Donnerstag, 20. April 2023

Kollaps oder Verrat? - LZ

 Entnommen: https://linkezeitung.de/2023/04/20/niederlage-im-kalten-krieg-spontaner-kollaps-oder-verrat/

Niederlage im kalten Krieg, spontaner Kollaps oder Verrat?

VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 20. APRIL 2023 ⋅ HINTERLASSE EINEN KOMMENTAR

von Andreas Wehr – http://www.andreas-wehr.eu

Über die Gründe für den Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ in Osteuropa [1]

In einem Artikel, den er bereits 1994 und damit nur drei Jahre nach den epochalen Ereignissen des Umbruchs unter dem Titel „Demokratische Revolution oder Restauration“ verfasste, stellte Domenico Losurdo die Frage: „Aber wie hatte in Osteuropa die Restauration siegen können? Die herrschende Ideologie spricht von einem spontanen ‘Kollaps’ des ‘realen Sozialismus’, zum Beweis für die innere und unüberwindliche Absurdität und Misere, in die sich von Anfang an jeder Versuch eine nichtkapitalistische Gesellschaft aufzubauen, verwickelt. Aber gleich nach dem Zusammenbruch der UdSSR war es gerade Bush, der dieses Ereignis als großartigen Sieg der USA im kalten Krieg feierte. Wie so oft sind die Politiker realistischer als die naiven und exaltierten Ideologen, derer sie sich allerdings bedienen.“ [2]

Der kalte Krieg

Nach Domenico Losurdo kann bereits die Form, „die der ‘reale Sozialismus’ konkret angenommen hat, nicht verstanden werden, wenn man von der Rolle, die die großen kapitalistischen Mächte spielten, und von den von ihnen unternommenen Initiativen absieht, die mit dem Aggressionskrieg und mit der konterrevolutionären Intervention begonnen hatten, mit dem diese Mächte auf den Sieg der Bolschewiken reagierten.“ [3] In seiner Schrift Flucht aus der Geschichte – Die kommunistische Bewegung zwischen Selbstkritik und Selbsthass aus dem Jahr 2000 heißt es daher: „Der Zusammenbruch des sozialistischen Lagers muss deshalb im Kontext einer erbarmungslosen Machtprobe gesehen werden. Das ist der sogenannte kalte Krieg. Er erstreckt sich über den ganzen Erdball und dauert Jahrzehnte,“ [4] wobei Losurdo dem französischen Historiker und Journalisten André Fontaine folgt, der ihn in seiner Geschichte des kalten Krieges mit der Oktoberrevolution beginnen lässt: „In der Periode zwischen dem Oktober 1917 und 1953 (dem Todesjahr Stalins) sehen wir Deutschland und die angelsächsischen Mächte sich dabei abwechselnd in einer Art Stafette engagieren: Der Aggression des wilhelminischen Deutschlands (bis zum Frieden von Brest-Litowsk) folgte erst die der Entente, dann jene Hitler-Deutschlands, und schließlich der ‘kalte Krieg’ im engeren Sinne, dessen Anfänge sich jedoch schon Jahrzehnte zuvor gezeigt hatten und sogar mit den beiden Weltkriegen verbunden waren.“ [5] In den gängigen Darstellungen des kalten Krieges wird sein Beginn hingegen mit dem Ende der Zusammenarbeit der Alliierten nach dem zweiten Weltkrieg gleichgesetzt, d.h. seine ideologische Ausrichtung, die auf die Rückgängigmachung der Ergebnisse der Revolution in Russland zielte, wird verkannt. [6]

Die „Operation Ende des Kommunismus“   

Damit ist aber noch nicht geklärt, weshalb es ausgerechnet in den Jahren 1989 bis 1991, also mehr als 70 Jahre nach dem Roten Oktober, zum Zusammenbruch des europäischen Sozialismus kam. Der Ausgangspunkt jenes Zusammenbruchs, der sich zunächst in kleinen Schritten vollzieht, um sich dann – nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 – dramatisch zu beschleunigen, kann auf den Zeitpunkt der Entstehung der polnischen Gewerkschaft Solidarność gelegt werden. Auf ihren kometenhaften Aufstieg, die von Beginn an auch politische Partei und klerikale Organisation war, wusste die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei, die kommunistische Partei des Landes, keine Antwort. Durch die Verknüpfung der von Solidarność organisierten Streiks und der Mobilisierung der Gesellschaft durch die in Polen während der Zeit des Sozialismus vollständig handlungsfähig gebliebenen katholischen Kirche, entstand eine Situation, die die Vereinigte Arbeiterpartei mit den herkömmlichen Methoden nicht beherrschen konnte. Am Ende blieb der Partei zur Sicherung ihrer Macht nur der Einsatz des Militärs und die Ausrufung des Kriegsrechts. Die polnische Gesellschaft hatte die Form des Kasernenhofsozialismus angenommen – eine Form des Sozialismus, vor der bereits Marx und Engels gewarnt hatten. Doch die Alternative dazu, die sowjetische bewaffnete Invasion, wäre noch abschreckender gewesen. Nach dem Einmarsch der sowjetischen Armee 1956 in Ungarn und 1968 in die Tschechoslowakei wäre es die dritte Invasion gewesen und zugleich das Eingeständnis, dass selbst nach Jahren erfolgreicher Entspannungspolitik die Sowjetunion auf akute Krisen in ihrem Herrschaftsbereich nicht anders als mit dem Einsatz von Panzern antworten konnte. Dieses Wagnis wollte aber die bereits durch den Krieg in Afghanistan moralisch, politisch und militärisch geschwächte Vormacht nicht eingehen.

So gab die polnische Entwicklung dem Westen unter Führung der USA die einmalige Chance, die „Operation Ende des Kommunismus“ einzuleiten. Losurdo terminiert den Auftakt für dieses Endspiel auf den 7. Juni 1982, auf jenen Tag als US-Präsident Ronald Reagan und Johannes Paul II „in der Abgeschlossenheit der Vatikanbibliothek“ zu einem vertraulichen Gespräch zusammenkamen. [7] Nach einem Bericht der italienischen Tageszeitung la Repubblica wurde danach „die amerikanische Botschaft in Warschau (…) zur wichtigsten und leistungsfähigsten Zentrale der CIA in der kommunistischen Welt.“ [8]

Was das Schicksal der DDR anging, so gibt es nach Losurdo „keinen Grund zu glauben, dass die Bemühungen der Bundesrepublik Deutschland der Deutschen Demokratischen Republik gegenüber hinter denen der USA dem fernen Polen gegenüber zurückstanden.“ [9] Am 12. Juni 1987 hatte bereits US-Präsident Ronald Reagan den zwei Jahre zuvor zum Generalsekretär der KPdSU gewählten Michael Gorbatschow aufgerufen, die Berliner Mauer abzureißen – „Mr. Gorbachev, tear down this wall!”. Es sollten nur wenig mehr als zwei Jahre vergehen bis Reagans Wunsch in Erfüllung ging. Was danach folgte ist hinlänglich bekannt und unzählige Mal beschrieben worden: Die sozialistischen Regime in Prag, Warschau, Budapest, Sofia und Bukarest fielen eine nach dem anderen wie Dominosteine – am Ende stand 1991 die Auflösung der Sowjetunion. Es ist allerdings bemerkenswert, dass jene sozialistischen Länder, die auf eine eigene, autochthone revolutionäre Tradition blicken konnten, nicht in diesen Strudel gerieten. Das galt für China, das sich nach den Ereignissen auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens im April 1989 schnell wieder stabilisierte, für Vietnam und auch für Kuba – Länder in denen die Revolutionäre aus eigener Kraft gesiegt hatten. Und das galt auch für Serbien, dem Kernland des einstigen Jugoslawiens, das erst 1999 durch den Krieg der NATO militärisch niedergerungen werden konnte.

Wirtschaftlicher Kollaps als Ursache des Zusammenbruchs?

Doch auch wenn sich den USA sowie den anderen großen kapitalistischen Länder mit der polnischen Krise die willkommene Chance zur Destabilisierung des gesamten europäischen Sozialismus bot, so ist damit noch nicht ausreichend die Frage beantwortet, warum gerade jetzt das Ende eintrat und nicht bei ähnlich krisenhaften Ereignissen zuvor – etwa während der Ungarnkrise 1956 oder aus Anlass der sowjetischen Intervention in der Tschechoslowakei 1968.

Losurdo blieb stets skeptisch gegenüber allen Erklärungsversuchen, die den Zusammenbruch der Sowjetunion auf ökonomische Ursachen zurückführen, widersprach dies doch allen Fakten. Er zitierte hierzu den US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Less C. Thurow: „ ‘In den fünfziger Jahren wuchs die Sowjetunion schneller als die Vereinigten Staaten. Projiziert man die Wirtschaftstendenzen in die Zukunft, so hätte das russische Bruttosozialprodukt (BSP) im Jahre 1984 das der Vereinigten Staaten überflügelt.’ Zwar stimmt es, dass die Dinge sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten entschieden weniger gut für die Sowjetunion entwickelten, aber nichts lässt an die Katastrophe denken. Zum Zeitpunkt als Gorbatschow an die Macht kam, kalkuliert die CIA, dass sich die Wirtschaft der UdSSR von 1975 bis 1985 mit einer jährlichen Steigerungsrate von 2,1 Prozent gegenüber 2,9 Prozent der USA entwickelt habe.“ [10] Losurdo zitierte Thurow auch zu den Zahlen aus den 80er Jahren: „’Mitte der achtziger Jahre entwickelte sich die UdSSR noch besser. 1983 erzielt sie eine Steigerungsrate von 3,8 Prozent und 1986 wird ein noch besseres Resultat von 4,1 Prozent erreicht.’“ [11] Von einem wirtschaftlichen Kollaps der Sowjetunion kann also keine Rede sein.

Die Leere des Verratsvorwurfs

Wenn aber ökonomische Gründe nicht zur Niederlage führten, welche dann? In einer deutschen Zeitschrift die dem Antiimperialismus verpflichtet war (die Zeitschrift ist inzwischen eingegangen) konnte man 2009, nach der Rückkehr der Sandinisten an die Regierung Nicaraguas, lesen: „Ortegas Verrat ist eine politische Tragödie für alle, die auf der ganzen Welt ihre Hoffnung auf eine partizipatorische Demokratie in Nicaragua setzten.“ [12]  Da war er wieder, der klassische Verratsvorwurf, der regelmäßig an die Stelle einer nüchternen politischen Bewertung tritt. Das Beispiel zeigt, dass dieses Denken unter Linken bis heute nicht überwunden ist. Der Vorwurf des Verrats an der Sache des Sozialismus bzw. des Kommunismus steht bis heute im Zentrum der Argumentation ganz gegensätzlicher Kräfte steht – sowohl bei Anhängern Trotzkis wie Stalins. Und oft hüllt sich das jeweils ausgesprochene Verdammungsurteil in den Vorwurf des Revisionismus, womit er theoretisch überhöht und damit vor der Geschichte der sozialistischen Bewegung gerechtfertigt werden soll. War es also Verrat, der zum Ende der Sowjetunion und den mit ihr verbündeten Ländern führte?

„Bekanntlich wird das Motiv von der ‘verratenen Revolution’ von Trotzki besonders geschätzt.“ [13] Und so gilt den einen noch heute sein Buch Die verratene Revolution als das Schlüsselbuch zur Deutung des Schicksals der Sowjetunion. Die anderen – die Verehrer Stalins – sehen hingegen in Nikita Chruschtschow den Verräter: Seine auf dem 20. Parteitag der KPdSU 1956 vorgenommene Abrechnung mit der Person und der Politik Stalins stellte etwa für den deutschen Historiker und Kommunisten Kurt Gossweiler die entscheidende Wende hin zum Niedergang der Sowjetunion und daraus folgend des gesamten Lagers des europäischen Sozialismus. In seinem Buch Wider den Revisionismus macht er sich in der Bewertung des 20. Parteitags das Verdikt der „konterrevolutionären Wende“ zu eigen. [14] Seit diesem Parteitag ging es nach Gossweiler nur noch bergab. Am Ende erschien schließlich Michal Gorbatschow als Wiedergänger Chruschtschows: „Ja, Chruschtschow – das war der Gorbatschow der fünfziger und sechziger Jahre“. [15]

Losurdo zeigt ein gewisses Verständnis für die Vorwürfe, die Chruschtschow gemacht werden: „Begreiflich ist daher, dass in kommunistischen Kreisen, die darum bemüht sind, auf die antikommunistische Kampagne zu reagieren, die Tendenz auftaucht, zu denken oder zu seufzen: In principio erat Chruschtschow! Er ist im Endeffekt der Wegbereiter der antikommunistischen Kampagne und wird deshalb als der Ausgangsunkt der ruinösen Entwicklung angesehen und abgestempelt, der auf den Zusammenbruch der Sowjetunion hinauslief: In dieser Hinsicht ist er derjenige, der sich zwar in der kommunistischen Partei und Tradition formiert, dann aber deren enormes politisches und ideelles Vermögen vergeudet hat. Abschließend gesagt: Der Staatsanwalt im Prozess gegen Stalin für Verrat des Sozialismus ist jetzt gezwungen, selber auf der Anklagebank zu sitzen!“ [16]

Doch die Verratsthese greift auch im Fall Chruschtschow zu kurz: „Wenn also die gegen Stalin gerichtete Version des Diskurses vom ‘Verrat’ den gigantischen Emanzipationsprozess nicht erklären kann, der sich auf Weltebene in den Jahren entwickelt hat, in denen der ‘Verräter’ die Macht ausübte, dann gelingt es der gegen Chruschtschow gerichteten Version des Diskurses vom ‘Verrat’ nicht, den dramatischen Konflikten Rechnung zu tragen, die sich lange vor dem 20. Parteitag der KPdSU abspielen“. [17] Losurdo kritisiert in seinem Buch Stalin – Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende eine gewisse marxistische Linke, „die sich auf diese Weise der mühsamen Pflicht enthoben sah, die Theorie ihres Lehrers und ihre konkret entfaltete Wirkungsgeschichte neu zu überdenken. Statt abzusterben, hatte sich der Staat in den von Kommunisten regierten Ländern sogar über allen Maßen ausgeweitet; weit entfernt zu verschwinden, spielten die nationalen Identitäten eine immer wichtigere Rolle in den Konflikten, die zur Zerrüttung und schließlich zur Auflösung des sozialistischen Lagers führten; keine Zeichen für die Überwindung des Geldes und des Markts waren sichtbar, die mit der ökonomischen Entwicklung höchstens noch wichtiger wurden. Sicher, all das war unbestreitbar, aber schuld daran waren… Stalin und der ‘Stalinismus’! Es gab also keinen Grund, die Hoffnungen bzw. die Gewissheiten infrage zu stellen, die die bolschewistische Revolution begleitet hatten und die auf Marx verwiesen.“ [18]

Doch auch Stalin bemühte den Vorwurf des Verrats. 1948 war es zum Bruch zwischen der Sowjetunion mit ihren Verbündeten auf der einen und dem gleichfalls sozialistischen Jugoslawien auf der anderen Seite gekommen. Verstehen kann man diesen Konflikt nur, wenn man berücksichtigt, welch großen Anteil die jugoslawischen Kommunisten an der Befreiung ihres Landes vom Faschismus hatten. Deshalb bestanden sie auch nach Ende des Krieges auf einen eigenständigen Weg. Doch für Moskau war der jugoslawische Partei- und Staatsführer Josip Broz Tito nichts anderes als ein Verräter. Auch die anderen unter Einfluss der Sowjetunion stehenden kommunistischen Parteien sahen es so: 1952 sprach etwa Walter Ulbricht vom „abgrundtiefen Verrat der Tito-Clique“. [19]

Ein „Verräter“ war auch der chinesische Staatsmann Deng Xiaoping. Lasteten ihm die einen an, die Demokratiebewegung von 1989 unterdrückt und damit verraten zu haben, so ist er für die verbliebenen Maoisten in aller Welt bis heute jener Parteiführer, der die Ideale der chinesischen Revolution zugunsten eines kapitalistischen Entwicklungswegs verraten hat. Nun ist in der langen Reihe der Verräter an der Sache des Sozialismus Daniel Ortega dran. Doch das ist alles andere als neu. Der Bannstrahl des Verratsvorwurfs traf bereits die revolutionäre Diktatur in der Französischen Revolution, der vorgeworfen wurde die direkte Demokratie erstickt zu haben.

Für Losurdo gilt: „Wie auch immer sie dekliniert wird, die Kategorie ‘Verrat’ setzt die Kanonisierung von Marx und Engels (und der wie auch immer definierten ‘Klassiker’) voraus, und außerdem die Exkommunikation derer, die beschuldigt werden, den Kanon verraten zu haben. Die hier vorgeschlagene Anwendung der Kategorie ‘Lernprozess’ impliziert dagegen zum einen die Ent-Dämonisierung Stalins (aber auch Chruschtschows und Trotzkis) zum anderen die Ent-Kanonisierung von Marx und Engels (und der ‘Klassiker’) Und diese Entkanonisierung impliziert ihrerseits, dass der Lernprozess noch bei weitem nicht abgeschlossen ist.“ [20]

Losurdo fordert dazu auf, das Denken in der letztlich moralischen Kategorie des Verrats endgültig zu überwinden. Erst dann könne sich die Linke ein realistisches Bild von den Erfolgen und den Niederlagen des Sozialismus machen. Sein Urteil ist eindeutig: „Mit ihrem naiven Dogmatismus – die Bürokraten, die den Elan der Massen ersticken und die Revolution verraten, sind immer die anderen –, mit ihrer endlosen Monotonie und mit ihrer universalen Anwendbarkeit auf die Krisenphänomene oder auf den Prozess der Konsolidierung und ῾Bürokratisierung῾ einer jeden Revolution zeigt die Kategorie ῾Verrat῾ ihre ganze Leere.“ [21]

Die ideologischen Defizite des realen Sozialismus

Die Defizite, die schließlich zum Untergang führten, sind nach Losurdo im theoretischen und ideologischen Selbstverständnis der Gesellschaften des realen Sozialismus zu suchen: (…) „was fehlte, war das (absolut notwendige) radikale Überdenken der Theorie des Sozialismus und des Kommunismus, der post-kapitalistischen Gesellschaft insgesamt“. [22] Seine Schlussfolgerung lautet: „In gewissem Sinn hat sich der ‘reale Sozialismus’ als unfähig erwiesen, von der ideologischen Offensive zur Defensive überzugehen; er war auch nicht imstande, der immer bedrohlicheren Offensive des Westens irgendeine Ideologie oder Widerstandslinie entgegenzusetzen. Keinerlei Glaubwürdigkeit mehr hatten die Erklärungen über das Aufkommen einer Gesellschaft ohne Staat, ohne Arbeitsteilung und Arbeitskontrolle, einer Gesellschaft, die die Erfüllung aller Bedürfnisse gewährleisten würde. Die anfängliche Utopie hatte sich in eine Staatstheologie verwandelt, an die nicht einmal die Priester glaubten, die den Auftrag hatten, sie zu proklamieren.“ [23]

Bilanziert man das Gesagte, so „haben zuerst die Führungsspitze der USA und der NATO und später Gorbatschow selbst den Aphorismus und den Rat des alten Nietzsche, der besagt, man solle demjenigen, der fällt, noch einen Stoß versetzen, in die Praxis umgesetzt. Den Stoß hat es gegeben und zwar kräftig, über lange Zeit und mannigfaltig, einen Stoß, der die Fortsetzung mit anderen Mitteln der bewaffneten Intervention ist, mit dem der Westen seit jeher auf die Herausforderung geantwortet hat, die jedes Land darstellt, das einem nicht-kapitalistischen Entwicklungsgang nehmen will. Einer ernsten Analyse hält also der Mythos von einem spontanen ‘Kollaps des realen Sozialismus’ nicht stand. Es sei jedoch klargestellt, dass es nicht darum geht, den in Osteuropa erfolgten Zusammenbruch nur einer äußeren Initiative zuzuschreiben.“ [24]

Der Aufdeckung der inneren Ursachen des erfolgten Zusammenbuchs ist daher notwendig. Die wichtigsten Stichpunkte dafür sind das Unvermögen der postkapitalistischen Gesellschaften die „institutionellen und rechtlichen Mechanismen der regulären und geordneten Ausübung der Macht“ [25] zu entwickeln und das Problem, sich „dem Erbe der Errungenschaften des Liberalismus und der Demokratie zu stellen, das der Sozialismus übernehmen müsse.“ [26] Schlussendlich müsse „die aus der Oktoberrevolution hervorgegangene ‘ordine nuovo’ auch in der Lage sein, den Ausnahmezustand zu überwinden und sich in einer Ordnung auszudrücken, in der die Hegemonie die Diktatur in den Schatten stellt, auf die man nur in Situationen akuter Krise rekurrieren dürfe. Weit über die bürgerliche Gesellschaft hinausgehend, müsse es der reifen sozialistischen Gesellschaft gelingen, das Moment des Zwangs auf ein Minimum zu reduzieren, selbst wenn dieses Minimum des Zwangs ebenfalls ein Staat ist und ein Staat, der nicht dazu bestimmt ist abzusterben.“ [27]

Bei aller Würdigung der Leistungen der verschwundenen europäischen sozialistischen Gesellschaften – zu nennen sind hier etwa die Unterstützung der Dekolonisierung, die wichtige Rolle bei der Niederringung des Faschismus, die möglich gewordene Etablierung des allgemeinen Wahlrechts auch für Frauen sowie die Schaffung eines günstigen Umfelds für die Herausbildung des Wohlfahrtsstaates im Westen – waren es vor allem die genannten inneren Defizite, die zum Ende des Realsozialismus führten, indem sie die Abwehrkräfte gegenüber den nicht nachlassenden Angriffen der westlichen kapitalistischen Staaten schwächten.

 

[1] Dieser Beitrag ist der dritte Teil eines Projekts, in dem die Zusammenhänge der Gedanken Domenico Losurdos dargestellt werden. Der erste Teil hatte seine Sicht auf China zum Thema und erschien am 8. Februar 2023 auf dieser Seite unter der Überschrift „China – eine Macht, die die Machtverhältnisse grundlegend verändert“. Der zweite Teil behandelte die Gründe für die Niederlage des europäischen Sozialismus. Er wurde am 13. März 2023 auf dieser Seite unter der Überschrift „Scheitern oder Niederlage?“ veröffentlicht.

[2] Domenico Losurdo, Demokratische Revolution oder Restauration, in: Topos – Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie, Heft 3, Bonn 1994, S.72

[3] Domenico Losurdo, Demokratische Revolution oder Restauration, a.a.O., S. 69

[4] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die kommunistische Bewegung zwischen Selbstkritik und Selbsthass, Neue Impulse Verlag, Essen 2000, S. 14.

[5] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die kommunistische Bewegung zwischen Selbstkritik und Selbsthass, a.a.O., S. 17

[6] Etwa bei David Horowitz, Kalter Krieg. Hintergründe der US-Außenpolitik von Jalta bis Vietnam, Berlin 1980. Ebenso bei Odd Arne Westad, Der kalte Krieg. Eine Weltgeschichte, Stuttgart 2019

[7] Domenico Losurdo, Demokratische Revolution oder Restauration, a.a.O., S. 70

[8] Zitiert nach Domenico Losurdo, Demokratische Revolution oder Restauration, a.a.O., S. 73

[9] Domenico Losurdo, Demokratische Revolution oder Restauration, a.a.O., S. 73

[10] Domenico Losurdo, Demokratische Revolution oder Restauration, a.a.O., S. 78

[11] Ebenda

[12] Roger Burbach, Et tu, Daniel? Ortegas Verrat an der sandinistischen Revolution, in: Informationszentrum 3. Welt (Iz3W), Juli/August 2009

[13] Domenico Losurdo, Scheitern – Verrat – Lernprozess, in: Domenico Losurdo/Erwin Marquit, Zur Geschichte der kommunistischen Bewegung, Marxistische Blätter, Flugschriften 20, Essen o.J., S. 9

[14]  Kurt Gossweiler, Genosse Domenico Losurdos Flucht aus der Geschichte. Kritische Anmerkungen, in: Streitbarer Materialismus Nr. 24, München 2001, S. 326

[15]  Kurt Gossweiler, Genosse Domenico Losurdos Flucht aus der Geschichte a.a.O., S. 176

[16] Domenico Losurdo, Scheitern – Verrat – Lernprozess, a.a.O., S. 11

[17] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die russische und die chinesische Revolution heute, a.a.O., S. 97

[18] Domenico Losurdo, Stalin – Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende, PapyRossa Verlag, Köln 2012, S. 17

[19] Protokoll der Verhandlungen der 2. Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. 9. bis 12. Juli 1952 in Berlin. Berlin 1952, S. 151

[20] Domenico Losurdo, Scheitern – Verrat – Lernprozess, a.a.O., S.21

[21] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die russische und die chinesische Revolution heute, Neue Impulse Verlag, Essen 2009, S. 93

[22] Domenico Losurdo, Demokratische Revolution oder Restauration, a.a.O., S. 80

[23] Ebenda

[24] Domenico Losurdo, Demokratische Revolution oder Restauration, a.a.O., S. 76

[25] Domenico Losurdo, Die außergewöhnliche Vitalität von Gramscis Marxismus. Nachwort zur japanischen Ausgabe, in: Domenico Losurdo, Der Marxismus Antonio Gramscis, erweiterte zweite Ausgabe, Hamburg 2012, S. 170 f.

[26] Domenico Losurdo, Die außergewöhnliche Vitalität von Gramscis Marxismus. Nachwort zur japanischen Ausgabe, a.a.O., S. 173

[27] Domenico Losurdo, Die außergewöhnliche Vitalität von Gramscis Marxismus. Nachwort zur japanischen Ausgabe, a.a.O., S. 174

https://www.andreas-wehr.eu/niederlage-im-kalten-krieg-spontaner-kollaps-oder-verrat.html


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