Sonntag, 4. Oktober 2015

Mauerfall-Chaos

Stille_Mauerfall

„In die Stille gerettet“ - Textauszug (Seiten 225-226)

Mauerfall-Chaos

Autor: Harry Popow


Berühmt-berüchtigter 9. November 1989. Abends im Wohnzimmer. Henry sitzt mit Lutz, seinem Halbbruder, auf dem Sofa. Sie reden über Gott und die Welt, vor allem über das gegenwärtige Durcheinander in der Politik, über Reformbemühungen. Dann die abendlichen Meldungen. Die wollen sie nicht versäumen. Mal sehen, was es Neues gibt. Plötzlich Politbüromitglied Schabowski über die Möglichkeit, ab sofort die Grenze passieren zu können. Ohne besondere Genehmigung. Was? Haben wir das Gestammel richtig verstanden? Den beiden und Cleo, die in der Küche mitgehört hat, bleibt die Luft weg. So schnell und mit einem Mal? Ist das noch kluge und weitsichtige Politik? Ist das nicht ein Beschluß aus Notwehr? Zeigt der nicht die innere Zerrissenheit der Führung? Ganz im Inneren sagt sich Henry, tatsächlich, Krenz macht eine neue Politik fürs Volk. Positives und irrationales Denken im Sekundentakt. Aber er tröstet sich nur damit. Er ahnt nicht, was daraus folgen wird. Gemischte Gefühle - Freude und Schreck zugleich!

Der vierundfünfzigste Geburtstag von Henry. Cleo muß zur Arbeit ins Fernsehen. Hat ihm einen lieben Brief geschrieben: „Bitte nicht traurig sein, daß Fraule nicht da ist. Dieses Jahr ist eben wirklich alles verratzt. Nichts desto trotz drück ich Dich ganz lieb, wünsche Dir zum Geburtstag viele liebe gute Dinge: etwas Gesundheit, weiterhin Standhaftigkeit (überall!!!), Ellenbogen, wo Du sie brauchst, eine hoffentlich bald wieder malende Hand, viel, viel Liebe für uns! Wir zwei werden das Geburtstagsessen nachholen jetzt im Dezemberurlaub. Ich lade Dich ein!!! Die ganze blöde Scheiße, die in letzter Zeit über uns hereingebrochen ist - mit Karacho - wird Dich hoffentlich im neuen Lebensjahr nicht wieder anfechten. Es kann nur wieder vorwärts gehen! In diesem Sinne - auf ein Neues! Kussel, Kussel, Kussel! In Liebe, Dein Fraule.“

Henry kann wieder einigermaßen laufen. Hatte Ischias. Und nun – am 12. Dezember - macht er ihn doch, den Schritt über die bislang gefährlichste Grenze in Europa nach Westberlin. Aber er geht mit Cleo, selbstbewußt, vornehm, kultiviert. Sie fahren mit der U-Bahn nach Kreuzberg, da wohnt Tochter Patricia. Nein, den wilden, ungezügelten Ansturm vom November – obwohl er auch zu verstehen war nach so vielen Jahren - hat er nicht mitgemacht, war ihm zu schreierisch. Und wieder: Gemischte Gefühle beim Anblick der vollen Schaufenster. „Nicht wir haben dies erarbeitet“, denkt er. Schön, schön ... Und dann? Der Preis wird hoch sein.

Henry ist in der Beratergruppe wegen der ausgesprochenen Parteistrafe nicht mehr „tragbar“. Er wird in die „Programmabteilung“ verfrachtet. Hier wird brisantes Material für den „Schwarzen Kanal“ mit Karl-Eduard von Schnitzler aufbereitet. Mühevolles Registrieren der Westsendungen, scharfe Trennung von Wesentlichem und Unwesentlichem, Tag und Nacht im Schichtsystem, reinste Knüppelarbeit. Seit Anfang Dezember macht Henry das. Er hat es satt bis obenhin. Da erfährt er, eine Videotextredaktion soll installiert werden. Das interessiert ihn. Es könnte eine Chance sein, aus dieser Hölle herauszukommen...

Januar 1990. Arnold, Henrys jüngster Bruder, schreibt aus Neckargmünd / BRD. Er schimpft auf den „beschissenen Idealismus“. Es ist verständlich, daß er so vom Leder zieht. Er saß sechs Jahre im DDR-Knast, haßt das System. Dementsprechend seine Ansichten. Soll er sich also Luft machen, seine Welt ist nicht die meine, sagt sich Henry. Arnold ist gefangen in seinen Erfahrungen, Henry in die seinen, da gibt es keine Generalwäsche, für niemanden. Knechte wir! Der eine aus vollem Bewußtsein heraus und machbar geglaubtem Idealismus, der andere aus Gründen des spontanen, sehr gefühlsbetonten Protestes. Eines Tages besucht er die Familie Orlow, diesmal also nach dem Umbruch. Läuft im Zimmer wie ein Tiger umher, beide Daumen hinter seinen Hosenträgern geklemmt und will seinem Bruder einschärfen, irgendwo in der Nähe Berlins ein „Haus aufzureißen“. Für Westknete. Wo man sich trifft und sich aussprechen kann. Auf DDR-Boden. Die Orlows sollen sich umsehen!!! Der vermeintliche „Sieger“ ringt um Sieger-Schnäppchen!

Harry Popow: „In die Stille gerettet. Persönliche Lebensbilder.“ Engelsdorfer Verlag, Leipzig, 2010, 308 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-86268-060-3

Außerdem: Harry Popow: „Platons Erben in Aufruhr. Rezensionen, Essays, Tagebuch- und Blognotizen, Briefe“, Verlag: epubli GmbH, Berlin, 316 Seiten, www.epubli.de, ISBN 978-3-7375-3823-7, Preis: 16,28 Euro
Kommentar:

User Arno Abendschön zum Buch „In die Stille gerettet“

Lieber Harry,

   in den letzten Wochen habe ich Dein Buch durchgelesen und bereue seine Anschaffung nicht. Zunächst einmal empfinde ich Respekt vor Deinem Durchhaltevermögen angesichts dieses weitgespannten, schwierigen Lebenslaufes von der Kriegszeit bis in die gesamtdeutsche, nicht durchweg befriedigende Gegenwart. Wie viele Brüche waren da zu verarbeiten ... Der Leser erhält so durch das Buch ein umfangreiches ostdeutsches Zeitbild aus fast siebzig Jahren.

Der Schwerpunkt des Buches lag für mich eindeutig auf den 1980er Jahren, von der zunehmenden Kritikbereitschaft des Herrn Orlow über sein erstauntes Verwickeltwerden in die sich immer mehr zuspitzenden Abläufe bis hin zu einer gewiss schmerzlichen Resignation. Strukturell erkenne ich hier eine gewisse Verwandtschaft mit Bräkers “Der arme Mann im Tockenburg”. Diese Autobiographie erhält, ähnlich wie Deine, ihren besonderen Wert dadurch, dass der Held gegen seine Absicht in den Zusammenhang eines größeren weltpolitischen Geschehens (Siebenjähriger Krieg) hineingezogen wird und sich selbst nur mit Mühe daraus befreit. Allein diese Beschreibung der Abläufe von 1756 verschafft der privaten Geschichte ihre bleibende Stellung in der deutschsprachigen Literatur.

Recht ungewöhnlich an deinem Buch ist die breite Darstellung des Verhältnisses zwischen Autor und Ehefrau. Ich verstehe schon die Absicht dahinter, Du wolltest wohl ein positives Gegengewicht zur insgesamt gescheiterten gesellschaftliche Utopie schaffen. Dies ist Dir in sozialer Hinsicht durchaus gelungen, auch mit der Einbeziehung der übrigen Familie. Dennoch halte ich das Verfahren bezüglich Cleo für problematisch. Nach meinem Verständnis entziehen sich die seelischen Kräfte, die innerhalb einer solchen lebenslangen Bindung zweier Menschen wirksam sind, weitgehend der literarisch-autobiographischen Gestaltung. Dies bleibt großer Dichtung mit fiktivem Personal vorbehalten.

Zwei weitere Kritikpunkte, nicht allzu schwerwiegend: Die Rechtschreibung lässt leider zu wünschen übrig. (“”Hunt” statt “Hund”, “routieren” statt “rotieren”, “Lux” statt “Luchs”, “Kuhdamm” usw.) Da hätte lektoriert werden sollen. Und: Hier und da macht die Verwendung von Begriffen und Abläufen militärisch-bürokratischer Interna von damals dem Außenstehenden, also auch der Nachwelt, das Lesen schwer. Insoweit wünscht man sich fast einen kommentierenden Apparat. Nur ein Beispiel: Warum gab es einen FDJ-Sekretär bei einem Truppenteil?

Den Buchtitel finde ich sehr gelungen. Sein Versprechen wird durch die gute Darstellung südschwedischer Natur zum Teil eingelöst. (Gefallen hat mir auch die Verwendung von Alpträumen im letzten Teil.) Allerdings liegt das Schwergewicht im schwedischen Teil eben nicht auf der Stille der Landschaft und im Rückzug auf die eigenen Kräfte, sondern in der breiten Darstellung von Geselligkeit. Ich sehe ein Rentnerparadies vor mir, in dem gesamtdeutsche Exilanten sich mit typischen Vertretern des provinziellen schwedischen gehobenen Bürgertums verbrüdern. Der Autor merkt dazu auf Bl. 266 an: “Wir tun etwas für uns selber. Im falschen System das Richtige tun – das ist auch eine Kunst. Auch eine Form des Egoismus. Na und? Den haben wir uns schließlich verdient.” Im falschen System das Richtige tun, das liest sich wie ein vom Kopf auf die Füße gestellter Adorno (“Es gibt kein richtiges Leben im falschen.”) Persönlich denke ich heute eher, es gibt überhaupt kein unwandelbar Richtiges oder Falsches, nur ein jeweilig Richtiges bzw. Falsches. Was bleibt dann noch an Prinzipien? Leid vermeiden und aufrichtig sein.

Dein Buch hat mich während der Lektüre stark beschäftigt. Ich ordne es nun bei mir in der Abteilung Sachbücher unter P ein, um es gelegentlich wieder zur Hand zu nehmen und etwas nachzulesen. Stoff von Bedeutung findet sich darin reichlich
.



Arno Abendschön ist Autor. Er schrieb zum Beispiel: „Eine deutsche Familie. Chronik in Fragmenten“, siehe
http://www.bookrix.de/_ebook-arno-abendschoen-eine-deutsche-familie/

Link für sämtliche Bücher von Arno Abendschön:
http://www.bookrix.de/search;keywords:Arno%20Abendsch%C3%B6n,searchoption:all.html   
   

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