Mittwoch, 1. Januar 2014

Ungeliebte Propheten


„Carl von Ossietzky – Vorkämpfer der Demokratie“ - von Werner Boldt


Ungeliebte Propheten

Buchtipp von Harry Popow

Welch ein naiver Glaube, dass einer erst Prophet - sprich Kommunist - sein muss, wollte er bestehende gesellschaftliche Zustände kritisch unter die Lupe nehmen. Es reicht, ein aufrechter Demokrat und politisch hellwacher Bürger zu sein, um u.a. Bedrohungen durch die sogenannte „Neuvermessung der Welt“ (1) kritisch zu registrieren. So heißt es im aktuellen Koalitionsvertrag, die EU müsse im 21. Jahrhundert „die internationale Politik mitgestalten“ und dabei „eine starke eigenständige Rolle wahrnehmen“. Man müsse die zivilen und militärischen Instrumente der Europäischen Union weiter miteinander verknüpfen und darüber hinaus alle denkbaren Interventionsmittel – „zivile sowie militärische“ – schlagkräftiger gestalten.

Von zwei Propheten (sie bezeichnen sich nicht als Marxisten) soll hier die Rede sein, die mit ihrem politischen Wirken weiter über den Zustand der üblichen Kapitalismuskritik hinausgehen, die nicht dabei stehenbleiben, ihn schlechthin verbessern zu wollen. Werner Boldt, einst Professor an der Universität Oldenburg, die den Namen „Carl von Ossietzky“ trägt, schrieb das sehr beachtenswerte historisch-politische Sachbuch „Carl von Ossietzky. Vorkämpfer der Demokratie“. Was der Autor hier in mühevoller Recherche über den Publizisten zusammengetragen hat, ist ein Geschichtsspiegel, in dem Pazifisten, Revolutionäre und politisch Interessierte stöbern und neue Erkenntnisse sammeln können.

 
 Für ihn, so schreibt der Autor, kam es nicht darauf an, die Biographie Ossietzkys (Friedensnobelpreisträger 1935) nachzuerzählen, sondern seinem politischen Denken und Handeln, seiner politischen Publizistik - eingebettet in die Geschichte vom Beginn des Ersten Weltkrieges über die Novemberrevolution und die Weimarer Republik bis in die Zeit der Etablierung des deutschen Faschismus - auf die Spur zu kommen. Boldt bekennt: „Bei meinen Urteilen ist gewiss Sympathie für diesen klargesichtigen und standfesten Zeitzeugen im Spiel, stärker aber wiegt, dass mit seiner Hilfe heutzutage blockierte Sichtweisen wieder erschlossen werden können.“ (S.34) Der Autor rechnet Ossietzky als Pazifist und Demokrat zu den Linken. Er sei richtig davon ausgegangen, „dass die Gesellschaft ihrer Zeit eine Klassengesellschaft ist und die Klassengegensätze den bestimmenden Einfluss auf die Politik ausüben.“ (S. 17) In der demokratischen Verfassung der Weimarer Republik „sah er die Voraussetzung gegeben, dass Bürger und Arbeiter den Klassengegensatz überwinden“ könnten. (S. 23) Er leitete laut Boldt die Vielfalt gesellschaftlicher Vorgänge „nicht aus den Besitzverhältnissen, wie dem Besitz an Produktionsmitteln“ ab. (S. 26) Für ihn war allein die Aufhebung der Klassengegensätze Sozialismus. Weitergehende spezifisch sozialistische Forderungen seien für Ossietzky nicht aktuell gewesen.

 
Ossietzky sah sich jedoch später aufgrund geänderter politischer Verhältnisse gezwungen, „den Gedanken aufzugeben, dass von der Verfassung aus die Klassengegensätze aufgehoben werden können“. (S. 39) Auf Seite 506 verweist der Autor darauf, dass sich das Denken Ossietzkys aufgrund des Angriffs der politischen Reaktion auf den demokratischen Verfassungsstaat radikalisierte, „seiner Gesellschaftkritik ein schärferes Profil zu geben“, ohne zur Erkenntnis einer „wie auch immer gestalteten Diktatur des Proletariats“ zu gelangen. Interessant auch, dass Ossietzky im Antikommunismus eine „Bedrohung des demokratischenVerfassungsstaates“ sah. (S. 610)

 
Ossietzkys grundlegende Fehleinschätzung bei der Überwindung der Klassenverhältnisse: Er sah im Verhalten des Menschen, „dass er sich über seine Klassengrenzen erheben kann, dass er die Ketten sprengen kann, die ihn an seine Klassenzugehörigkeit fesseln...“ (S. 199) Er sprach von einem „autonomen“ Menschen. Die Klassenfrage war für ihn „primär eine Frage der Erziehung und nicht des Besitzes.“ (S. 203) Mit anderen Worten - eine Frage des Bewusstseins und nicht allein des Seins, der Grundfrage der marxistischen Philosophie.

 
Von aktueller Bedeutung sind Ossietzkys Aussagen über die beiden Arbeiterparteien SPD und KPD. So warf er den Sozialdemokraten vor, an Abstimmungszahlen wie an mystische Verlautbarungen zu glauben „und vergessen darüber, dass die letzte Entscheidung darin liegt, welche ökonomische Kraft hinter den Parteien außerhalb des Parlamentes liegt“. (S. 234) Nach dem Wahlsieg der SPD im Mai 1928 warnte er, mit der Tatsache des Mitregierens sei der Klassenstaat nicht wegzuhexen. (S. 322) Bei mancher Kritik gegenüber auch den Kommunisten kam er nicht an der Erkenntnis vorbei, dass sich mit ihnen, „die einen erheblichen Teil der Arbeiterschaft politisch repräsentieren, die wiederum … das zuverlässigste, das einzige zuverlässige gesellschaftliche Fundament bildete, demokratische Politik machen ließ.“ (S. 361) Schließlich appellierte Ossietzky angesichts des Abdriftens der Republik in die faschistische Diktatur an die SPD und KPD, sich in der Abwehr gegen die Gefahr zusammenzufinden. (S. 539)

 
Propheten haben bei manchen Heutigen der Jahre 2013/2014 sicherlich keinen guten Stand. Weshalb wohl überwiegen in der „bundesrepublikanischen akademischen Geschichtsschreibung“ im Bild von Ossietzky „negative Züge“? Der Autor findet die Antwort: Allen kritischen Tendenzen gegen die Verfassung der Weimarer Republik wird mangelnder Realismus vorgeworfen. Überzogene Kritik habe zu deren Untergang beigetragen. Der Vorwurf richtet sich gegen den Kritiker der SPD, „die am Ende der Weimarer Republik das Notverordnungsregime Brünings tolerierte...“ (S. 10) So rechnete auch Rudolf Augstein im Spiegel vom 29.1.1964 Ossietzky zu den „Verderbern der Republik“.(S. 15) Dagegen polemisiert Werner Boldt auf Seite 21: „Wer freilich … eine antagonistische Gesellschaft auf eine demokratische Verfassung verpflichten möchte, … statt die Ursachen in den sozialen Verhältnissen aufzudecken, kann der Kritik Ossietzkys an den politischen Verhältnissen Weimars nicht gerecht werden, er wird sie, wie gesehen, als einen Beitrag zum Untergang der Republik werten.“ (S. 21) Beschämend auch, dass Ossietzky und andere Vordenker einer Demokratie wie Kurt Tucholsky, Siegfried Jacobsohn oder gar Theodor Wolff u.a. einem „in der Forschung bestehenden Desinteresse“ unterliegen, … „wogegen sich die der DDR schon interessierter zeigte.“ (S. 13/15) Der Autor bringt es auf den Punkt mit der Feststellung, Ossietzky „wirkte nicht destruktiv, sondern aufklärend“. (S. 19)

 
Man stelle sich Ossietzky vor unserem geistigen Auge am Rednerpult im heutigen Bundestag vor, der eine gepfefferte Rede gegen erneutes Großmachtstreben, Kriege und Rüstungswahn hält. Er würde wohl von Linken eher beklatscht werden - von den Leuten des ganz rechten Flügels allerdings bedacht mit möglicherweise verschränkten Armen und ihrem selbstgefälligen Grinsen, so ihre typisch verständnislose Abwehrhaltung bekundend.

 
Als Prophet erweist sich der Autor auch in seinem Nachwort, womit er gleichzeitig eine mentale Brücke schlägt zwischen den Geschehnissen des 20. Jahrhunderts, und der Polemik Ossietzkys bis zur politischen Gegenwart. Werner Boldt führt neue Probleme an, wie die Klimakatastrophe, die Zerstörung der Natur, die „um den Globus jagenden spekulativen ... Finanzströme“, das weithin geschwundene Klassenbewusstsein. (S. 786) Doch geblieben sei die kapitalistische Wirtschaft, „nur noch entwickelter, extremer und globaler. … Wieder diene der Staat „den Interessen des Kapitals, bleibt er im Handicaprennen mit der Wirtschaft `keuchend auf der Strecke´, Ossietzky zitierend. „Wieder betreibt er nur Flickwerk, wo eine nachhaltige Lösung gefunden … werden müsste.“ (S. 787) Die Politik sträube sich, „die antidemokratischen Verhältnisse in der Gesellschaft an ihrer Wurzel zu packen“, schreibt der Autor. „Das System kommt vor den Menschen, wiewohl es von den Menschen kommt. Nur Außenseiter – sprich Propheten - „kommen auf den Gedanken, das Verhältnis gerade zu rücken. Ossietzky war ein solcher Außenseiter. Das verschafft ihm bleibende Aktualität“. (S. 793)

 
Möge sich diese hervorragende und geistig anregende Lektüre den politisch interessierten Lesern ganz und gar erschließen, sie nicht davon abhalten lassen, sich den Gedanken eines Querdenkers, „samt den Ungereimtheiten und Unklarheiten“ hinzugeben, sich nicht abschrecken zu lassen, sperrigen Details weiter nachzugehen, so der Autor auf Seite 41. Jedoch „für Journalisten, die mit heißer Nadel für einen anstehenden Termin schreiben, taugt diese Lektüre nicht...“ Bleibt vom Rezensenten nur noch der Rat für deutsche Minister, die ihren Eid ablegen: Sagt nicht mehr das gottesfürchtige und heuchlerische „So wahr mir Gott helfe“, sondern wandelt diesen Spruch ab in „So wahr mir der Prophet helfe“. Das wäre doch zeitgemäßer. Oder? (PK)

 
Werner Boldt, Prof.pens.: „Carl von Ossietzky – Vorkämpfer der Demokratie“ , 2013, Verlag Ossietzky GmbH, Hannover, 820 Seiten, ISBN 978-3944545-00-4, Preis 34 Euro

 
(1) junge welt vom 26.Oktober 2013


Erstveröffentlichung dieser Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung






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