze Sozialismus.
Weitergehende spezifisch sozialistische Forderungen seien für
Ossietzky nicht aktuell gewesen.
Ossietzky sah sich jedoch später
aufgrund geänderter politischer Verhältnisse gezwungen, „den
Gedanken aufzugeben, dass von der Verfassung aus die
Klassengegensätze aufgehoben werden können“. (S. 39) Auf Seite
506 verweist der Autor darauf, dass sich das Denken Ossietzkys
aufgrund des Angriffs der politischen Reaktion auf den demokratischen
Verfassungsstaat radikalisierte, „seiner Gesellschaftkritik ein
schärferes Profil zu geben“, ohne zur Erkenntnis einer „wie auch
immer gestalteten Diktatur des Proletariats“ zu gelangen.
Interessant auch, dass Ossietzky im Antikommunismus eine „Bedrohung
des demokratischenVerfassungsstaates“ sah. (S. 610)
Ossietzkys grundlegende
Fehleinschätzung bei der Überwindung der Klassenverhältnisse: Er
sah im Verhalten des Menschen, „dass er sich über seine
Klassengrenzen erheben kann, dass er die Ketten sprengen kann, die
ihn an seine Klassenzugehörigkeit fesseln...“ (S. 199) Er sprach
von einem „autonomen“ Menschen. Die Klassenfrage war für ihn
„primär eine Frage der Erziehung und nicht des Besitzes.“ (S.
203) Mit anderen Worten - eine Frage des Bewusstseins und nicht
allein des Seins, der Grundfrage der marxistischen Philosophie.
Propheten haben bei manchen Heutigen
der Jahre 2013/2014 sicherlich keinen guten Stand. Weshalb wohl
überwiegen in der „bundesrepublikanischen akademischen
Geschichtsschreibung“ im Bild von Ossietzky „negative Züge“?
Der Autor findet die Antwort: Allen kritischen Tendenzen gegen die
Verfassung der Weimarer Republik wird mangelnder Realismus
vorgeworfen. Überzogene Kritik habe zu deren Untergang beigetragen.
Der Vorwurf richtet sich gegen den Kritiker der SPD, „die am Ende
der Weimarer Republik das Notverordnungsregime Brünings
tolerierte...“ (S. 10) So rechnete auch Rudolf Augstein im Spiegel
vom 29.1.1964 Ossietzky zu den „Verderbern der Republik“.(S. 15)
Dagegen polemisiert Werner Boldt auf Seite 21: „Wer freilich …
eine antagonistische Gesellschaft auf eine demokratische
Verfassung verpflichten möchte, … statt die Ursachen in den
sozialen Verhältnissen aufzudecken, kann der Kritik Ossietzkys an
den politischen Verhältnissen Weimars nicht gerecht werden, er wird
sie, wie gesehen, als einen Beitrag zum Untergang der Republik
werten.“ (S. 21) Beschämend auch, dass Ossietzky und andere
Vordenker einer Demokratie wie Kurt Tucholsky, Siegfried Jacobsohn
oder gar Theodor Wolff u.a. einem „in der Forschung bestehenden
Desinteresse“ unterliegen, … „wogegen sich die der DDR schon
interessierter zeigte.“ (S. 13/15) Der Autor bringt es auf den
Punkt mit der Feststellung, Ossietzky „wirkte nicht destruktiv,
sondern aufklärend“. (S. 19)
Man stelle sich Ossietzky vor unserem
geistigen Auge am Rednerpult im heutigen Bundestag vor, der eine
gepfefferte Rede gegen erneutes Großmachtstreben, Kriege und
Rüstungswahn hält. Er würde wohl von Linken eher beklatscht werden
- von den Leuten des ganz rechten Flügels allerdings bedacht mit
möglicherweise verschränkten Armen und ihrem selbstgefälligen
Grinsen, so ihre typisch verständnislose Abwehrhaltung bekundend.
Als Prophet erweist sich der Autor auch
in seinem Nachwort, womit er gleichzeitig eine mentale Brücke
schlägt zwischen den Geschehnissen des 20. Jahrhunderts, und der
Polemik Ossietzkys bis zur politischen Gegenwart. Werner Boldt führt
neue Probleme an, wie die Klimakatastrophe, die Zerstörung der
Natur, die „um den Globus jagenden spekulativen ... Finanzströme“,
das weithin geschwundene Klassenbewusstsein. (S. 786) Doch geblieben
sei die kapitalistische Wirtschaft, „nur noch entwickelter,
extremer und globaler. … Wieder diene der Staat „den Interessen
des Kapitals, bleibt er im Handicaprennen mit der Wirtschaft
`keuchend auf der Strecke´, Ossietzky zitierend. „Wieder betreibt
er nur Flickwerk, wo eine nachhaltige Lösung gefunden … werden
müsste.“ (S. 787) Die Politik sträube sich, „die
antidemokratischen Verhältnisse in der Gesellschaft an ihrer Wurzel
zu packen“, schreibt der Autor. „Das System kommt vor den
Menschen, wiewohl es von den Menschen kommt. Nur Außenseiter –
sprich Propheten - „kommen auf den Gedanken, das Verhältnis gerade
zu rücken. Ossietzky war ein solcher Außenseiter. Das verschafft
ihm bleibende Aktualität“. (S. 793)
Möge sich diese hervorragende und
geistig anregende Lektüre den politisch interessierten Lesern ganz
und gar erschließen, sie nicht davon abhalten lassen, sich den
Gedanken eines Querdenkers, „samt den Ungereimtheiten und
Unklarheiten“ hinzugeben, sich nicht abschrecken zu lassen,
sperrigen Details weiter nachzugehen, so der Autor auf Seite 41.
Jedoch „für Journalisten, die mit heißer Nadel für einen
anstehenden Termin schreiben, taugt diese Lektüre nicht...“ Bleibt
vom Rezensenten nur noch der Rat für deutsche Minister, die ihren Eid
ablegen: Sagt nicht mehr das gottesfürchtige und heuchlerische „So
wahr mir Gott helfe“, sondern wandelt diesen Spruch ab in „So
wahr mir der Prophet helfe“. Das wäre doch zeitgemäßer. Oder?
(PK)
Werner Boldt, Prof.pens.: „Carl von
Ossietzky – Vorkämpfer der Demokratie“ , 2013, Verlag Ossietzky
GmbH, Hannover, 820 Seiten, ISBN 978-3944545-00-4, Preis 34 Euro
(1) junge welt vom 26.Oktober 2013
Erstveröffentlichung dieser
Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19861
Diesen Beitrag findest Du u.a. auch im Schreiber-Netzwerk
http://www.schreiber-netzwerk.eu/de/4/Texte/37/Lustige/23855/Ungeliebte+Propheten/
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