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Niederlage im kalten Krieg, spontaner Kollaps oder Verrat?
VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 20. APRIL 2023 ⋅ HINTERLASSE EINEN KOMMENTAR
von Andreas Wehr – http://www.andreas-wehr.eu
Über die Gründe für den Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ in Osteuropa [1]
In einem Artikel, den er bereits 1994 und damit nur drei Jahre nach den
epochalen Ereignissen des Umbruchs unter dem Titel „Demokratische
Revolution oder Restauration“ verfasste, stellte Domenico Losurdo die
Frage: „Aber wie hatte in Osteuropa die Restauration siegen können? Die
herrschende Ideologie spricht von einem spontanen ‘Kollaps’ des ‘realen
Sozialismus’, zum Beweis für die innere und unüberwindliche Absurdität
und Misere, in die sich von Anfang an jeder Versuch eine
nichtkapitalistische Gesellschaft aufzubauen, verwickelt. Aber gleich
nach dem Zusammenbruch der UdSSR war es gerade Bush, der dieses Ereignis
als großartigen Sieg der USA im kalten Krieg feierte. Wie so oft sind
die Politiker realistischer als die naiven und exaltierten Ideologen,
derer sie sich allerdings bedienen.“ [2]
Der kalte Krieg
Nach Domenico Losurdo kann bereits die Form, „die der ‘reale
Sozialismus’ konkret angenommen hat, nicht verstanden werden, wenn man
von der Rolle, die die großen kapitalistischen Mächte spielten, und von
den von ihnen unternommenen Initiativen absieht, die mit dem
Aggressionskrieg und mit der konterrevolutionären Intervention begonnen
hatten, mit dem diese Mächte auf den Sieg der Bolschewiken reagierten.“
[3] In seiner Schrift Flucht aus der Geschichte – Die kommunistische
Bewegung zwischen Selbstkritik und Selbsthass aus dem Jahr 2000 heißt es
daher: „Der Zusammenbruch des sozialistischen Lagers muss deshalb im
Kontext einer erbarmungslosen Machtprobe gesehen werden. Das ist der
sogenannte kalte Krieg. Er erstreckt sich über den ganzen Erdball und
dauert Jahrzehnte,“ [4] wobei Losurdo dem französischen Historiker und
Journalisten André Fontaine folgt, der ihn in seiner Geschichte des
kalten Krieges mit der Oktoberrevolution beginnen lässt: „In der Periode
zwischen dem Oktober 1917 und 1953 (dem Todesjahr Stalins) sehen wir
Deutschland und die angelsächsischen Mächte sich dabei abwechselnd in
einer Art Stafette engagieren: Der Aggression des wilhelminischen
Deutschlands (bis zum Frieden von Brest-Litowsk) folgte erst die der
Entente, dann jene Hitler-Deutschlands, und schließlich der ‘kalte
Krieg’ im engeren Sinne, dessen Anfänge sich jedoch schon Jahrzehnte
zuvor gezeigt hatten und sogar mit den beiden Weltkriegen verbunden
waren.“ [5] In den gängigen Darstellungen des kalten Krieges wird sein
Beginn hingegen mit dem Ende der Zusammenarbeit der Alliierten nach dem
zweiten Weltkrieg gleichgesetzt, d.h. seine ideologische Ausrichtung,
die auf die Rückgängigmachung der Ergebnisse der Revolution in Russland
zielte, wird verkannt. [6]
Die „Operation Ende des Kommunismus“
Damit ist aber noch nicht geklärt, weshalb es ausgerechnet in den Jahren
1989 bis 1991, also mehr als 70 Jahre nach dem Roten Oktober, zum
Zusammenbruch des europäischen Sozialismus kam. Der Ausgangspunkt jenes
Zusammenbruchs, der sich zunächst in kleinen Schritten vollzieht, um
sich dann – nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 –
dramatisch zu beschleunigen, kann auf den Zeitpunkt der Entstehung der
polnischen Gewerkschaft Solidarność gelegt werden. Auf ihren
kometenhaften Aufstieg, die von Beginn an auch politische Partei und
klerikale Organisation war, wusste die Polnische Vereinigte
Arbeiterpartei, die kommunistische Partei des Landes, keine Antwort.
Durch die Verknüpfung der von Solidarność organisierten Streiks und der
Mobilisierung der Gesellschaft durch die in Polen während der Zeit des
Sozialismus vollständig handlungsfähig gebliebenen katholischen Kirche,
entstand eine Situation, die die Vereinigte Arbeiterpartei mit den
herkömmlichen Methoden nicht beherrschen konnte. Am Ende blieb der
Partei zur Sicherung ihrer Macht nur der Einsatz des Militärs und die
Ausrufung des Kriegsrechts. Die polnische Gesellschaft hatte die Form
des Kasernenhofsozialismus angenommen – eine Form des Sozialismus, vor
der bereits Marx und Engels gewarnt hatten. Doch die Alternative dazu,
die sowjetische bewaffnete Invasion, wäre noch abschreckender gewesen.
Nach dem Einmarsch der sowjetischen Armee 1956 in Ungarn und 1968 in die
Tschechoslowakei wäre es die dritte Invasion gewesen und zugleich das
Eingeständnis, dass selbst nach Jahren erfolgreicher Entspannungspolitik
die Sowjetunion auf akute Krisen in ihrem Herrschaftsbereich nicht
anders als mit dem Einsatz von Panzern antworten konnte. Dieses Wagnis
wollte aber die bereits durch den Krieg in Afghanistan moralisch,
politisch und militärisch geschwächte Vormacht nicht eingehen.
So gab die polnische Entwicklung dem Westen unter Führung der USA die
einmalige Chance, die „Operation Ende des Kommunismus“ einzuleiten.
Losurdo terminiert den Auftakt für dieses Endspiel auf den 7. Juni 1982,
auf jenen Tag als US-Präsident Ronald Reagan und Johannes Paul II „in
der Abgeschlossenheit der Vatikanbibliothek“ zu einem vertraulichen
Gespräch zusammenkamen. [7] Nach einem Bericht der italienischen
Tageszeitung la Repubblica wurde danach „die amerikanische Botschaft in
Warschau (…) zur wichtigsten und leistungsfähigsten Zentrale der CIA in
der kommunistischen Welt.“ [8]
Was das Schicksal der DDR anging, so gibt es nach Losurdo „keinen Grund
zu glauben, dass die Bemühungen der Bundesrepublik Deutschland der
Deutschen Demokratischen Republik gegenüber hinter denen der USA dem
fernen Polen gegenüber zurückstanden.“ [9] Am 12. Juni 1987 hatte
bereits US-Präsident Ronald Reagan den zwei Jahre zuvor zum
Generalsekretär der KPdSU gewählten Michael Gorbatschow aufgerufen, die
Berliner Mauer abzureißen – „Mr. Gorbachev, tear down this wall!”. Es
sollten nur wenig mehr als zwei Jahre vergehen bis Reagans Wunsch in
Erfüllung ging. Was danach folgte ist hinlänglich bekannt und unzählige
Mal beschrieben worden: Die sozialistischen Regime in Prag, Warschau,
Budapest, Sofia und Bukarest fielen eine nach dem anderen wie
Dominosteine – am Ende stand 1991 die Auflösung der Sowjetunion. Es ist
allerdings bemerkenswert, dass jene sozialistischen Länder, die auf eine
eigene, autochthone revolutionäre Tradition blicken konnten, nicht in
diesen Strudel gerieten. Das galt für China, das sich nach den
Ereignissen auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens im April
1989 schnell wieder stabilisierte, für Vietnam und auch für Kuba –
Länder in denen die Revolutionäre aus eigener Kraft gesiegt hatten. Und
das galt auch für Serbien, dem Kernland des einstigen Jugoslawiens, das
erst 1999 durch den Krieg der NATO militärisch niedergerungen werden
konnte.
Wirtschaftlicher Kollaps als Ursache des Zusammenbruchs?
Doch auch wenn sich den USA sowie den anderen großen kapitalistischen
Länder mit der polnischen Krise die willkommene Chance zur
Destabilisierung des gesamten europäischen Sozialismus bot, so ist damit
noch nicht ausreichend die Frage beantwortet, warum gerade jetzt das
Ende eintrat und nicht bei ähnlich krisenhaften Ereignissen zuvor – etwa
während der Ungarnkrise 1956 oder aus Anlass der sowjetischen
Intervention in der Tschechoslowakei 1968.
Losurdo blieb stets skeptisch gegenüber allen Erklärungsversuchen, die
den Zusammenbruch der Sowjetunion auf ökonomische Ursachen zurückführen,
widersprach dies doch allen Fakten. Er zitierte hierzu den
US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Less C. Thurow: „ ‘In den
fünfziger Jahren wuchs die Sowjetunion schneller als die Vereinigten
Staaten. Projiziert man die Wirtschaftstendenzen in die Zukunft, so
hätte das russische Bruttosozialprodukt (BSP) im Jahre 1984 das der
Vereinigten Staaten überflügelt.’ Zwar stimmt es, dass die Dinge sich in
den folgenden Jahren und Jahrzehnten entschieden weniger gut für die
Sowjetunion entwickelten, aber nichts lässt an die Katastrophe denken.
Zum Zeitpunkt als Gorbatschow an die Macht kam, kalkuliert die CIA, dass
sich die Wirtschaft der UdSSR von 1975 bis 1985 mit einer jährlichen
Steigerungsrate von 2,1 Prozent gegenüber 2,9 Prozent der USA entwickelt
habe.“ [10] Losurdo zitierte Thurow auch zu den Zahlen aus den 80er
Jahren: „’Mitte der achtziger Jahre entwickelte sich die UdSSR noch
besser. 1983 erzielt sie eine Steigerungsrate von 3,8 Prozent und 1986
wird ein noch besseres Resultat von 4,1 Prozent erreicht.’“ [11] Von
einem wirtschaftlichen Kollaps der Sowjetunion kann also keine Rede
sein.
Die Leere des Verratsvorwurfs
Wenn aber ökonomische Gründe nicht zur Niederlage führten, welche dann?
In einer deutschen Zeitschrift die dem Antiimperialismus verpflichtet
war (die Zeitschrift ist inzwischen eingegangen) konnte man 2009, nach
der Rückkehr der Sandinisten an die Regierung Nicaraguas, lesen:
„Ortegas Verrat ist eine politische Tragödie für alle, die auf der
ganzen Welt ihre Hoffnung auf eine partizipatorische Demokratie in
Nicaragua setzten.“ [12] Da war er wieder, der klassische
Verratsvorwurf, der regelmäßig an die Stelle einer nüchternen
politischen Bewertung tritt. Das Beispiel zeigt, dass dieses Denken
unter Linken bis heute nicht überwunden ist. Der Vorwurf des Verrats an
der Sache des Sozialismus bzw. des Kommunismus steht bis heute im
Zentrum der Argumentation ganz gegensätzlicher Kräfte steht – sowohl bei
Anhängern Trotzkis wie Stalins. Und oft hüllt sich das jeweils
ausgesprochene Verdammungsurteil in den Vorwurf des Revisionismus, womit
er theoretisch überhöht und damit vor der Geschichte der
sozialistischen Bewegung gerechtfertigt werden soll. War es also Verrat,
der zum Ende der Sowjetunion und den mit ihr verbündeten Ländern
führte?
„Bekanntlich wird das Motiv von der ‘verratenen Revolution’ von Trotzki
besonders geschätzt.“ [13] Und so gilt den einen noch heute sein Buch
Die verratene Revolution als das Schlüsselbuch zur Deutung des
Schicksals der Sowjetunion. Die anderen – die Verehrer Stalins – sehen
hingegen in Nikita Chruschtschow den Verräter: Seine auf dem 20.
Parteitag der KPdSU 1956 vorgenommene Abrechnung mit der Person und der
Politik Stalins stellte etwa für den deutschen Historiker und
Kommunisten Kurt Gossweiler die entscheidende Wende hin zum Niedergang
der Sowjetunion und daraus folgend des gesamten Lagers des europäischen
Sozialismus. In seinem Buch Wider den Revisionismus macht er sich in der
Bewertung des 20. Parteitags das Verdikt der „konterrevolutionären
Wende“ zu eigen. [14] Seit diesem Parteitag ging es nach Gossweiler nur
noch bergab. Am Ende erschien schließlich Michal Gorbatschow als
Wiedergänger Chruschtschows: „Ja, Chruschtschow – das war der
Gorbatschow der fünfziger und sechziger Jahre“. [15]
Losurdo zeigt ein gewisses Verständnis für die Vorwürfe, die
Chruschtschow gemacht werden: „Begreiflich ist daher, dass in
kommunistischen Kreisen, die darum bemüht sind, auf die
antikommunistische Kampagne zu reagieren, die Tendenz auftaucht, zu
denken oder zu seufzen: In principio erat Chruschtschow! Er ist im
Endeffekt der Wegbereiter der antikommunistischen Kampagne und wird
deshalb als der Ausgangsunkt der ruinösen Entwicklung angesehen und
abgestempelt, der auf den Zusammenbruch der Sowjetunion hinauslief: In
dieser Hinsicht ist er derjenige, der sich zwar in der kommunistischen
Partei und Tradition formiert, dann aber deren enormes politisches und
ideelles Vermögen vergeudet hat. Abschließend gesagt: Der Staatsanwalt
im Prozess gegen Stalin für Verrat des Sozialismus ist jetzt gezwungen,
selber auf der Anklagebank zu sitzen!“ [16]
Doch die Verratsthese greift auch im Fall Chruschtschow zu kurz: „Wenn
also die gegen Stalin gerichtete Version des Diskurses vom ‘Verrat’ den
gigantischen Emanzipationsprozess nicht erklären kann, der sich auf
Weltebene in den Jahren entwickelt hat, in denen der ‘Verräter’ die
Macht ausübte, dann gelingt es der gegen Chruschtschow gerichteten
Version des Diskurses vom ‘Verrat’ nicht, den dramatischen Konflikten
Rechnung zu tragen, die sich lange vor dem 20. Parteitag der KPdSU
abspielen“. [17] Losurdo kritisiert in seinem Buch Stalin – Geschichte
und Kritik einer schwarzen Legende eine gewisse marxistische Linke, „die
sich auf diese Weise der mühsamen Pflicht enthoben sah, die Theorie
ihres Lehrers und ihre konkret entfaltete Wirkungsgeschichte neu zu
überdenken. Statt abzusterben, hatte sich der Staat in den von
Kommunisten regierten Ländern sogar über allen Maßen ausgeweitet; weit
entfernt zu verschwinden, spielten die nationalen Identitäten eine immer
wichtigere Rolle in den Konflikten, die zur Zerrüttung und schließlich
zur Auflösung des sozialistischen Lagers führten; keine Zeichen für die
Überwindung des Geldes und des Markts waren sichtbar, die mit der
ökonomischen Entwicklung höchstens noch wichtiger wurden. Sicher, all
das war unbestreitbar, aber schuld daran waren… Stalin und der
‘Stalinismus’! Es gab also keinen Grund, die Hoffnungen bzw. die
Gewissheiten infrage zu stellen, die die bolschewistische Revolution
begleitet hatten und die auf Marx verwiesen.“ [18]
Doch auch Stalin bemühte den Vorwurf des Verrats. 1948 war es zum Bruch
zwischen der Sowjetunion mit ihren Verbündeten auf der einen und dem
gleichfalls sozialistischen Jugoslawien auf der anderen Seite gekommen.
Verstehen kann man diesen Konflikt nur, wenn man berücksichtigt, welch
großen Anteil die jugoslawischen Kommunisten an der Befreiung ihres
Landes vom Faschismus hatten. Deshalb bestanden sie auch nach Ende des
Krieges auf einen eigenständigen Weg. Doch für Moskau war der
jugoslawische Partei- und Staatsführer Josip Broz Tito nichts anderes
als ein Verräter. Auch die anderen unter Einfluss der Sowjetunion
stehenden kommunistischen Parteien sahen es so: 1952 sprach etwa Walter
Ulbricht vom „abgrundtiefen Verrat der Tito-Clique“. [19]
Ein „Verräter“ war auch der chinesische Staatsmann Deng Xiaoping.
Lasteten ihm die einen an, die Demokratiebewegung von 1989 unterdrückt
und damit verraten zu haben, so ist er für die verbliebenen Maoisten in
aller Welt bis heute jener Parteiführer, der die Ideale der chinesischen
Revolution zugunsten eines kapitalistischen Entwicklungswegs verraten
hat. Nun ist in der langen Reihe der Verräter an der Sache des
Sozialismus Daniel Ortega dran. Doch das ist alles andere als neu. Der
Bannstrahl des Verratsvorwurfs traf bereits die revolutionäre Diktatur
in der Französischen Revolution, der vorgeworfen wurde die direkte
Demokratie erstickt zu haben.
Für Losurdo gilt: „Wie auch immer sie dekliniert wird, die Kategorie
‘Verrat’ setzt die Kanonisierung von Marx und Engels (und der wie auch
immer definierten ‘Klassiker’) voraus, und außerdem die Exkommunikation
derer, die beschuldigt werden, den Kanon verraten zu haben. Die hier
vorgeschlagene Anwendung der Kategorie ‘Lernprozess’ impliziert dagegen
zum einen die Ent-Dämonisierung Stalins (aber auch Chruschtschows und
Trotzkis) zum anderen die Ent-Kanonisierung von Marx und Engels (und der
‘Klassiker’) Und diese Entkanonisierung impliziert ihrerseits, dass der
Lernprozess noch bei weitem nicht abgeschlossen ist.“ [20]
Losurdo fordert dazu auf, das Denken in der letztlich moralischen
Kategorie des Verrats endgültig zu überwinden. Erst dann könne sich die
Linke ein realistisches Bild von den Erfolgen und den Niederlagen des
Sozialismus machen. Sein Urteil ist eindeutig: „Mit ihrem naiven
Dogmatismus – die Bürokraten, die den Elan der Massen ersticken und die
Revolution verraten, sind immer die anderen –, mit ihrer endlosen
Monotonie und mit ihrer universalen Anwendbarkeit auf die
Krisenphänomene oder auf den Prozess der Konsolidierung und
῾Bürokratisierung῾ einer jeden Revolution zeigt die Kategorie ῾Verrat῾
ihre ganze Leere.“ [21]
Die ideologischen Defizite des realen Sozialismus
Die Defizite, die schließlich zum Untergang führten, sind nach Losurdo
im theoretischen und ideologischen Selbstverständnis der Gesellschaften
des realen Sozialismus zu suchen: (…) „was fehlte, war das (absolut
notwendige) radikale Überdenken der Theorie des Sozialismus und des
Kommunismus, der post-kapitalistischen Gesellschaft insgesamt“. [22]
Seine Schlussfolgerung lautet: „In gewissem Sinn hat sich der ‘reale
Sozialismus’ als unfähig erwiesen, von der ideologischen Offensive zur
Defensive überzugehen; er war auch nicht imstande, der immer
bedrohlicheren Offensive des Westens irgendeine Ideologie oder
Widerstandslinie entgegenzusetzen. Keinerlei Glaubwürdigkeit mehr hatten
die Erklärungen über das Aufkommen einer Gesellschaft ohne Staat, ohne
Arbeitsteilung und Arbeitskontrolle, einer Gesellschaft, die die
Erfüllung aller Bedürfnisse gewährleisten würde. Die anfängliche Utopie
hatte sich in eine Staatstheologie verwandelt, an die nicht einmal die
Priester glaubten, die den Auftrag hatten, sie zu proklamieren.“ [23]
Bilanziert man das Gesagte, so „haben zuerst die Führungsspitze der USA
und der NATO und später Gorbatschow selbst den Aphorismus und den Rat
des alten Nietzsche, der besagt, man solle demjenigen, der fällt, noch
einen Stoß versetzen, in die Praxis umgesetzt. Den Stoß hat es gegeben
und zwar kräftig, über lange Zeit und mannigfaltig, einen Stoß, der die
Fortsetzung mit anderen Mitteln der bewaffneten Intervention ist, mit
dem der Westen seit jeher auf die Herausforderung geantwortet hat, die
jedes Land darstellt, das einem nicht-kapitalistischen Entwicklungsgang
nehmen will. Einer ernsten Analyse hält also der Mythos von einem
spontanen ‘Kollaps des realen Sozialismus’ nicht stand. Es sei jedoch
klargestellt, dass es nicht darum geht, den in Osteuropa erfolgten
Zusammenbruch nur einer äußeren Initiative zuzuschreiben.“ [24]
Der Aufdeckung der inneren Ursachen des erfolgten Zusammenbuchs ist
daher notwendig. Die wichtigsten Stichpunkte dafür sind das Unvermögen
der postkapitalistischen Gesellschaften die „institutionellen und
rechtlichen Mechanismen der regulären und geordneten Ausübung der Macht“
[25] zu entwickeln und das Problem, sich „dem Erbe der Errungenschaften
des Liberalismus und der Demokratie zu stellen, das der Sozialismus
übernehmen müsse.“ [26] Schlussendlich müsse „die aus der
Oktoberrevolution hervorgegangene ‘ordine nuovo’ auch in der Lage sein,
den Ausnahmezustand zu überwinden und sich in einer Ordnung
auszudrücken, in der die Hegemonie die Diktatur in den Schatten stellt,
auf die man nur in Situationen akuter Krise rekurrieren dürfe. Weit über
die bürgerliche Gesellschaft hinausgehend, müsse es der reifen
sozialistischen Gesellschaft gelingen, das Moment des Zwangs auf ein
Minimum zu reduzieren, selbst wenn dieses Minimum des Zwangs ebenfalls
ein Staat ist und ein Staat, der nicht dazu bestimmt ist abzusterben.“
[27]
Bei aller Würdigung der Leistungen der verschwundenen europäischen
sozialistischen Gesellschaften – zu nennen sind hier etwa die
Unterstützung der Dekolonisierung, die wichtige Rolle bei der
Niederringung des Faschismus, die möglich gewordene Etablierung des
allgemeinen Wahlrechts auch für Frauen sowie die Schaffung eines
günstigen Umfelds für die Herausbildung des Wohlfahrtsstaates im Westen –
waren es vor allem die genannten inneren Defizite, die zum Ende des
Realsozialismus führten, indem sie die Abwehrkräfte gegenüber den nicht
nachlassenden Angriffen der westlichen kapitalistischen Staaten
schwächten.
[1] Dieser Beitrag ist der dritte Teil eines Projekts, in dem die
Zusammenhänge der Gedanken Domenico Losurdos dargestellt werden. Der
erste Teil hatte seine Sicht auf China zum Thema und erschien am 8.
Februar 2023 auf dieser Seite unter der Überschrift „China – eine Macht,
die die Machtverhältnisse grundlegend verändert“. Der zweite Teil
behandelte die Gründe für die Niederlage des europäischen Sozialismus.
Er wurde am 13. März 2023 auf dieser Seite unter der Überschrift
„Scheitern oder Niederlage?“ veröffentlicht.
[2] Domenico Losurdo, Demokratische Revolution oder Restauration, in:
Topos – Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie, Heft 3, Bonn
1994, S.72
[3] Domenico Losurdo, Demokratische Revolution oder Restauration, a.a.O., S. 69
[4] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die kommunistische
Bewegung zwischen Selbstkritik und Selbsthass, Neue Impulse Verlag,
Essen 2000, S. 14.
[5] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die kommunistische Bewegung zwischen Selbstkritik und Selbsthass, a.a.O., S. 17
[6] Etwa bei David Horowitz, Kalter Krieg. Hintergründe der
US-Außenpolitik von Jalta bis Vietnam, Berlin 1980. Ebenso bei Odd Arne
Westad, Der kalte Krieg. Eine Weltgeschichte, Stuttgart 2019
[7] Domenico Losurdo, Demokratische Revolution oder Restauration, a.a.O., S. 70
[8] Zitiert nach Domenico Losurdo, Demokratische Revolution oder Restauration, a.a.O., S. 73
[9] Domenico Losurdo, Demokratische Revolution oder Restauration, a.a.O., S. 73
[10] Domenico Losurdo, Demokratische Revolution oder Restauration, a.a.O., S. 78
[11] Ebenda
[12] Roger Burbach, Et tu, Daniel? Ortegas Verrat an der sandinistischen
Revolution, in: Informationszentrum 3. Welt (Iz3W), Juli/August 2009
[13] Domenico Losurdo, Scheitern – Verrat – Lernprozess, in: Domenico
Losurdo/Erwin Marquit, Zur Geschichte der kommunistischen Bewegung,
Marxistische Blätter, Flugschriften 20, Essen o.J., S. 9
[14] Kurt Gossweiler, Genosse Domenico Losurdos Flucht aus der
Geschichte. Kritische Anmerkungen, in: Streitbarer Materialismus Nr. 24,
München 2001, S. 326
[15] Kurt Gossweiler, Genosse Domenico Losurdos Flucht aus der Geschichte a.a.O., S. 176
[16] Domenico Losurdo, Scheitern – Verrat – Lernprozess, a.a.O., S. 11
[17] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die russische und die chinesische Revolution heute, a.a.O., S. 97
[18] Domenico Losurdo, Stalin – Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende, PapyRossa Verlag, Köln 2012, S. 17
[19] Protokoll der Verhandlungen der 2. Parteikonferenz der
Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. 9. bis 12. Juli 1952 in
Berlin. Berlin 1952, S. 151
[20] Domenico Losurdo, Scheitern – Verrat – Lernprozess, a.a.O., S.21
[21] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die russische und die
chinesische Revolution heute, Neue Impulse Verlag, Essen 2009, S. 93
[22] Domenico Losurdo, Demokratische Revolution oder Restauration, a.a.O., S. 80
[23] Ebenda
[24] Domenico Losurdo, Demokratische Revolution oder Restauration, a.a.O., S. 76
[25] Domenico Losurdo, Die außergewöhnliche Vitalität von Gramscis
Marxismus. Nachwort zur japanischen Ausgabe, in: Domenico Losurdo, Der
Marxismus Antonio Gramscis, erweiterte zweite Ausgabe, Hamburg 2012, S.
170 f.
[26] Domenico Losurdo, Die außergewöhnliche Vitalität von Gramscis Marxismus. Nachwort zur japanischen Ausgabe, a.a.O., S. 173
[27] Domenico Losurdo, Die außergewöhnliche Vitalität von Gramscis Marxismus. Nachwort zur japanischen Ausgabe, a.a.O., S. 174
https://www.andreas-wehr.eu/niederlage-im-kalten-krieg-spontaner-kollaps-oder-verrat.html
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